Joachim Raff zählt zu den erfolgreichsten und geachtetsten Komponisten des 19. Jahrhunderts. Von 1871 bis 1874 war er der meistgespielte Symphoniker im deutschsprachigen Raum. Mit seinen Sinfonien Nr. 3 „Im Walde“ und Nr. 5 „Lenore“ eroberte er sich die internationalen Konzertsäle von New York bis St. Petersburg. Im Jahr 2022 jährt sich sein Geburtstag zum 200. Mal.
Raff wurde am 27. Mai 1822 in Lachen am Zürichsee geboren. Er wurde zunächst wie der Vater Schulmeister, bis er sich im Bewusstsein seines Talentes ratsuchend an Mendelssohn wandte. Dieser empfahl die eingesandten Kompositionen erfolgreich an Breitkopf & Härtel, woraufhin Raff etliche Jahre nach einem Weg suchte, als Musiker seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Die Bekanntschaft mit Franz Liszt 1845 war ein weiterer Meilenstein in dieser Entwicklung. Raff knüpfte, unterstützt durch zahlreiche Empfehlungen, Kontakt zu unterschiedlichen Musikverlegern. Die so entstandenen Arrangements populärer Opernmelodien brachten ihm den Vorwurf eines Vielschreibers ein, der sich zeitlebens auch durch die Produktion gereifter Meisterwerke nicht ausrotten ließ. Das publizistische Schaffen wurde in den Anfangsjahren ähnlich wie bei Robert Schumann zu seinem Markenkern neben der Komposition. Durch allzu kritische Berichterstattung verscherzte er es sich aber auch mit der Musik-Elite in Köln, wo Raff zeitweilig eine Anstellung gefunden hatte.
Über Stationen in Stuttgart, wo er Freundschaft mit Hans von Bülow schloss, und Hamburg beim Musikverleger Julius Schuberth gelangte Raff schließlich 1850 nach Weimar, wo er Liszts langjährigem Werben nachgab und dessen Sekretär wurde. Er erledigte Kopier- und Schreibarbeiten und arbeitete an der Instrumentation von Liszts frühen sinfonischen Dichtungen mit. Raff wurde zum musikalischen Mentor Hans von Bülows, als dieser 1851 in Weimar eintraf. Zusammen mit Joseph Joachim bildeten die drei jungen Männer zeitweise ein unzertrennliches Kleeblatt. Raff knüpfte Freundschaft mit vielen Musikern des Weimarer Kreises wie Edmund Singer, Bernhard Cossmann oder Leopold Damrosch, die ihm als Interpreten zeitlebens verbunden blieben.
Er stand jedoch, wie befürchtet, stets in Liszts Schatten und wurde nicht als eigenständiger Komponist wahrgenommen. Mit dem Erscheinen seiner kritischen Abhandlung „Die Wagnerfrage“ – der ersten Wagner-Monographie überhaupt – wollte er 1854 öffentlich seinen ästhetischen Standpunkt markieren, überwarf sich jedoch mit den ihn umgebenden Liszt-Wagner-Jüngern. Die von Liszt vermittelte Aufführung seiner Oper „König Alfred“ am Weimarer Hoftheater wurde ein nur mäßiger Erfolg.
1856 folgte Raff seiner Braut Doris Genast, die als Schauspielerin eine Anstellung am Hoftheater in Wiesbaden gefunden hatte. Das anfängliche Stundengeben konnte er mit zunehmendem Erfolg einschränken und sich schließlich ganz dem kompositorischen Schaffen widmen. Der Durchbruch gelang Raff 1863 mit dem Gewinn des ersten Preises bei einem Preisausschreiben der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, die die von Raff eingesendete Sinfonie „An das Vaterland“ mit großem Erfolg zur Aufführung brachte.
