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(Im ICE 691 von Berlin Ostbahnhof nach Stuttgart Hauptbahnhof. Umsteigen in Frankfurt, Weiterfahrt nach Darmstadt. Zu den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik.)
Darmstadt ist das Klagenfurt der Neuen Musik. Mit dem Unterschied, dass die Diskussionen und Konzerte der Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt wohl niemals live und in voller Länge auf 3Sat übertragen werden, wie die dieses Mal von Dieter Moor wunderbar moderierten Bachmann-Preis-Lesungen am Wörthersee schon seit Jahren. Schade eigentlich.
Gut, die Darmstädter Veranstaltung bräuchte vielleicht in den letzten Tagen eine Zuspitzung, mit Konzerten, an denen sich direkt Diskussionen anschlössen. Die Jury nähme in Anwesenheit der Komponisten nicht nur die erklungenen Werke öffentlich unter die Lupe, sondern würde auch die Einführungstexte und ihren Erkenntnisgehalt nach der Aufführung prüfen. Man sollte dabei den Unterhaltungswert nicht vergessen, also eine gute Jury auswählen. Meine Wunschkandidaten wären: Claus-Steffen Mahnkopf, Moritz Eggert, Matthias R. Entreß, Michael Beil und dann noch vielleicht zwei Fachfremde, Christoph Schlingensief? (Wie geht es ihm eigentlich?) Lars von Trier (hat wahrscheinlich keine Lust…)? Meinetwegen auch den virtuosen und herrlich selbstverliebten Bachmann-Juror Mangold (egal ob er Ahnung von Neuer Musik hat oder nicht).
Dieses Jahr gab es in Klagenfurt übrigens eine (sehr inoffizielle) Alternative zum Bachmann-Preis. Die Alternativ-Jury hielt eine Menge ungewöhnlicher Plus- und Minus-Kategorien bereit, um doch auf dasselbe Ergebnis wie die offizielle Jury und das Publikum zu kommen: Tilman Rammstedt. Analog dazu (und als kleine Hommage an die Urheber dieser schönen Idee) habe ich 35 Kriterien, die für einen von mir gestifteten Preis - eine Alternative zum am Ende der Darmstädter Ferienkurse verliehenen Kranichsteiner Musikpreis - 2008 gelten sollen, zusammengestellt. (Ich beschränke mich dabei allerdings nur auf Plus-Kriterien, die gleichsam bestimmte Phänomene oder Eigenschaften ausschließen.)
(Nach dem Eröffnungskonzert)
Es beginnt mit Begrüßungsworten im Staatstheater und schließlich mit Robin Schorfmanns Stück "Hoff". Entschuldigung, mit Robin Hoffmanns Stück "Schorf", dargeboten vom hr-Sinfonieorchester unter Lucas Vis. Hoffmanns neues Orchesterwerk enthält erfreulich viele Farben und Ideen, ein in seiner Körperlichkeit "typischer Hoffmann". Die musikgeschichtsträchtige Eröffnung (eine Art dekonstruierter Coriolan-Ouvertüren-Beginn) und die vom Band zugespielten Proben-Ausschnitte hätten in ihrer orchestralen Selbstreferentialität gar nicht einmal sein müssen.
Anschließend die Uraufführung von "Untitled No. 2" - einem Klavierkonzert des 1957 geborenen Engländers James Clarke. Sorry, James - eine halbstündige Klangwolke mit beharrlichen Klavierakkorden, eine moderne Bruckner-Debussy-Synthese: das reicht nicht.
Nach der Pause Isabel Mundry: "Zeichnungen" für Streichquartett und Orchester. Mundrys Stück (für den Streichquartett-Part sorgten die Ardittis) von 2006 basiert auf einer frühen Komposition, die Mundry in "einer großen Kiste" wiederfand. Ursprünglich hieß das Werk "11 Linien für Streichquartett". Nach der Wiederentdeckung kam das Orchester hinzu. Das Werk überzeugt in seiner Durchhörbarkeit der Linien, dem Klang des auskomponierten Raumes, der im Ohr teilweise wirklich greifbar wird. Letztlich bleibt aber der Eindruck der Harmlosigkeit zurück.
Zum Schluss geht es mit großer instrumentatorischer Lust durchs orchestrale Binsendickicht (so der Titel des 1977 entstandenen Stückes "Jonchaies" von Iannis Xenakis in dt. Übersetzung). Ein wohlig-archaisches Stück Musik(geschichte). Großer Applaus vom Publikum für das hr-Sinfonieorchester, das bei Xenakis die vergleichsweise größte Spiellust entfaltete.
Leider triefte das Programmheft vor lauter Neue-Musik-Allgemeinplätzen. Liebes Programmheft, ist es richtig, dass das Neue für Robin Hoffmann im Verborgenen stattfindet? Ist das Komponieren für Hoffmann so etwas wie das Sich-Bewegen auf unbekanntem Terrain, ähnlich der Arbeit eines verdeckten Ermittlers? Programmheft: "Für Hoffmann findet das Neue im Verborgenen statt. Das Sich-Bewegen auf diesem Terrain vergleicht er mit der Arbeit eines verdeckten Ermittlers, der unbeachtet und unerkannt Informationen sammelt (…)."
Morgen geht es weiter. Hoffentlich nicht mit gesammelten Allgemeinplätzen… Gute Nacht.