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Adornos Furcht vor Banalität oder vom Schönen und Wahren

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Eine virtuelle Gesprächsrunde mit zwanzig Komponisten
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Die folgende Gesprächsrunde hat in Wirklichkeit nie stattgefunden. Sie ist vielmehr das Resultat beziehungsweise das Konzentrat aus Gesprächen mit insgesamt 33 Komponisten, die von Armin Köhler zwischen 2003 und 2005 zu verschiedenen Themen an unterschiedlichen Orten zwischen Paris und München, Amsterdam und Basel interviewt wurden. Das am Ende fünfundsiebzigstündige O-Ton-Material dieser Sendungen wurde von ihm für SWR2 in zwei unterschiedlichen radiophonen Formen aufgearbeitet. Zum einen zu Hörbildern, in denen die einzelnen Komponisten anhand persönlicher Erlebnisse ihre Perspektive auf die hinterfragten Phänomene schildern. Dabei handelt es sich nicht um Porträt-sendungen, sondern um individuelle Blicke auf einen klar umrissenen historischen Zeitraum, fokussiert durch einen speziellen Fragenkatalog. Die Erlebte Geschichte ist mithin auch eine Geschichte in Geschichten. Bei der anderen Sendeform „sitzen“ die „Unvereinbaren“ um einen virtuellen radiophonen Tisch und „diskutieren“ über die vorgegebenen Themen. Eine besondere Brisanz erhalten diese Runden durch die Tatsache, dass von Elliott Carter, Jahrgang 1908, bis zu Wolfgang Rihm, Jahrgang 1952, Künstler aus verschiedenen Generationen in einen imaginären Dialog treten.

Als Vorabdruck lesen Sie hier einen Ausschnitt aus der Sendung zum Schönen und Wahren im Musikdenken des 20. Jahrhunderts. Dies vor dem Hintergrund, dass in der begrifflichen Auseinandersetzung das Schöne zunehmend durch das Wahre verdrängt wurde. Auf Spurensuche nach Ursachen und Eigenheiten haben neben dem Autor der Sendung am virtuellen Tisch Platz genommen: Louis Andriessen, Harrison Birtwistle, Juan Allende-Blin, Konrad Boehmer, Pierre Boulez, Elliott Carter, Vinko Globokar, Friedrich Goldmann, Klaus Huber, Georg Katzer, Helmut Lachenmann, György Ligeti, Younghi Pagh-Paan, Wolfgang Rihm, Josef Anton Riedl, Dieter Schnebel, Mathias Spahlinger, Hans Zender, Walter Zimmermann und Wilhelm Killmayer:

Wilhelm Killmayer: Ich weiß nicht, ob Schönberg mal mit Genuss Lortzing gehört hat. Webern hat es. Er hat gern den „Holzschuhtanz“ aus „Zar und Zimmermann“ vierhändig gespielt. Das ist ganz typisch, wenn Webern sagt: Das ist ja herrlich, ganz klare, feine Musik, und Schönberg würde nur sagen: Na ja… Also Schönheit sollte nicht sein und Heiterkeit auch nicht. Da gab es sehr viele pejorisierte Begriffe, Begriffe, die mit Leben zu tun haben. Schauen Sie, Adorno, der auch ganz wunderbare Sachen geschrieben hat, die man aber nicht zitiert, Adorno war ein Großbürger. Für ihn war das Angstsyndrom Banalität. Banalität ist ein Teil des Lebens. Und Furcht vor Banalität ist auch ein Teil von Furcht vor dem Leben. Der Begriff Schönheit hat ja nicht unbedingt damit zu tun, dass alles glatt und ölig ist.
Armin Köhler: Helmut Lachenmann, war es vielleicht nicht doch gleichzeitig ein Ausschütten des Kindes mit dem Bade, wenn man Schönheit zu einseitig ausgetauscht hat mit dem Begriff der Wahrheit?

Helmut Lachenmann: Aber natürlich! Was heißt wahr? Ich war diesbezüglich schon in viele Diskussionen involviert. Während einer Diskussion in Berlin war das mein letzter Dissens mit Heinz-Klaus Metzger, der sich wegen dieses Problems des Wahrheitsanspruchs in der Kunst furchtbar über die Überhäufung mit Unterhaltungsmusik aufgeregt hat. Ich sagte: Ich finde, Schlager, U-Musik, das ist total wahr? Diese Musik lügt ehrlich. Das ist ein klarer Ausdruck der Bedürfnisse, auch der Angst. Sag mir, in welchen Sand du deinen Kopf steckst, und ich sage dir, wovor du Angst hast.

