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Musikland-Jahreskonferenz zeigt Perspektiven für geflüchtete Musiker. Foto: Hufner
Hamburger Benjamin Scheuer bekommt Busoni-Kompositionspreis. Foto: Hufner
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Integration mit Tönen - Projekt setzt auf verbindende Kraft der Musik

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Dresden - Das musikpädagogische Projekt «El Sistema» aus Venezuela macht in vielen Ländern Schule. Auch in Sachsen wirkt es in abgewandelter Form als «Musaik» seit kurzem an einem sozialen Brennpunkt.

So richtig will sich der neunjährige Sami noch nicht festlegen. Auf die Frage, welchen Beruf er später einmal haben möchte, zeigt sich der Junge aus Bagdad schwankend. «Taekwondo, Kung Fu oder Geige.» Die Reihenfolge will noch nichts sagen. Jetzt sitzt der kleine Iraker erst einmal am Cello im «Kiez», einem gläsernen Raum im Einkaufszentrum Dresden-Prohlis. Gemeinsam mit anderen Kindern übt er auf den leeren Saiten. Der Griff der Finger kommt später dazu.

Vor ihnen steht Musikpädagogin Luise Börner und versucht, ihr international besetztes «Musaik»-Orchester zusammenzuhalten. Die Mädchen sind in der Überzahl, deutsche Kinder in der Minderheit. Dresden-Prohlis wird oft als sozialer Brennpunkt bezeichnet. Hier sind viele Flüchtlingsfamilien untergekommen. Hier ist der Anteil von Menschen, die in prekären Verhältnissen leben, höher als in anderen Stadtteilen Dresdens. Genau deshalb sind Luise Börner und ihre Mitstreiterin Deborah Oehler nach Prohlis gegangen - dahin, wo Dresden ziemlich anders ist als in der barocken Innenstadt.

Dreimal in der Woche unterrichten sie hier Kinder, die sonst kaum Zugang zu einer musikalischen Ausbildung hätten. Es ist kein spezielles Engagement für Flüchtlingskinder, obwohl deren Anteil das Gros der Schüler ausmacht. Auch Einheimische ergreifen die Chance, ihren Kindern etwas Schönes zukommen zu lassen.

«Musaik» ist ein Kind von «El Sistema»: Der Komponist und Ökonom José Antonio Abreu aus Venezuela hatte das Sozialprojekt in seinem Heimatland Mitte der 70er Jahre gegründet. Es gibt Kindern ärmerer Familien kostenlos Unterricht und Instrumente. Dafür spielen sie in Ensembles mit. Aushängeschild ist das Simón Bolívar Jugendorchester, dessen Chefdirigent Gustavo Dudamel selbst dem «System»» entstammt. Das Jugendorchester besitzt weltweit eine Fangemeinde.

Luise Börner erlebte «El Sistema» in abgewandelter Form in Peru. Dort heißt es «Arpegio» (Akkord). Die 30-Jährige hat nach ihrem Studium zwei Jahre in dem Andenstaat verbracht. 2016 war sie mit dem Landesjugendorchester Sachsen dort, das zusammen mit Jugendlichen aus Peru musizierte. Das Gefühl, einer Gemeinschaft anzugehören und dabei etwas Wohlklingendes zu schaffen, empfindet Börner nun auch als entscheidenden Impuls für ihre Arbeit in Dresden.

«El Sistema» ist bis heute eine Erfolgsgeschichte. Während das Programm im krisengeschüttelten Ursprungsland Venezuela um den Fortbestand ringt, hat es in anderen Ländern viele Nachahmer gefunden. In Wien läuft es unter dem Namen «Superar» - auch hier findet die Arbeit mit Chören und Orchestern ausschließlich in der Gruppe statt. Über das El Sistema Europa Development Programme sind inzwischen Initiativen aus Bosnien-Herzegowina, Großbritannien, Italien, der Slowakei und der Türkei beteiligt. In Deutschland gibt es ähnliche Bemühungen beispielsweise in Hamburg und Nordrhein-Westfalen.

Der Deutsche Musikrat lobt solche Projekte in den höchsten Tönen. Sie könnten nicht nur Türen öffnen und Kindern eine Begegnung mit Musik in ihrer ganzen Vielfalt ermöglichen, sagt Generalsekretär Christian Höppner und nennt Programme wie «Jekits», bei dem Grundschüler in Nordrhein-Westfalen das Spiel auf Instrumenten, Tanzen und Singen in der Gruppe erlernen. «Wir kennen eine ganze Reihe von Aktivitäten in Deutschland, die Elemente von «El Sistema» aufnehmen.» Doch der explizite Bezug wie in Dresden sei schon etwas Besonderes.

Höppner verweist auf die Rolle von Musik bei der Integration von Flüchtlingen. Es sei eine große Chance, Anregungen anderer Kulturen aufzunehmen und zugleich Migranten an das reichhaltige Erbe des musikalischen Schaffens in Europa heranzuführen: «Das geht am besten über das aktive Spiel, vor allem wenn noch Sprachbarrieren vorhanden sind. Mit Musik kann man fast ohne Sprache anfangen.»

Bislang ist «Musaik» eine rein private Angelegenheit, Börner und ihre Mitstreiter bekommen für ihre Arbeit keinen Cent. Wenn das Projekt langfristig sein und die Ausbildung für besondere Talente vertieft werden soll, müsste Beistand her. Jetzt verhandelt man mit Stiftungen und der Stadt Dresden. Es geht um gar nicht so viel Geld, die Begeisterung aller Beteiligten ist schon mehr als die halbe Miete.

 

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