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Die Passagierin in Dresden. Foto: Jochen Quast
Die Passagierin in Dresden. Foto: Jochen Quast
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„Deine Lagermadonna!“ – Weinbergs „Die Passagierin“ an der Semperoper

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Zum Spielzeitende holt die Semperoper aus Frankfurt die beachtliche Produktion von „Die Passagierin“ in der durch ihre Sensibilität beeindruckenden Inszenierung Anselm Webers, dort künstlerischer Geschäftsführer des Schauspiels ab 2017/18. Ein weiteres Mal bestätigt sich nach der postumen szenischen Uraufführung in Bregenz 2010 die innere Kraft, der musikalische Tiefgang und das ethische Potenzial der letzten Oper des Schostakowitsch- Protegés Mieczyslaw Weinberg (1919-1996) nach dem Roman der bei der Premiere anwesenden Autorin Posmysz: Zeitgeschichte mit humanistischem Format und ein Ja zum Leben noch in den allertiefsten Abgründen.

Erst im Frühjahr stellte der Dokumentarfilm „Ein deutsches Leben“ in Interviews mit der über hundertjährigen Brunhilde Pomsel, Büromitarbeiterin bei Reichspropagandaminister Goebbels, Fragen nach Schuld, Integrität, Opportunismus und Entschuldbarkeit in einem totalitären System. Roland Jahn, Bundesbeauftragter der Stasiunterlagen, plädiert für eine objektive Aufarbeitung von DDR-Schicksalen und gegen die einseitige Verurteilung angepasster Verhaltensweisen. Das sind zwei wesentliche Themen, um die es in der Oper „Die Passagierin“ geht und die deren Aktualität weit über das mit Auschwitz konfrontierende Geschehen steigern.

Fünfzehn Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkriegs, 1960, gerät das Vertrauen zwischen Walter, einem Diplomaten, und seiner Ehefrau Lisa auf der Schiffreise zur dessen neuer Position in Brasilien, in eine harte Zerreißprobe. Anja enthüllt ihm ihre bisher verheimlichte Vergangenheit als KZ-Aufseherin, als sie die in Auschwitz unter ihrer Kontrolle gestandene Marta als „Die Passagierin“ wiedererkennt. Das Paar rauft sich zusammen, obwohl er um den Verlust seiner Position im Falle der Veröffentlichung von Lisas Vorleben fürchtet. Bei einem Kapitänsball durchdringen sich die Zeitebenen von Nachkriegsamüsement und KZ-Wirklichkeit …

Das zwischen den Sprachen der verschiedenen Figuren springende Textbuch von Alexander Medwedew formuliert wie der Roman und das vorausgegangene Hörspiel von Zofia Posmysz keine Anklage, sondern den Versuch einer Bewährungsfindung. So kommt es zur Gegenüberstellung der lange verdrängten Vergangenheit der sich selbstzerfleischenden „Täterin“ Lisa und des im tiefsten Leid sogar nach dem Mord an ihrem Geliebten Tedeusz gefassten „Opfers“ Marta. Abgründe zwischen Aufsichtspersonal und KZ-Häftlingen, die keine Dankbarkeit für deren im Verborgenen erhaltenen Erleichterungen zeigen wollen, verbreitern sich unüberwindbar. Am Ende steht der Appell: „Wenn eines Tages eure Stimmen verhallt sind, dann gehen wir zugrunde.“ Es geht um die Bewahrung des Erinnerns an die vernichteten Individuen, nicht ausschließlich um die Maschinerie der Vernichtung. Es geht auch um die Frage nach der Möglichkeit eines Lebens mit Bewusstheit für die Katastrophen der Vergangenheit, ob eine ethische Bewältigung und Reinigung stattfinden kann und darf.