Wilhelm Killmayer: Man muss sich dran gewöhnen, dass es zwei Gesellschaften gibt. Es gibt eben eine Gesellschaft, die die Unterhaltungsmusik mag, und es gibt eine Gesellschaft, die das andere mag. Es gibt kein Publikum, sondern verschiedene Publika. (...)
Harrison Birtwistle: Lassen Sie uns doch lieber anstelle der Frage der Schönheit das Wort Eigenschaft des Ausdrucks, Eigenschaft der Lyrik verwenden. Die Frage ist wieder eine typisch deutsche Angelegenheit…

Armin Köhler: Ich bin Deutscher und meine Frage bezieht sich auf die Geschichte…

Eigenschaft des Ausdrucks

Harrison Birtwistle: Na dann können Sie ja die Frage gleich selbst beantworten! (lacht). Lassen Sie uns doch lieber das Wort Lyrik verwenden, wenn Sie wollen, und nicht Ihr Wort Schönheit. In der Musik hat eine gewisse Eigenschaft des Ausdrucks seit langem gefehlt. Und es liegt eine Art Eigenschaft des Ausdrucks darin, Linien zu spielen, was sehr schwer zu behandeln ist, weil es mit dem 19. Jahrhundert in Verbindung gebracht wird, mit dem schlimmsten Aspekt des 19. Jahrhunderts. Und ich denke, dass es sehr bewusst und absichtlich aus der Musik verbannt wurde. Aber es interessiert mich sehr, wo eine Eigenschaft des Ausdrucks sozusagen wieder zurückkehrt, die nicht Teil des Klischees ist, und warum die moderne Musik den Ruf hat, hässlich zu sein. Wie kann man die andere Seite davon entdecken, ohne das Klischee? (...)

Wolfgang Rihm: Ja, das ist etwas Interessantes. Ich glaube, das hat sehr mit dem deutschen Kontext zu tun. Man hat in den Erziehungsidealen, unter denen auch ich noch aufgewachsen bin, oft zu hören bekommen, das sei zu äußerlich oder dieses sei nur an der Fassade interessiert, während da der Kern und da das Wahre sei. Das ist so eine Gegenpositionierung, die etwas ganz Ungriechisches an sich hat, denn für die Griechen war Schönheit und Wahrheit etwas ziemlich Ähnliches. Das Schöne und das Gute haben sich auseinander ergeben und auseinander entwickelt und zueinander hin bezogen.

Dieter Schnebel: Ja, durchaus. Wir waren ja gnadenlos. Also Fortschritt, das bedeutete von Schönberg her rührende Verdikte, die man befolgt hat. Ich weiß noch, wie ich einmal in Darmstadt neben Adorno saß und er, als in einem Stück eine Oktave vorkam, angewidert sagte: „Pfui Teufel!“

Wolfgang Rihm: Ich kann mich noch daran erinnern, das lag über der ganzen schulischen Erziehung: Das Wahre ist meistens eben nicht ästhetisch reizend. Und das ästhetisch Reizende kann nicht das Wahre sein, weil nämlich das Wahre eben nicht ästhetisch reizend ist. Also ein Kreisschluss. Es mag darin auch eine gewisse Verinnerlichung von – ich bin jetzt kein Kultursoziologe – protestantischer Ethik und pietistischen Idealen wirksam geworden sein.

Wichtig war doch, dass diese Antinomie „wahr“ und „schön“ sich durch alle Bereiche fortgesetzt hat und dass sie selbst sogar in dem Bereich, der den Fortschritt für sich reklamierte, zur Kategorienfalle wurde. Gerade im Bereich des Fortschritts, wo man ja denkt, dass auch von Prägungen, von beengenden Grundvoraussetzungen fortgeschritten wird, wurde genau das im Koffer mitgenommen: das Wahre und das Schöne als Gegensatz. Trotzdem, es ist, wie immer, das Bessere der Feind des Guten, wenn wir heute Werke hören. Und ich komme immer wieder darauf zurück: Werke, die in dieser Phase komponiert wurden – und es sind bedeutende Werke – sie sind noch schön. Wir hören ihre Kraft und auch ihre Gelassenheit. Ihre Ermöglichung und ihr Feuer, ihren inneren Sturm, der auch was enorm Sympathisches ist. Es mag sein, dass man zu Zeiten, als das entstand, eben seine Mühe hatte, da zu unterscheiden. Das ist aber wiederum zu allen Zeiten so. (...)