In der ersten Hälfte der 1870er-Jahre stand Raff im Zenit seines Ruhmes. Seine Sinfonien, Kammermusik und Klavierwerke standen in ganz Europa und darüber hinaus auf den Konzertprogrammen. Ob Dirigenten wie Benjamin Bilse, Wilhelm Taubert oder Eduard Lassen, ob Interpreten wie August Wilhelmj, Pablo de Sarasate, Hans von Bülow, Hans und Ingeborg von Bronsart, Max und Pauline Erdmannsdörfer, das Müller-Quartett, um nur eine Auswahl zu nennen – sie alle spielten regelmäßig Raff in ihren Konzertprogrammen. Die New York Philharmonic Society ernannte Raff unmittelbar nach Liszt und Wagner zu ihrem Ehrenmitglied. Die gleiche Ehre wurde ihm durch Musikgesellschaften in Wiesbaden, Florenz, Mailand und Neapel zuteil. Zahlreiche Ordensverleihungen dokumentieren seinen öffentlichen Rang. Sogar im Londoner Crystal Palace avancierte Raff zum meistgespielten Sinfoniker!
Das neu gegründete Hoch’sche Konservatorium berief ihn 1877 zum Gründungsdirektor, der die Eröffnung im Folgejahr vorbereiten sollte. Raff sorgte im Lehrkörper für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den musikalischen Parteien und berief unter anderem Clara Schumann und Julius Stockhausen aus dem Lager der Konservativen sowie Joseph Rubinstein und Bernhard Cossmann aus dem Liszt-Wagner-Kreis. Kleinliche Auseinandersetzungen zermürbten den zunehmend herzkranken Raff, der trotz der ausufernden Verwaltungsaufgaben unermüdlich weiterkomponierte. In der Nacht vom 24. auf den 25. Juni 1882 entriss ein Herzinfarkt Raff aus seinem schaffensreichen Leben. Unter großer Anteilnahme der Öffentlichkeit wurde er auf dem Frankfurter Hauptfriedhof beigesetzt. Ein Komitee unter dem Ehrenvorsitz Hans von Bülows sammelte Spenden für ein Ehrenmal, das 1903 eingeweiht wurde und bis heute die Grabstätte ziert.
Ästhetisch eigenständig
Ästhetisch hat Raff in seinem Schaffen stets einen eigenständigen Weg abseits der fortschreitenden Parteienbildung gesucht. Er blieb häufig der tradierten Form treu und verknüpfte diese zum Beispiel in acht seiner zehn Sinfonien mit einem programmatischen Titel. Raff verstand sich selbst im positiven Sinne als Eklektiker, der die Klarheit der klassischen Form mit dem ästhetischen Ausdruckswillen seiner Gegenwart synthetisierte. Dem Beethoven-Orchester blieb er in der Regel treu und suchte im Alter zunehmend die musikalische Reinheit eines Mozart. Seine Klavierwerke suchen häufig den erzählenden Charakter Mendelssohns, ohne dabei jedoch ins Sentimentale zu gleiten. Seine Kammermusikwerke vermeiden weitgehend programmatische Bezüge, bekennen sich aber zur harmonischen Ausdrucksfülle der Neudeutschen Schule. Das Klavierquintett op. 107 hielt Hans von Bülow für das bedeutendste Kammermusikwerk seit Beethoven überhaupt.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war Raff in Fachkreisen noch so bekannt, dass er jüngere Komponisten wie Tschaikowsky, Dvorák, Mahler, Debussy oder R. Strauss nachweislich beeinflusste. Dennoch begann sein Stern schon zu Lebzeiten zu sinken. Die Gründe dafür sind vielfältig, können aber kaum mit mangelnder Qualität begründet werden. In den letzten Lebensjahren wurde Raff in der Öffentlichkeit zunehmend als Hochschulmann und nicht als Komponist wahrgenommen. Er vertraute ganz der Durchsetzungsfähigkeit seiner Werke und verfolgte im Gegensatz zu zahlreichen anderen Kollegen keine Strategie zur Sicherung seines Ruhms: Er initiierte keine Gesamtausgabe seiner Werke, schrieb kein Lehrwerk und unternahm keine Anstrengungen, die frühen Verlegerarrangements aus dem öffentlichen Bewusstsein zu tilgen.