Nicht nur aufgrund der ständig zwischen der Schiffreise und der KZ-Vergangenheit in Ausschwitz springenden Szenenführung ist die Handlung komplex, sondern vor allem auch, weil die Erinnerungsfetzen unmittelbar auf die psychische Situation Lisas einwirken. Lisa gewinnt erst am Ende Gewissheit über die Identität der Passagierin, als die beim Ball sich von der Kapelle eben den Walzer wünscht, den Tadeusz den NS-Schergen verweigerte und dafür getötet wird.

Weinbergs Musik hat für Lisas Szenen eine bewegt freitonale, arios-deklamatorische Struktur. Überwiegend melodisch-kantabel artikuliert sich die „Lagermadonna“ Marta. So wird sie von Lisa genannt, als sie Tadeusz und Marta ein letztes Rendezvous gewähren will. Barbara Dobrzanska vom Theater Karlsruhe trägt als Marta neben der menschlichen Reife und sagenhaft gut gestützten Vokalisierung auch menschliche Versehrtheit in der Stimme. Die Lisa von Christina Bock, Dresdner Ensemblegewinn, zeigt unzerbrechliche Fülle und Klarheit von Diktion wie Gestaltungskraft. Die beiden sind ein spannend kontrastierendes, dabei komplementäres und zutiefst beeindruckendes, emotionsstarkes Anti-Duo. Im drastischen Kontrast dazu stehen die dumpf-derben Einwürfe der Aufseher und der sich immer wieder in vor allem in slawischen Volksmusikidiomen artikulierenden Chöre der KZ-Häftlinge. Gemessen an der dramaturgischen Wertigkeit der Lagergruppen ist der Chorpart nicht sonderlich umfangreich, Chordirektor Jörn Hinnerk Andresen und Anselm Weber gemeinsam haben das Kollektiv mit einer auch in längerer zurückhaltender Ruhe immer spürbaren Präsenz unterfüttert. Die Schiffschale von Katja Haß ist simultan KZ-Halle, in der Reisegesellschaft und Lagerinsassen eins werden, nachdem sie Bettina Walters zeitaffin stilisierte Kostüme wenden oder ablegen. Anselm Weber hat keine Angst vor Bildmächtigkeit, gliedert das Spielgeschehen sinnfällig und überlässt es trotzdem der Kraft seiner Zuschauer, sich die Drastik des Lageralltags zu imaginieren. Die von ihm aufgerüttelte Beklemmung wächst mit jeder Szene der zwei Akte.

Damit durchdringen sich Spiel und der musikalische Gestus von Christoph Gedschold, der „Die Passagierin“ bereits 2013 in Karlsruhe dirigierte. Auch hier zeigt sich, worin wie bei den Einstudierungen an der Oper Leipzig und Chemnitz Gedscholds beachtliche Stärken liegen. So genau liest er die Partituren, dass er bei der Realisierung immer dem individuellen Klang der jeweiligen Orchester trauen und diesen nutzen kann. Deshalb gelingt es ihm auch im schönheitsstarken Potenzial der Staatskapelle Dresden, durch Präzision des Rhythmus, der Proportionierung von Farben und die absolute musikalische Kongruenz zur Szene in jeder Sekunde den fahlen Hintergrund und Überbau von Weinbergs Oper packend zu vermitteln.

So beindruckend sind die beiden zentralen Frauen, dass sowohl der messerscharf charakterisierende Jürgen Müller (Lisas Ehemann Walter), der lyrisch-sympathische Markus Butter (Tedeusz) und die vielen hervorragenden kleineren Soli zwangsläufig abfallen. Das muss in dieser Oper so sein, die für den heutigen Stand der Bewusstmachung und Aufarbeitung der NS-Diktatur eines der wichtigsten musikalischen Bühnenwerke des 20. Jahrhunderts ist. Zur Pause gab es in der Vorstellung am 5. Juli keinen Applaus. Das war nicht nur Befangenheit, sondern zeigte auch, wie schwer es heute offenbar ist, in der Öffentlichkeit anstelle sachlicher Anteilnahme etwas wie emotionale Berührung zu zeigen.

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