Armin Köhler: Nun gibt es ja im 20. Jahrhundert diese naive Vorstellung: Da sitzt der Komponist in seinem Kämmerlein, komponierend mit dem krampfhaften Impetus, alles Schöne, was auch immer das sei, aus seinem Werk zu verdammen. Das ist die eine, die besonders naive Vorstellung. Und dann haben wir ja die andere, dieses aus dem ex negativo Herauskomponieren.

Konrad Boehmer: Also gibt es im 20. Jahrhundert zwei Typen von Komponisten. Es gibt Verdummungskomponisten und Verdammungskomponisten. Prima, jetzt haben wir eigentlich die Zauberformel gefunden!

Die Zauberformel

Armin Köhler: Herr Zender, die Zauberformel?

Hans Zender: Ich denke, das Eintauschen der Schönheit für die Wahrheit war unerlässlich, das gehört zur Zeitgeschichte. Wie hätte man sich sonst von dem vergangenen europäischen Schönheitsbegriff trennen sollen? Also dass man sagt: Ich muss wahrhaftig sein, auch auf die Gefahr hin, dass ich als Künstler hässlich bin statt schön. Natürlich, man kann sich auch revidieren und kann sagen, die geistigen Voraussetzungen haben sich so geändert, dass ich das, was ich früher als hässlich empfunden habe, heute als schön empfinde. Das kann im Einzelnen so sein. Trotzdem, mir geht es heute noch so: Wenn ich mich zum Beispiel als Interpret in eine Schubert-Sinfonie vertiefe oder wenn ich ein eigenes Stück dirigiere oder das eines Kollegen, dann lebt man nicht nur in einem anderen Schönheitsbegriff, sondern in anderen geistigen Bezügen. Und dann bin ich bei der Wahrheit. Denn ich kann wiederum nur solche geistigen Bezüge voll akzeptieren, wenn ich das sichere Gefühl habe, dass es sich hier um Äußerungen eines Komponisten handelt, der nicht nach dem Erfolg schielt oder der nicht mit Klischees arbeitet, sondern der versucht, der auf dem Weg ist, sich selbst zu finden. Das ist die einzige Möglichkeit, heute Kunst zu machen. Ich würde Wahrheit und Schönheit nicht in Gegensätzen sehen. Das sind eigentlich zwei Worte für eine verborgene Sache, die wir nie ganz greifen können.

Juan Allende-Blin: Also wissen Sie, da muss ich wieder Nietzsche zitieren: „Es gibt Leute, die das Wasser trübe machen, damit man glaubt, es sei tief.“ Wenn man immer das Wort Dialektik benutzt, ist das immer sehr elegant, aber es sagt mir überhaupt nichts. Warum soll ich Wahrheit gegen Schönheit ausspielen? Es sind zwei verschiedene Sachen, und ich würde auch niemals Milch und Wein mischen. Ich finde das absurd. „La beauté est toujours bizarre“, hat Baudelaire gesagt. Das Schöne ist immer bizarr. Es ist merkwürdig, ist fantastisch, ist außerordentlich. Das bedeutet, dass das Schöne immer neu definiert werden muss.

Armin Köhler: Klaus Huber, warum eigentlich dieses „Bäumchen-wechsle-dich“-Spiel?

Klaus Huber: Man muss in Betracht ziehen, dass der Begriff der Schönheit dermaßen in die Niederungen gelangt war, dass es notwendig schien, sich davon zu distanzieren. Und man kann ja in unserer heutigen Zeit schon feststellen, wie sich das polarisiert hat. Also, die Frage der Schönheit hat mich eigentlich nie in erster Linie auf eine Weise interessiert, dass ich ex negativo erklären müsste oder dass ich sagen müsste: Ich muss jetzt irgendetwas machen, damit das nicht zu schön erscheint oder dergleichen. Solche Überlegungen haben mich eigentlich nie gestreift, habe ich auch nie so empfunden. Und in der Zeit, als ich „...inwendig voller figur...“ schrieb, da ging es ja nun wirklich nicht um die Schönheit, da ging es um die Apokalypse und um Albrecht Dürer, mit dem ich mich sehr stark auseinander gesetzt habe.
Von ihm gibt es einen Satz (offenbar hatte ihn jemand gefragt): „Was Schönheit ist, das weiß ich nit“. Von Dürer selbst, der ja offenbar ziemlich viel über Schönheit wusste, sonst hätte er das ja nicht geschafft. Aber er sagte explizit: „Das weiß ich nit.“ Und dann, das kann ich jetzt nur frei zitieren, fängt er an, die Schönheit mit der Arbeit der Bienen zu vergleichen. Das finde ich einfach phänomenal. Eine kreative Arbeit, die geduldig genug ist, die kann einen Honig hervorbringen aus einem, vielleicht sogar a priori faden Nektar gewisser schwacher Blumen. Also da ist diese Transsubstanziation auch drin.

