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Sofia Gubaildulina. Foto: Charlotte Oswald
Liebe statt Hass - die große Komponistin Sofia Gubaidulina wird 85. Foto: Charlotte Oswald
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Liebe statt Hass - die große Komponistin Sofia Gubaidulina wird 85

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Appen/Hamburg - Höchstes Lob bekam sie von Musikgrößen wie Simon Rattle oder Kurt Masur: Die bei Hamburg lebende russische Komponistin Sofia Gubaidulina ist in der Welt der Neuen Musik ein hochgeschätzter Star, selber aber sehr bescheiden. Heute, am 24. Oktober wird sie 85.

Im Wohnzimmer ihres Hauses am Stadtrand von Hamburg dominiert ein Steinway-Flügel, den ihr einst der Cellist Mstislaw Rostropowitsch besorgte. Auf einem Tisch liegen handgeschriebene Notenblätter ihres Oratoriums «Über Liebe und Hass», das nach der gefeierten Uraufführung am 14. Oktober in der estnischen Hauptstadt Tallin am 30. Oktober in der Dresdner Semperoper erstmals in Deutschland aufgeführt wird - ein Schlüsselwerk. Manche sprechen sogar von einem Vermächtnis der russischen Komponistin Sofia Gubaidulina, die am 24. Oktober 85 wird.

Der frühere Intendant der Berliner Festspiele Ulrich Eckhardt hält sie für «die bedeutendste und originellste Komponistin von heute, ihre männlichen Kollegen eingeschlossen». Weltberühmte Solisten wie Gidon Kremer, Rostropowitsch oder Anne-Sophie Mutter haben ihre Werke aufgeführt, Pultstars wie Kurt Masur, Simon Rattle oder Christian Thielemann dirigiert. Im Februar wird in Boston ihr Triple-Konzert für Geige, Violoncello und Bajan (russisches Knopfakkordeon) uraufgeführt und anschließend in der Carnegie Hall in New York erklingen. Geschrieben hat sie das Werk auf Wunsch ihrer Lieblingssolistin, der Bajan- und Akkordeonvirtuosin Elsbeth Moser.

Eigentlich sollte es am 27. November in Hannover beim Akkordeonfest uraufgeführt werden. «Ich bin aber nicht fertig geworden», sagt Gubaidulina. Sie hat den Bajan, der aus der russischen Volksmusik kommt, erst für die Neue Musik als Soloinstrument entdeckt und dafür Werke geschrieben wie «Fachwerk» (2010), wie der Verlagsdirektor der Sikorski Musikverlage, Hans-Ulrich Duffek, in Hamburg hervorhebt.

Klangfarben und Intervall-Konstellationen, Tonhöhen und Artikulationsarten bilden die Basis ihrer Werke, bisweilen sind rhythmische Prozesse prägend und das Verhältnis der Themen und Motive zueinander. Die «Mystikerin der Musik», die «Klang und Seele miteinander verbinden» will und schon als Kind das Komponieren wie eine «innere Notwendigkeit» empfand, strebt mit ihren Werken der Neuen Musik nach Zeitentrückung: «Das wichtigste Ziel eines Kunstwerkes ist meiner Ansicht nach die Verwandlung der Zeit.»

Der Blick wandert zu einer Kommode in Gubaidulinas Haus. Neben Fotos eines Enkels und ihrer vor Jahren gestorbenen Tochter stehen drei kleine Ikonen. «Das sind Kostbarkeiten», sagt Gubaidulina. Religion ist der russisch-orthodoxen Christin existenziell wichtig und prägt ihr ganzes Musikschaffen - nicht nur ihre religiösen Werke wie «Stunde der Seele», «De profundis», oder «Sieben Worte».

Herausragend ihre «Johannes»-Passion: Die Auftragskomposition für die Internationale Bachakademie Stuttgart wurde zum 250. Geburtstag von Johann Sebastian Bach 2000 uraufgeführt. Sie hat den Leidensweg Jesu gigantisch vertont - für Orchester, zwei Chöre und Solisten. Später folgte das «Johannes-Ostern», denn die Leiden Jesu ergeben für Gubaidulina ohne die Auferstehung keinen Sinn.

Im Leben Gubaidulinas spiegelt sich das 20. Jahrhundert seit der Stalinzeit, der kalte Krieg, Gorbatschows Perestroika und der Zusammenbruch der Sowjetunion. Die Komponistin kam am 24. Oktober 1931 in Tschistopol an der Wolga in der tartarischen Republik zur Welt, studierte in Kasan und Moskau Musik und arbeitet seit 1963 als freie Komponistin. Als kulturelle Wurzeln nennt sie die Prägung durch jüdische Lehrer, die frühe Begegnung mit der deutschen Kultur und ihre russisch-tartarische Herkunft. Ihr Geld musste sich Gubaidulina lange mit dem Schreiben von Filmmusik verdienen, ihre Werke wurden in der Sowjetunion mit Skepsis betrachtet und kaum aufgeführt.

