„Vergessen Sie niemals: Das hier ist nicht nur Griechenlands Grenze, das ist die Grenze Europas“, sagt Iris Xilas Xanolatos und blickt versonnen über den Pool ihres Hotels hinweg auf die Festung von Molyvos, die stolz auf einem Hügel über dem malerischen 2.000-Seelen Dorf thront. Von hier aus hat man einen guten Blick auf das türkische Festland. Die alte Dame hat schon bessere Zeiten auf Lesbos gesehen. Und mit ihr das Hotel. Doch in diesen Tagen beherbergt es Musiker aus ganz Europa, die eine Woche lang beim dritten „Molyvos International Music Festival“ auftreten.
Lesbos und die Flüchtlinge
Sie schlafen und arbeiten hier. Und plantschen im Pool, wenn es die Probenpausen erlauben. Um die 20 Spitzenmusiker aus europäischen Orches-tern und Hochschulen sind gekommen. Auch die international gefeierte Sopranistin Marlies Petersen ist dabei. Doch Molyvos ist kein Musikfestival wie jedes andere. Und das hat eben auch mit Geographie zu tun.
„Hier beginnt Europa“, sagen die Menschen hier. Auf der Insel im äußersten Südosten, nur wenige Kilometer vom türkischen Festland entfernt, fühlen sie sich wie auf einem Vorposten. Doch der fühlte sich vor drei Jahren eher an wie ein verlorener Posten. Denn auch für Abertausende von Flüchtlingen war Lesbos der „Anfang von Europa“. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise kamen Tausende übers Meer und strandeten hier im wahrsten Sinne des Wortes. Dabei stießen sie auf große Hilfsbereitschaft bei der Bevölkerung. Überall auf der Insel suchten sie sich ihren Überlebensplatz und waren plötzlich auch Protagonisten für das gerade gegründete Molyvos Musikfestival. So hatten es sich die deutsch-griechischen Schwestern Danae und Kiveli Dörken und der Unternehmersohn Dimitris Tryfon nicht vorgestellt, als sie gegen alle Unkenrufe das Unmögliche wagten: ein Musikfestival ins Leben zu rufen und etwas Neues zu schaffen inmitten des Meeres aus Depression und Frustration, in dem Griechenland nach der Finanzkrise versunken war. Den beiden Pianistinnen ging es nicht um Politik, sondern um die Musik. Sie wollten Menschen zusammenbringen und etwas tun für die Insel, auf der ihre Großmutter gelebt hatte.
Doch dann zog sie die Flüchtlingskrise in die Abgründe der Politik und der menschlichen Katastrophen. Die Schwestern luden die Geflüchteten in Konzerte ein und widmeten den zweiten Festivaljahrgang mit dem Titel „Crossroads“ dem Flüchtlingsthema. Heute hat sich die Lage beruhigt. Aber auch jetzt noch kommen fast täglich Flüchtlinge an. Sie leben in zwei Lagern auf der Insel. Doch beim diesjährigen Molyvos-Festival spielen sie keine Rolle mehr. Zumindest nicht sichtbar für den Besucher vom europäischen Festland. Warum das so ist, wird im Laufe des Festivals immer wieder diskutiert werden.
Doch zunächst steht die musikalische Aktion im Vordergrund, auch an ganz ungewöhnlichen Orten. Etwa im Congas, einer populären Strandbar am Ortsausgang von Molyvos. Sie ist zur Mittagszeit gut gefüllt. Über den Tresen wandern reichlich Bier und Ouzo. Kinder toben herum, Hunde bellen, draußen spielen die Dorf-Jugendlichen Wasservolleyball. Und aus den Lausprechern dringt griechischer Gute-Laune-Pop. Plötzlich geschieht das Unerwartete: Zwei Musiker packen ihre Instrumente aus. Auf dem rasch zusammengeschraubten Notenpult liegt Händels Passacaglia in der Fassung für Geige und Bratsche. Kirill Troussov und Lech Antonio Uszynski spielen wie um ihr Leben. Das Stück ist hochvirtuos. Für viele im Congas vielleicht die erste Begegnung mit klassischer Musik. Und für die Stradivari von Kirill Troussev ist es auch eine Premiere. Einst wurde mit ihr Tschaikowskys Violinkonzert uraufgeführt.
Schuberts Hirte im Hafen
Auch Schuberts „Hirt auf dem Felsen“ kommt als ungewohnter Besucher nach Molyvos. Zur Mittagszeit hat sich Marlis Petersen mit ihrem Pianisten im Hafen des Dorfes aufgebaut. Und sie singt hinreißend. Das alles wirkt so herausgerissen aus der Zeit. Und zieht gerade deswegen die Umstehenden in ihren Bann. „Musikalische Momente“ nennen das die Macher des Molyvos-Festival. Man möchte sie viel lieber umbenennen in „Magische Momente“. Wie von selbst entsteht da mehr, als ursprünglich intendiert war: nämlich bei Einheimischen und Touristen für die Konzerte zu werben – und für den Abbau von Schwellenängsten zu sorgen.