Helmut Lachenmann: Ich biete ein neues Wort an, um als nächste Worthülse zu funktionieren, im Moment ist es noch keine: Schutzlosigkeit. Provozieren kann ich heute nicht mehr mit Aggressivität, mit Obszönität, mit all dem Zeug. Aber ich kann vielleicht noch provozieren mit Schutzlosigkeit. So dumm und so hilflos wie ich bin, vielleicht mit Angst oder auch ohne Angst?

Konrad Boehmer: Hüten wir uns, Schönheitsbegriffe zu prägen! Hüten wir uns vor allem, als Komponisten irgendwelche selbst fabrizierten Schönheitsbegriffe zur Verstärkung unserer Identität, also unseres Marktwertes zu gebrauchen. Dann sind wir Lügner und Marketender. Und das gehört nicht so ganz zur Kunst.

Helmut Lachenmann: Schutzlos war die Symphonie von Webern op. 21. Da gab es kein Faszinosum, von wo aus ein Dirigent es hätte gestalten können. Das musste man spüren. Und das war so, wie es war. Und das Ding, dieses Werk, ist unglaublich bis heute. Vielleicht ist es nicht verdaut, zum Glück nicht verdaut. Ich finde das auch in einer ganzen Reihe von Schönbergs Werken, der einfach nur konsequent mit seiner ganzen Intelligenz und auch Intuition und seinem ganzen künstlerischen Anspruch etwas gemacht hat. Da ist dieses Moment, dass ich mich einbringe und etwas mache, ohne nach rechts und links zu schielen. Das heißt, im Grunde entleere ich es, das Klingende, seiner vorausgegebenen, vielversprechenden, faszinierenden Qualitäten. Ich erkläre, entleere es und nehme es an mich. Und jetzt bin ich das in dem Moment; mit dem, was ich daran kaputt gemacht habe und warum ich es kaputt gemacht habe, also, was ich als Schaffender, Kreativer oder Suchender, wie auch immer, damit mache. Wo das passiert, da geht es ans Eingemachte.

Pierre Boulez: Um sich zu verteidigen, sagt man: Eine Musik ist nicht schön, sie ist vielmehr wahr. Sie trägt die Wahrheit und nicht die Schönheit. Und das ist im Grunde richtig. Wenn eine Musik wirklich alle Richtungen, alle Haltungen ausdrücken möchte, dann muss sie wirklich hart sein oder schön oder leise oder so etwas. Dann erst gibt es ein breites Panorama. Und dann das häufig gebrauchte Wort „Dissonanzen“. Was sind Dissonanzen? Dissonanzen stehen im Kontext mit dem Vokabular. Wenn Sie eine kleine Septime oder eine große Septime oder eine kleine None in einer Musik setzen, die vollkommen diatonisch ist, dann ist das eine wirkliche Dissonanz. Aber das hängt auch vom Register ab, von der tiefen oder der hohen Lage. Und deswegen kann man überhaupt nicht über dieses Dissonanzproblem diskutieren, denn Leute finden dissonant, was ich nicht dissonant finde, weil mein Ohr vielleicht besser dressiert ist.

Armin Köhler: Herr Ligeti, würden Sie in diesem Punkt Herrn Boulez zustimmen?

György Ligeti: Von Wahrheit war nur bei Schönberg die Rede. Mit dieser Frage habe ich mich ohnehin nicht aufgehalten. Das lag so außerhalb der Welt eines früheren Naziverfolgten und späteren Sowjetverfolgten.

Armin Köhler: Friedrich Goldmann und Georg Katzer, wie war das in der DDR?

