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Wenn Eltern Trauer tragen

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Requiem für die Kinder der „Unsterblichen“
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Joseph Groben: Requiem für ein Kind – Trauer und Trost berühmter Eltern, Dittrich Verlag 2001, 429 Seiten, ISBN 3-920862-32-5, € 25,–

Joseph Groben: Requiem für ein Kind – Trauer und Trost berühmter Eltern, Dittrich Verlag 2001, 429 Seiten, ISBN 3-920862-32-5, € 25,–Angst kriecht langsam in einem hoch beim Lesen dieses Buches: Hoffentlich widerfährt der eigenen Familie nie ein derartiges Leid, wie hier auf über 400 Seiten ausgebreitet. „Trauer und Trost berühmter Eltern“ untertitelte der Luxemburger Autor Joseph Groben seine düstere Fallsammlung. Weiter schreibt er: „Vielleicht hilft es Eltern, die einen ähnlichen Verlust erlitten haben, zu erkennen, wie sich andere Menschen, so genannte „berühmte“ Menschen, ihre Schicksalsgenossen in der „Brüderschaft der vom Schmerze Gezeichneten“ (Schweitzer), zu einem Ausdruck durchrangen, oft wieder neuen Halt gewannen.“ Dank Grobens Recherchen erfährt der Leser, dass Ernst Jünger, Michael Haydn, Arthur Schnitzler, Karl Marx, Cicero, Charles Dickens, Allessandro Manzoni, Johann Wolfgang Goethe, Robert und Clara Schumann, Gustav Mahler und andere „Unsterbliche“ ein oder sogar mehrere Kinder verloren.

Die im Ganzen 38 ausführlich geschilderten „Fallbeispiele“ stammen aus verschiedenen Epochen. Groben zeichnet damit auch eine Art Sittengeschichte der Kindersterblichkeit nach, die dank der Fortschritte in Medizin und Hygiene einem starken Wandel unterlag. Vor allem seit der Gefühlskultur der Romantik hat das Einzellebewesen eine Aufwertung erhalten.

Der Leser erfährt in jedem Artikel neben dem tatsächlichen Trauerfall viel über Zeitgeschichte und Biografie der Eltern. Oft werden überlieferte Schriftzeugnisse oder Zitate in die einzelnen Abhandlungen eingebunden.

„Meine Frau sagt jeden Tag, sie wünsche, sie läge mit den Kindern im Grabe“, schrieb Marx 1862 während seiner Londoner Exiljahre, nachdem er und seine Frau sowohl die Tochter Franziska als auch den Sohn Edgar verloren hatten. Die Freundschaft mit Engels und der Gedanke an seinen welthistorischen Auftrag, die Herbeiführung der klassenlosen Gesellschaft, hat ihn wohl etwas getröstet.

Die „Trauerarbeit“ mündete bei vielen schöpferischen Menschen in bedeutende Leistungen. Friedrich Rü-ckert schreibt nach dem Verlust der zwei jüngsten seiner insgesamt sechs Kinder 446 „Kindertotenlieder“, Käthe Kollwitz schafft ihr Hauptwerk „Die trauernden Eltern“.

Mahler, der 41-jährige Direktor der Wiener Oper, lernt 1901 die 20-jährige Alma kennen, heiratet sie im März 1902 und am 3. November 1902 wird Maria Anna, genannt Putzi, geboren. Im Juni 1904 folgt ein zweites Mädchen, wegen seiner „blauaufgeschlagenen Augen“ von den Eltern „Guckerl“ genannt. Inmitten einer Zeit des Familienglücks komponiert der Vater die „Kindertotenlieder“ nach den Gedichten von Rückert und die „6. Sinfonie“.
Alma Mahler kann ihren Mann nicht verstehen, die Kindertotenlieder stehen wie eine böse Vorahnung im Raum. „Ich kann es wohl begreifen, wenn man so furchtbare Texte komponiert, wenn man keine Kinder hat, oder wenn man Kinder verloren hat. Ich kann es aber nicht verstehen, wenn man den Tod von Kindern besingen kann, wenn man sie eine halbe Stunde vorher, heiter, und gesund, geherzt und geküsst hat.“ Putzi, die Erstgeborene, starb am 5. Juli 1907 an Diphtherie.

Das Verhältnis zwischen menschlicher Erschütterung, Emotion und kreativen Prozessen vermag der Autor mit seiner rein deskriptiven Aneinanderreihung von Biografien, die auch literarisch nicht immer zufrieden stellen, nur wenig aufzuhellen. Auch ob eine derartige Textsammlung in der Lage sein kann, „Trost“ zu vermitteln, bleibt fraglich.
Dennoch: Das Buch ist eine erschütternde und faszinierende Materialsammlung zu einem zutiefst menschlichen Thema.

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