Die Mittelstellung im Parteienstreit führte schließlich dazu, dass er aus beiden Lagern angefeindet wurde. Die Weimarer verübelten ihm die „Wagnerfrage“ und den vermeintlichen Bruch mit Liszt, die Konservativen sahen in ihm stets den Liszt-Schüler. In der Musikwissenschaft wurde Raff durch das bedenklich ahistorische Diktum von Carl Dahlhaus über die Jahre 1850 bis 1875 als „tote Zeit“ der Sinfonik totgeschrieben. Spätestens mit Gründung der Joachim-Raff-Gesellschaft an seinem Geburtsort Lachen 1972 setzte jedoch eine Renaissance ein, die sich langsam aber sicher in den gleichen Dimensionen wie Raffs Erfolg zu Lebzeiten bewegt. Präsident Res Marty „erbte“ das Ehrenamt von seinem Vater, der die Gesellschaft gegründet hatte, und brachte 2014 eine umfangreiche Dokumentarbiographie heraus. Durch sein immenses persönliches Engagement vernetzte er die Gesellschaft international, deren Größe im 50. Jahr ihres Bestehens auf die 300 Mitglieder aus der ganzen Welt zusteuert.
2018 wurde von der Gesellschaft das Joachim-Raff-Archiv gegründet, das neben der Verwahrung von Originaldokumenten und Reproduktionen die Kommunikationszentrale für die internationale Raff-Forschung bildet und die erste Anlaufstelle für ausübende Künstler darstellt. Unter der Leitung von Severin Kolb wurde in den vergangenen Jahren ein Online-Portal erstellt, das Werke, Briefe, Personen und Institutionen aus Raffs Leben erschließbar macht und auf das Niveau einer Carl-Maria-von-WeberGesamtausgabe zusteuert. Durch die Sammlungsarbeit der vergangenen Jahre hat sich in den Augen von Kolb das Raff-Bild wesentlich geschärft. Er sieht Raff mehr denn je als Kind seiner Zeit, das auf die ästhetischen und geistesgeschichtlichen Strömungen seiner Epoche musikalisch reagierte. Im liberalen Geist des Vormärz erwachsen geworden, glaubte er an ein aufgeklärtes, geeintes und föderales Deutschland. Das chauvinistische Kaiserreich unter Preußens Führung, das dann kam, war mitnichten dasjenige, für das er seine „Vaterlandssinfonie“ geschrieben hatte. Im Jubiläumsjahr soll der Tagungsband mit den Beiträgen des Symposiums „Synthesen“ zur Eröffnung des Archivs 2018 erscheinen. Ein weiteres Symposium zum Jubiläumsjahr unter dem Titel „Perspektiven“ ist für den 17./18. September geplant. Unter Federführung von Kolb entsteht zudem das April-Heft der „Tonkunst“ mit dem Themenschwerpunkt „Joachim Raff. Zeitgeist und Weltgeist“ und Beiträgen unter anderem von Hans-Joachim Hinrichsen, Inga Mai Groote, Stefan Keym, Axel Beer und Annegret Rosenmüller. Angesichts derart hochkarätiger Arbeit fragt man sich unweigerlich, warum eine dauerhafte, institutionelle Förderung des Archivs bislang ausbleibt.
Neue Werkeditionen
An Neueditionen überbieten sich die Edition Nordstern des Stuttgarter Raff-Enthusiasten Volker Tosta, der seit Jahrzehnten Neuproduktionen Raff’scher Werke mit qualitätvoll ediertem Notenmaterial versorgt, mit dem Schwergewicht Breitkopf & Härtel. Raffs erstes Verlagshaus ehrt das Geburtstagskind durch das persönliche Engagement von Verlagsleiter Nick Pfefferkorn mit einer ganzen Reihe von Urtext-Ausgaben und widmet der „Wiederentdeckung eines großen Komponisten“ sogar einen Audio-Podcast, in dem führende Raff-Forscher und -Interpreten zu Wort kommen. Für das Jubiläumsjahr ist sogar die Edition von Raffs Erfolgs-Sinfonie Nr. 5 „Lenore“ angekündigt. Auch die Schriftenreihe des Joachim-Raff-Archivs soll im Verlagshaus erscheinen. Pünktlich zum Geburtstag wurde zudem das neue, minutiös recherchierte Werkverzeichnis des britischen Raff-Forschers Mark Thomas veröffentlicht.