Friedrich Goldmann: Im Osten wurde der Begriff des Schönen nicht so hochgejubelt. Er war aber auch nicht tabuisiert wie im Westen. Sie kennen diese schöne Geschichte von Lachenmann, wo er versucht, den Begriff ins Spiel zu bringen, aber natürlich sehr gedreht. Und was ist passiert? Die Leute haben nicht zugehört. Ich habe das wirklich erlebt in seiner Gegenwart, wo eine Professorin dann sagte: „Lachenmann – Schönheit ist Verweigerung.“ Er hatte was anderes gesagt: „Schönheit ist Verweigerung von Gewohnheit.“

Georg Katzer: Also, ich behaupte mal, dass das Schöne nie das eigentliche Ziel ist und würde das bei ande-ren Komponisten ähnlich vermuten. Schönheit als Abwesenheit von Gewohnheit, das ist meiner Meinung nach ein zutreffendes Diktum, aber kein hinreichendes. Denn die Abwesenheit von Gewohnheit lässt noch nicht zwingend Schönheit entstehen, da muss noch etwas anderes dazukommen.

Helmut Lachenmann: Dieses Missverständnis verfolgt mich die ganze Zeit. Ich wollte nicht den Begriff „Schönheit“, ich wollte nicht den Begriff „sinnlich“, ich wollte nicht den Begriff von Ausdruck einem Denken überlassen, welches letztlich in einem Paradigmenbereich lebt, der eigentlich dem 19. Jahrhundert entstammt. (...) Da habe ich auch immer noch meine Probleme mit Bernd Alois Zimmermann, den ich hoch verehre. Im Grunde nicht mit ihm, sondern mit der Art seiner Exegese bei jungen Komponisten, die sagen: Wir brauchen nicht den Stockhausen, wir haben den Bernd Alois Zimmermann. Der ist noch Musiker, der ist noch Ausdrucksmusiker. Ich finde, das ist ein Missverständnis. Adorno nennt es in Alban Bergs Violinkonzert „neudeutsche Relikte“. Konsonanz als Ausdruck von Erlösung und Dissonanz als Ausdruck von Katastrophe ist in Deutschland richtig. Jede Art von Provokation bekommt in dem Sinn diesen Charme des Subversiven, des Antithetischen und des Aggressiven und ist moralisch auf der richtigen Seite, denn nach Au-schwitz geht es nur noch darum, die Wunde offen zu halten, sozusagen. Das ist völlig falsch, denn: Es gibt genug Gruselfilme, wo man sich schon aus Angst vor der Wirklichkeit eine andere Angst einjagt. Ich sage manchmal: Ich bin finster entschlossen, heiter zu sein.

Armin Köhler: Finster entschlossen, Walter Zimmermann?

Walter Zimmermann: (...) Ich meine, dass auch die Idylle kein reaktionäres Verhalten per se ist, weil es unter Umständen die lebensrettende, Kraft schöpfende, letzte Zuflucht sein kann in einem totalitären Regime. Und so war es ja teilweise auch in der DDR – darüber hat man wahrscheinlich noch gar nicht gesprochen: die Idylle ein Refugium. Deshalb war ja auch Jean Paul in der DDR sehr gern gelesen, weil er diese Kapriolen des Unpolitischen geschlagen hat, obwohl er letztlich auch sehr gesellschaftskritisch war, aber immer mit diesem Kapriziösen, nicht anklagend, sondern sehr feinsinnig…

Georg Katzer: Ja, ich denke, der fast pejorative Gebrauch des Wortes „schön“ soll bedeuten, dass da ein Opportunismus verborgen ist, eine Anbiederung. Das hat natürlich auch was mit dem 68er-Denken zu tun, dass Musik oder Kunst unbedingt gegen den Stachel löcken muss. Und da kann sie nicht schön sein. So bin ich nie rangegangen, aber diese Denkkategorie ist mir nicht fremd. Und der Aufschrei, der in der DDR-Musik so oft zu hören ist, dokumentiert genau diese Haltung. Musik muss gegen etwas angehen, Musik darf sich nicht anbiedern. Und deswegen muss sie verstören. (...)