1975 gründete die Musikerin in ihrer Heimat mit Viktor Suslin und Vyacheslav Artyomov die Improvisationsgruppe «Astreja», die sie später in Deutschland gemeinsam mit Suslin erneut ins Leben rief. Nach einem Auftritt 1977 wurde dem Ensemble vom Sowjetstaat vorgehalten, die Musik sei «Kakophonie und eine Krankheit». Der Durchbruch im Westen, wo ihre Werke bereits seit den 60er Jahren aufgeführt wurden, gelang Gubaidulina 1981 mit der Uraufführung ihres Gidon Kremer zugedachten Violinkonzerts «Offertorium».

Zurückgezogen lebt Gubaidulina in der Gemeinde Appen, fußläufig zu Feldern und Wald. Suslin, durch den sie den Ort kennenlernte, ist tot. Ihr zweiter Mann starb bereits vor Jahren. Ob sie sich nicht einsam fühlt? «Nein», sagt sie, «ich brauche diese Einsamkeit, um komponieren zu können». Simon Rattle verglich Gubaidulina mit einem «fliegenden Einsiedler», «denn sie befindet sich immer auf einer Umlaufbahn und besucht nur gelegentlich terra firma» (...) und bringt uns Licht und geht dann wieder auf ihre Umlaufbahn.»

Der 85. Geburtstag ist der bescheidenen Künstlerin nicht wichtig. «Die Hauptsache das Leben geht weiter und ich kann komponieren», sagt sie lächelnd. Sie wird an dem Tag Gast sein in Moskau bei einem Konzert ihr zu Ehren. Und dann trifft sie ihre Schwester und Nichten, aber eine Feier hat sie nicht vorbereitet: «Das ist zu kompliziert.»

 

Interview

Gottverlorenheit und wachsender Hass gefährden nach Ansicht der Komponistin Sofia Gubaidolina die Zukunft des Westens. Im Interview der Deutschen Presse-Agentur zum 85. Geburtstag äußer Gubaidulina die Überzeugung, dass die westliche Zivilisation sich im Stadium des Niedergangs befinde. Hass dominiere zunehmend - eine Folge dessen, dass die Religiosität der Menschen im Westen vertrocknet.

Frage: Am 30. Oktober steht die deutsche Erstaufführung Ihres Oratoriums «Über Liebe und Hass» in der Semperoper in Dresden bevor. Für Sie als russisch-orthodoxe Christin hat Religion einen hohen existenziellen Stellenwert, sie haben Psalmen und Gebete als Texte ausgewählt. Handelt es sich um ein Schlüsselwerk Ihres Schaffens?

Antwort: Ich glaube ja, denn das Thema Liebe und Hass ist für mich sehr wichtig. Beides ist problematisch geworden in dieser Welt. Denn es geht oft nicht mehr um echte Liebe, sondern nur noch Sex. Und Hass wird inzwischen übermächtig, auch im Westen. Das ist meine Besorgnis für die Kultur überhaupt.

Frage: Worin sehen Sie die Gründe?

Antwort: Ich bin überzeugt, die westliche Zivilisation ist im Stadium des Niedergangs, das ist der Kern. Unser Zeitgeist ist geprägt von Egoismus und Selbstbezogenheit. Der amerikanische Schriftsteller T. S. Eliot (1888-1965) hat einmal Kultur definiert als fleischgewordene Religiosität. Und ich halte das für richtig. Ohne Religiosität, ohne diese Verbindung mit dieser hohen Dimension des Lebens ist alles vertrocknet.

Frage: Welche Bedeutung hat für Sie Beten?

Antwort: Der Mensch betet nicht, damit er geliebt wird, sondern er betet, dass er liebt. Das Problem besteht im Menschen selbst. Im Gebet hilft Gott mir, damit ich liebe. Das ist ungewöhnlich für unseren Zeitgeist.

Frage: Und welche Rolle spielt die Musik für den Menschen?

Antwort: Ich glaube: eine entscheidende Rolle. Es heißt, der Mensch könne ohne Musik nicht existieren, überhaupt nicht leben. Für mich liegt das daran, dass der Mensch beim Hören von Musik «aus der Zeit» fallen und wie ich eine Nähe zu Gott empfinden kann. Ohne diese Dimension existiert der Mensch gar nicht.

ZUR PERSON: Die Komponistin Sofia Gubaidulina wurde am 24. Okt. 1931 in Tschistopol/Tatarische Sowjetrepublik geboren. Für ihr umfassemdes Werk - darunter Orchesterwerke, Vokalmusik und Kammermusik- erhielt sie unter anderem den Polar-Musikpreis und den Praemium Imperiale. Gubaidulina lebt seit mehr als einem Vierteljahrhundert bei Hamburg. Sie wurde mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt und ist Mitglied im Orden «Pour le mérite für Wissenschaften und Künste».

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