Längst hält Raff auch auf dem CD-Markt und im Konzertsaal verstärkt Einzug. Maßstabsetzend ist die Einspielung sämtlicher Orchesterwerke Anfang der 2000er-Jahre durch die Bamberger Symphoniker unter der Leitung von Hans Stadlmair, aus der Evergreens wie die Ouvertüre zu „Dame Kobold“ regelmäßig im öffentlichen Rundfunk zu hören sind. Die Pianistin Tra Nguyen legte 2015 eine sechs CDs umfassende Box mit Klavierwerken Raffs vor. Internationale Stars wie Ingolf Turban und Daniel Müller-Schott veröffentlichten Kammermusik und Solokonzerte von Raff. Neeme und Kristjan Järvi würdigten Raff auf CD oder im Konzertsaal. Fortlaufend kommen neue Raff-Einspielungen auf den Markt.
Im Jubiläumsjahr warten zahlreiche große Institutionen mit Raff-Produktionen auf: Bereits am 19. Februar stand die Sinfonie Nr. 7 „In den Alpen“ auf dem Programm der Münchner Symphoniker. Die Leipziger Gewandhauschöre bringen rund um Raffs Geburtstag das Oratorium „Welt-Ende – Gericht – Neue Welt“ in Leipzig und in Lachen zur Aufführung und veröffentlichen eine Einspielung des Werks bei CPO. Am 11. September gelangt das Musikalische Trauerspiel „Samson“, für das sich einst Ludwig Schnorr von Carolsfeld in Dresden vergeblich einsetzte, im Nationaltheater Weimar zur Welturaufführung. Das Leipziger Streichquartett unter Primarius Stefan Arzberger, das schon Raffs Streichquartette Nr. 1 und 2 für MDG einspielte, gibt mit Gästen auf Einladung des Gewandhauses am 20. November einen Kammermusikabend mit groß besetzten Raff-Werken. Die großen Kunststädte Ostdeutschlands ehren das Geburtstagskind. Ein Raff-Jubiläum an den Hauptwirkungsstätten Wiesbaden und Frankfurt? Fehlanzeige. Kaum zu überbieten ist wiederum der Veranstaltungskalender der Joachim-Raff-Gesellschaft: Im Kanton Schwyz und darüber hinaus kann man fast jede Woche ein Konzert oder einen Vortrag über Raff genießen.
Etablierte Dirigenten wie der Gießener GMD und Detmolder Professor Florian Ludwig setzen sich ebenso für Raff ein wie der Meininger Intendant Jens Neundorff von Enzberg, der noch in seiner Regensburger Zeit die Komische Oper „Dame Kobold“ im Coronajahr 2020 in einer Inszenierung von Brigitte Fassbaender zur Premiere gebracht hatte. Künstler von Rang wie Johannes Moser, Emmanuel Pahud, Michael Sanderling oder Marie-Claude Chappuis pflegen Raffs-Werke in ihren Programmen. Sogar Weltstar Esa-Pekka Salonen bezeugte jüngst sein Bewusstsein für die historische Bedeutung Raffs und argumentiert mit seinem Erfolg für die Berücksichtigung zeitgenössischer Komponisten im gegenwärtigen Spielplan (Elbphilharmonie-Magazin 01/2022). Worauf also noch warten? Raff spielen, Raff hören, Raff entdecken!
Zeitgleich mit dem Komponistengeburtstag feiert die Joachim-Raff-Gesellschaft ihr 50-Jahr-Jubiläum, Infos unter: www.joachim-raff.ch
Weitere Veranstaltungen:
- 6.6.2022, Gewandhaus Leipzig: Welt-Ende – Gericht – Neue Welt (Gewandhauschöre, camerata lipsiensis, Ltg.: Gregor Meyer)
- 18.6.2022, Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main: Mit einem Raff-Tag, an dem sich wie in seinem Weltbild die musikalische Praxis und die wissenschaftliche Forschung gegenseitig erhellen, wirft die HfMDK Schlaglichter auf wenig bekannte Facetten dieses vielseitigen Kopfs.
- 23.6.2022, Dr. Hoch’s Konservatorium: Als Kooperationsprojekt mit dem Collegium Musicum der HfMDK Frankfurt spielen Studierende die Variationen op. 194/4.
- 11.9.2022, Deutsches Nationaltheater Weimar: Samson. Musikalisches Trauerspiel in fünf Akten (szenische Aufführung)