Walter Zimmermann: Was ist denn da mit uns los, dass wir das Glück oder die Freude verbannen? Dieses Abschaffen des Idylls, wie Metzger sagt. Weil es einmal einen großen Makel bekommen hat. Also ich denke da eher an das Büchner’sche Drama von „Leonce und Lena“, an dieses etwas schräge Idyll, das da abgehandelt wird. Das erkenne ich als einen Moment der Freiheit. Nicht das Biedermeierliche, wo man sich in seinen Schrebergarten zurückzieht und Kartoffeln zieht, sondern das Anonyme. Die Landschaft, die nicht erobert ist. Das ist auch ein Moment von Freiheit. Das ist aus unserer Musik entfernt, tabuisiert, das gibt es nicht, das ist verschwunden. Wir müssen anklagen, wir müssen auf die furchtbare Welt reagieren. Ja sicher, es gibt diesen schönen Kitzel: Ich habe einen Kompositionsauftrag und darf auch noch ein politisch-engagiertes Stück schreiben. Ist doch verworfen, ist doch kaputt! Kommt wieder der alte Heros durch, der Verkünder, der den Leuten sagt, in welch schrecklichen Zeiten sie leben? Streicht einen guten Auftrag ein und kommt auch noch mit einer weißen Weste davon. Das ist doch auch verlogen! (...)

Armin Köhler: Die Sache mit der Wahrheit, Elliott Carter und Georg Katzer…

Elliott Carter: Also Wahrheit … ich weiß nicht, was Wahrheit an sich bedeutet. Ich meine, das Wort „authentisch“ hat für mich mehr Bedeutung als „Wahrheit“. Wir wissen, wenn jemand nicht die Wahrheit sagt, dass er lügt. Aber in dem Augenblick, wo es um Kunst geht, ist es schwer zu sagen, was gemeint ist. Was meint man mit Wahrheit? Dachte man an die antike griechische Skulptur? Also, ich bin sicher, dass kein Grieche so aussah, als er lebte. Also sind es keine wahrheitsgemäßen Darstellungen der Griechen. Was für eine Wahrheit hatten sie? Was ist die Wahrheit? Es sind keine Wörter, die ich verwende oder an die ich denke. Sie haben nicht mehr die Bedeutung, die sie einmal hatten. Wissen Sie, es ist so vage geworden. Eure schreckliche Geschichte mit Hitler ist auch so etwas. Wer könnte sagen, das ist schön? Aber jetzt gibt es einen Film darüber, über die letzten Jahre von Hitler. Ich vermute, die Leute denken, es sei wahr. Ich meine, es ist sehr rätselhaft.

Georg Katzer: Die Sache mit der Wahrheit ist ganz schwierig. Wahrhaftigkeit oder Stringenz sind alles Begriffe, die näher dran sind als Wahrheit oder Logik oder so was. Und wenn es dem Komponisten über diese Wahrhaftigkeit gelingt, zu sich selbst zu kommen und eine wirklich wahrhafte, ich sage jetzt mal „Empfindung“, in Töne zu bringen, kann auf diese Weise Schönheit entstehen. Denn Schönheit ist ja das, was sich erst definiert. Wenn wir von Schönheit sprechen, denken wir immer an den Begriff, den wir davon schon haben. Das, was wir sozusagen abstrahiert haben aus dem Vorhandenen. Wenn ich das aber nachmache, bin ich nicht mehr ich selber, dann bin ich Epigone, bin nicht mehr wahrhaftig. Das heißt also: Schönheit muss sich immer wieder neu definieren in jedem neuen Stück. Nicht, dass ich die Musik immer wieder neu erfinden muss und die Gesetzmäßigkeiten. Aber der Tonfall muss so sein, dass da irgendetwas ist, das mich interessiert, das mich aufhorchen lässt. Und das ist es eben, was ich mit wahrhaftig bezeichne, das Originäre, das Originale. Aber Schönheit? Ich glaube, in dem Moment, wo ich mich bemühe, Musik schön zu schreiben, werde ich so wie … Penderecki, ja, dann werde ich epigonal. (...)

Armin Köhler: Konrad Boehmer, vielleicht können Sie uns helfen. Schönheit?