Festival-Zeit in Molyvos, das bedeutet eine prallvolle Woche mit Konzerten und Begegnungen, an malerischen Orten wie der stark bewehrten Burg. Einst wurde sie von den Byzantinern errichtet. Jetzt bildet sie die Kulisse, vor der sich allabendlich hunderte Zuhörer unterm mediterranen Sternenhimmel versammeln. Das Füllhorn der Musik auf Molyvos ist übervoll – und wird nur noch übertroffen vom Maß des Enthusiasmus bei Kiveli Dörken und ihrer Mutter Lito Dakou, die als guter Geist das quirlige Treiben zusammenhält (die ältere Tochter Danae muss diesmal wegen der Geburt ihres Kindes passen). „Tief gebeugt und voller Reue, lieg ich liebster Gott vor dir“, deklamiert Marlies Petersen in der ihr eigenen Eindringlichkeit beim Eröffnungskonzert. Johann Sebastian Bachs Kantate „Mein Herz schwimmt im Blut“ wird zum Ereignis, auch wenn sie eigentlich nicht für eine Freiluftbühne hoch über der Ägäis geschrieben ist. Und unwillkürlich kommt einem das diesjährige Festivalmotto „Katharsis“ in den Kopf. Ein Akt der Reinigung und der Befreiung, wie es das Programmheft erläutert. So frei schwebt die Seele vielleicht nur dort, wo man sich – sternenzeltbeschirmt – nah dem göttlichen Glanz wähnt.
Mutige Programmdramaturgie
An das Festivalmotto knüpft auf höchst suggestive Weise auch Arvo Pärt mit „Fratres“ an, dessen eigenwilliger Klangtextur der Cellist Alexander Buzlov und der Gitarrist Petrit Ceku ihre insistierende Stimme leihen. Beide wird man sich merken müssen, genauso wie den Oboisten Ivan Podyomov (mit Schumanns Romanzen) und den Klarinettisten Sebastian Manz (Messiaens Quartett auf das Ende der Zeit). Aufrüttelnd auch die gleichsam energetischen Explosionen in Iannis Xenakis „Dhipfli Zia“ (Linus Roth, Violine, Bendedict Klöckner, Violoncello) beim Mittagskonzert in der ehemaligen Moschee von Molyvos. Wie um sich emotionale Erleichterung zu verschaffen, schweift der Blick des Besuchers immer wieder aus dem geöffneten Fenster hinaus aufs glitzernde Meer. Und da ist ein Baum, dessen Zweige sich müde im heißen Sommerwind wiegen. Mutig sind diese Programme. Sie würden mancher deutschen Großstadtphilharmonie zur Ehre gereichen. Auf jeden Fall ist das keine leichte Urlaubskost für Ungeübte in Sachen klassischer Musik.
Mit dem Festival möchte er eine neue Erzählung für Lesbos initiieren, sagt der Unternehmersohn und Mitgründer Dimitris Tryfon im Pausengespräch. Seine Familie trägt einen Hauptteil des mit 200.000 Euro nicht allzu üppigen Budgets. Gerade wenn es schlecht laufe, müsse man nach vorne schauen und weitergehen, fügt sein Vater an. Er hat dabei nicht sein prosperierendes Pharmaunternehmen im Blick, sondern Lesbos und eigentlich ganz Griechenland. Von der Finanzkrise hat sich das Land noch längst nicht erholt. Auch das Musikleben bleibt schwer getroffen. Es ist vielerorts erlahmt. Selbst das Budget für Prestige-institutionen wie das Athener „Megaron“ wurde auf ein Viertel zurückgefahren. Was gerade zur Erhaltung des Gebäudes ausreicht, wie ein angereis-ter Musikjournalist aus Athen bitter bemerkt. Und beim renommierten Festival von Epidauros sei die klassische Musik förmlich „abgeschafft“ worden.
Kleinmütige Fortsetzung
2015 kam dann noch die Flüchtlingskrise oben drauf. Das hat dem Tourismus nochmals brutal zugesetzt. Allein auf Lesbos blieben im Folgejahr 70 Prozent der Touristen weg. Für dieses Jahr rechnen Experten mit „nur noch“ 50 Prozent Minus. Die Folge: Ein Verfall der Preise und der Hotelanlagen gleichermaßen.
Das Molyvos-Musikfestival soll helfen, der Insel ein neues Image zu verpassen. Das diesjährige Programm lässt ahnen, dass die Flüchtlinge nicht mehr dazugehören sollen. Denn nirgendwo sind sie mehr Thema. Auch im Publikum tauchen sie nicht auf. Ist die von den Festivalmachern beschworene Vision für Europa also einem kleinteiligen Kompromiss mit den widerstreitenden Bevölkerungsgruppen auf der Insel gewichen? Zwischen jenen, die den Flüchtlingen Platz im öffentlichen Leben und in den Medien einräumen wollen und jenen, die darin für sich und den Inseltourismus eine nachhaltige Existenzbedrohung sehen? Kiveli Dörken will sich mit ihrem Festival vor keinen der Karren spannen lassen. Für die Geflüchteten arbeitet sie während des Jahres lieber im Verborgenen, mit Workshops und kleinen Konzerten.
Nach dem großen Aufschlag vor zwei Jahren wirkt das kleinmütig. Und ist nicht gerade ein kraftvolles Statement für ein freies und humanes Europa. Gerade auch wenn der Blick 30 Kilometer weiter östlich schweift, aufs türkische Festland, dort, wo Europa und seine Werte gerade mit Füßen getreten werden. Vielleicht lohnt ja ein Blick in die Geschichte. Lesbos war schon einmal Fluchtplatz. Im Zuge der Griechenverfolgung durch das Osmanische Reich fanden hier Zehntausende ihre neue Heimat. Heute bilden sie den Kern der über 80.000 Einwohner von Lesbos.