Konrad Boehmer: Es gibt seit langer Zeit zwei Schönheitsbegriffe. Es gibt den normalen bürgerlichen Schönheitsbegriff, über den Kant übrigens in seinen ästhetischen Schriften schon geschrieben hat. Und es ist ein Begriff, der beruht auf Dingen wie Befriedigung. Darin steckt vielleicht auch ein Stückchen Hedonismus. Alles gar nicht schlimm. Dieser Begriff verwechselt die Wirkung der Anschauung auf ein menschliches Individuum mit der Substanz des Angeschauten. Das ist ein Schönheitsbegriff, mit dem man in der Kunst überhaupt nicht operieren kann, weil man dann ja Werke konzipieren würde aus der Mentalität des Konsumenten heraus. Das geht nicht, denn dann bleibt man wirklich immer hinterm Wall. Es gibt aber diesen anderen Schönheitsbegriff und der ist eigentlich interessanter. Das ist der Schönheitsbegriff, der an den Wahrheitsbegriff gekoppelt ist. Und der taucht ja, soweit ich das weiß, zum ersten Mal in der frühromantischen ästhetischen Philosophie auf, bei Schlegel und Schelling, wo zum ersten Mal die Autonomie des Kunstwerkes philosophisch begründet wird und gesagt wird, dass Kunstproduktionen gewissermaßen eine Fortsetzung des ewig dauernden Schöpfungsprozesses sind. Also dass jedes Kunstwerk dem gesamten Universum etwas Neues hinzufügt und somit die Schöpfung erweitert. Man mag darüber denken, wie man will, aber diese Kunstwerke, die auf solche Weise definierten Kunstwerke, messen sich nicht mehr an schon existierenden Wahrheiten der Mathematik, der Philosophie oder was auch immer, sondern sie setzen neue Wahrheit. Ich glaube, Schelling hat das mal gesagt, dass das Kunstwerk in der Wahrheit sei. Dieses Denken schafft eine Revolution im Schönheitsdenken, also im traditionellen ästhetischen Denken, weil nun plötzlich die Qualität des Kunstwerks sich nicht mehr ausschließlich definiert nach seinem Gebrauchswert, den es für irgendein liebes Publikum hat, sondern sich definiert durch das, was es in Worten jener Philosophen dem Universum hinzufügt. Herr Schelling hat auch von der ersten und der zweiten Wahrheit gesprochen. Und wenn man das sieht, dann merkt man, dass sich hinter modernen Schönheitsbegriffen, in denen das Element des Wahrheitsgehaltes eines Kunstwerks eine bedeutende Rolle spielt, nichts anderes verbirgt als der gesellschaftliche Emanzipationsprozess moderner Kunst seit der Romantik. Was will ich damit sagen?

Dass all diese Begriffe für Publikum oder für Komponisten nicht absolut zu nehmen sind. Dass wir unmöglich einen Schönheitsbegriff oder gar einen Wahrheitsbegriff setzen können, um den dann hinterher voll zu komponieren. Denn dann wären wir konservative Akademiker. Das große Berufsrisiko von Komponisten und von anderen Künstlern ist, dass sie Dinge machen, von denen sie nicht genau wissen, was sie eigentlich sind. Das heißt, dass sie Kinder in die Welt setzen und nicht wissen, wie die sich verhalten werden, wenn sie mal erwachsen werden. Vielleicht wird es einmal so sein, wie Schönberg es sich erträumt hat, dass seine rigorosesten zwölftönigen Streichquartette im Varieté-Theater vorgetragen werden und dass die Tänzerinnen ihre Beine dazu schwingen. Ich habe da überhaupt nichts dagegen, denn der geschichtliche Prozess ist offen.

Mathias Spahlinger: (...) Man hat angefangen zu verstehen, dass es eine schlecht verstandene romantische Kategorie ist, nach dem Ausdruck für Eindruck überhaupt erst zu suchen: Man will etwas Bestimmtes sagen und sucht dafür den adäquaten Ausdruck. Schon das ist falsch. Sondern man experimentiert oder man macht Erfahrungen und arbeitet an neuem Material und dann erkennt man, was eine bestimmte Konstruktionsweise an expressivem Potenzial enthält. Ich finde zum Beispiel die Klaviervariationen von Webern unglaublich expressiv. Aber was daran expressiv ist, das spricht sozusagen die Konstruktion selber aus, kommt da zu Wort und sagt etwas. Da steht eine bestimmte Haltung dahinter. Und wenn man dann noch liest, wie der mit einem Pianisten gearbeitet hat und wie er ihm erklärt hat, wie er die einzelnen Intervalle spielen soll, fast wie Brahms, dann versteht man, warum das expressiv wirkt. Weil das auf eine kondensierte Weise und geronnen in Konstruktionen da drin steckt. Und das war, glaube ich, das Modell: Man schreibt keine Kantate über den Untergang der Welt und sucht nach Ausdrucksmitteln für eine bestimmte Haltung, sondern man sucht ein verändertes Material. Und das veränderte Material transportiert mit einer neuen Haltung eine neue Expressivität.

Armin Köhler: Dieter Schnebel, wie war das denn in den 50er-Jahren?

Dieter Schnebel: Die Frage nach der Schönheit, die war völlig irrelevant. Das ist eigentlich erst in den 80er-Jahren aufgekommen, ich vermute ein bisschen mit diesem Einbruch der Postmoderne und auch der so genannten neuen Einfachheit, das war so um ’75. Ich habe mich eigentlich von Anfang an gesträubt gegen diese Aversion gegen Schönes. Man durfte um Gottes willen nicht sagen, dass etwas schön ist. Ich weiß noch, wie es einmal in einer Diskussion mit Hans Rudolf Zeller um Mahler ging und ich dann sagte, bei Mahler sei doch einfach so und so vieles schlicht schön. „Ja, aber er streicht’s immer durch“, war dann die Erwiderung. Also, ich habe da nie recht mitmachen können.

Vinko Globokar: Was finde ich schön? Man könnte all diese Begriffe, schön, angenehm, interessant und so in einen Topf werfen, sehr viel Pfeffer und sehr viel Essig dazugeben und das Ganze mischen. Das würde ich als sehr schön empfinden. Ich glaube, die Wahrheit für mich ist die Suche nach Wahrheit. Es gibt keine Wahrheit. Das tut mir nun weh. Aber die Suche nach einer gewissen Wahrheit ist das Stimulans. In der Kunst spricht man kaum über Ethik, über das Verhalten, also über die Hintergründe, über Spekulationen oder so etwas. Und deswegen versuche ich, Musik zu schreiben, die davon spricht, was ich als Mensch bin.

Younghi Pagh-Paan: Paul Dessau war in unsere Hochschule eingeladen und ein junger Komponist fragte ihn: „Was ist die Schönheit? Was ist für Sie schöne Musik?“ Dessau antwortete: „Wissen Sie, Blumen sind so schön. Die Frau hat schöne Haare, aber in der Kunst ist es so, dass es stimmen muss.“ Dass man von Musik die Wahrheit erfahren soll, das denke ich nicht. Wer kennt die Wahrheit? Ob das Satie war oder Schönberg? Aber Schönes… Ich habe mich um diese, sagen wir mal Mode, gegen das Schöne zu sein, nie gekümmert, denn das ist mein Vorteil, weil ich nicht zu euch gehöre. (...)

Josef Anton Riedl: Ja, ich kann auch nur immer wieder sagen: Wahr ist das, was man selbst wirklich machen will. Dann ist es wahr oder man kann sich selbst nicht helfen. Aber man lügt nicht, wenn man etwas zu Papier bringt. Es gibt Leute, die schmeicheln dem Veranstalter. Das ist gefährlich. Das Wichtige ist, dass man versucht, sich sozusagen als Künstler aus sich heraus selbst zu finden. Und dann ist es immer wahr. Es gibt keine Notwendigkeit sich zu belügen. Aber es gibt natürlich schon Künstler, die sich sehr stark anderen Richtungen anhängen, weil sie Erfolg haben wollen. (...)

Louis Andriessen: Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn genau zitiere, aber Nietzsche sagte, dass die Kunst wichtiger sei als die Wahrheit. Nun war Nietzsche ja ein sehr seltsamer Mensch und nicht sehr typisch für einen deutschen Philosophen vermutlich. Aber ich glaube, er hatte vollkommen Recht. Ich bin der Meinung, dass die Wahrheit in der Kunst nur etwas zwischen Anführungsstrichen ist. Über Schönheit könnte ich auch einige
Fragen stellen. Aber ich stimme mit Nietzsche grundsätzlich überein. Die Schönheit ist ein Problem, denn es scheint, als ob in der Geschichte die Schönheit auch sehr hässlich sein kann. Also ist da noch ein Paradox. (...) Die eigentliche Definition der Kunst ist die Polyinterpretierbarkeit, die Wandlungsfähigkeit der Idee darüber, und daher sind in diesem Fall Schönheit und Wahrheit gleich. (...)

Die virtuellen Gespräche: Von Armin Köhler

10.4.2006, swr 2
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