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Es darf nicht sein, dass auch nur ein Individuum nicht die Möglichkeit zur permanenten Musikversorgung und Musikausübung bekommt. Foto: Martin Hufner
Es darf nicht sein, dass auch nur ein Individuum nicht die Möglichkeit zur permanenten Musikversorgung und Musikausübung bekommt. Foto: Martin Hufner
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Agenda 2009 – ein Gegenentwurf

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Eine Welt voller Musik löst grassierende Probleme
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In der Juli/Ausgust-Ausgabe 2003 der nmz hatten wir den Versuch unternommen, neben die Schrödersche Agenda-Politik eine solche aus Musiksicht zu stellen. An das heiße Eisen mochte sich damals niemand wagen. Schließlich hat unser unermüdlicher Redaktionsphantast, Reinhard Schulz, einige Visionen zusammengetragen. Die Musikagenda 2009. Was wirklich war, was sich realisierte und was glücklicherweise nicht, lesen Sie als Begrüßung für das Jahr 2010, jetzt und hier. [Ihre nmz-Redaktion und ConBrio Verlag]

Mit der „Agenda 2009“ hat ein führendes Team anerkannter Musiksoziologen am 13. März 2003 ein umfassendes Programm zur Reform des Musikmarkts, zum Umbau der musikalischen Versorgungsdichte und für ein bislang unerhörtes Crescendo vorgelegt. Wir stellen Ihnen im Folgenden die einzelnen Maßnahmen vor, an deren Umsetzung derzeit intensiv gearbeitet wird. Ziel der „Agenda 2009“ ist es, die klangliche Dynamik in Deutschland kurz- und mittelfristig zu stärken, neue Kompositionen, Happenings, Events et cetera zu schaffen und die Kommunikationssysteme zu modernisieren, um das musikalische Leben langfristig zu sichern und die Rezeptionsschwierigkeiten zu senken.

Musikmarkt/Musikrecht

Mit dem fortlaufenden Schwachsinn von Orchesterstellenstreichungen, Mittelkürzungen für Projekte oder gar Liquidierungen von Musiktheatern ist unverzüglich Schluss zu machen. Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass auf solche Art anstellungslos gewordene Musiker sich ungestüm in der freien Musikszene bewegen, was zu schwerwiegenden Ungleichgewichten in der jedem Bürger grundrechtlich verbrieften Versorgung mit Musik führt. Kündigungen im öffentlichen Musikleben sind per Dekret zu untersagen. Realistisch anzustreben ist derzeit ein Hörer-Festmusiker-Freimusiker-Verhältnis von 1:1:1, also auf ein Drittel der Gesamtbevölkerung, das noch nicht den Weg zu aktiver musikalischer Betätigung gefunden hat fällt ein Drittel fest angestellter und ein Drittel freier Musiker. Um dieses Verhältnis weiter zu verbessern (Zielvision muss das rundum musizierende Volk sein), sind Musiker, die ihren Beruf auch unterrichtend ausüben mit allen Mitteln zu unterstützen. Auch an milde handzuhabende Zwangsmaßnahmen ist hier zu denken, etwa die Kürzung des Musiklosengeldes auf ein Jahr, die Erklärung von Nicht-Musik-Ausübenden zu Sozialfällen. Die weiteren Maßnahmen übernimmt ein im Effizienzsinne zu reformierendes Musikamt. Regionen in Deutschland, wo die Zahl der Nicht-Musikausübenden überproportional hoch ist (es sind im wesentlichen Gebiete, in denen noch mittels verkrusteter Denkstrukturen das Primat der Ökonomie über die Kultur postuliert wird) sind öffentlich verstärkt zu unterstützen. Ost-West- oder Nord-Süd-Gefälle sind behutsam aber entschieden abzutragen.

Musikalische Sicherungssysteme

Ergebnisse von lang angelegten Forschungen haben bewiesen, dass Lebenserwartung und Gesundheit in direkt proportionalem Verhältnis zur Lebensmusikleistung stehen. Hier muss auch an den demografischen Faktor gedacht werden. Ein Nachlassen der musikalischen Aktivität im höheren Alter ist radikal zu bekämpfen. Bei der ständig steigenden Lebenserwartung und zugleich bei dem derzeit zu verzeichnenden Rückgang von Geburten ist an eine Verlängerung des aktiven Musizieralters zu denken. Vor allem müssen Maßnahmen, die Personen vor dem gesetzlichen Rentenalter in eine vorgezogene Musizierlosigkeit (aus fadenscheinigen Schalldruckargumenten oder ähnlichem) versetzen, nachhaltig zurückgewiesen werden. Unter diese Unsitte ist unverzüglich ein Schlussstrich zu setzen. Um Zuständen dieser Art oder auch von chronischen Amusikalitäts-Erkrankungen effektiv vorzubeugen, ist auch, ein Präventionsgesetz ins Auge zu fassen. Das Wissenschaftsgremium führte diesbezüglich aus: „Durchsetzen muss sich schließlich die Erkenntnis, dass sich Musikpolitik nicht nur auf die Heilung von unmusikalisch Kranken beschränken darf, sondern dass der Prävention Vorrang eingeräumt werden muss ... Wir sollten uns dabei am Vorbild der skandinavischen Länder orientieren, die durch systematische Förderung musikbewussten Verhaltens wichtige Beiträge zur Kostensenkung im Gesundheitswesen erzielt haben.“ Amusikalität ist nachgewiesenermaßen nicht angeboren, sondern entsteht im Laufe eines kulturlos verbrachten Lebens. Durch Effektive Prävention, schon dreißig Minuten Üben täglich reichen hierfür aus, hat jeder die Chance, den Zustand der trostlosen Amusikalität zu vermeiden oder wenigstens auf lange Zeit hinauszuzögern.

Musikwirtschaft

Die Musikwirtschaft ist gegenwärtig mit knapp 70 Prozent des Bruttosozialprodukts (was in etwa der Prozentzahl der Musikausübenden entspricht) der wesentlichste Sockel der heimischen Gesamtwirtschaft. Alle nur erdenklichen Maßnahmen sind zu ergreifen, um diese Führungsposition zu untermauern, ja zu stärken. Jedes auch nur minimale Einbrechen auf diesem Sektor führt, wie schon einfache rechnerische Eventualitätskalkulationen beweisen, zu schweren bis schwersten Verwerfungen im gesamten wirtschaftlichen Versorgungssektor. Nachhaltig zu stützen und zu fördern ist deshalb das musikalische Handwerk, der Instrumentenbau, das Verlagswesen, die Wissenschaft, die Reproduktionsindustrie, die auf Musikvermittlung spezialisierten Neuen Medien et cetera. Musikalische Existenzgründungen, die Gründung einer Ich-AG und die damit verbundene Suche nach einer musikalischen Idee ist nachdrücklich zu unterstützen.

Gedacht werden muss auch an die mittleren Lagen. Sie führten aufgrund verfehlter Hörpolitik in den letzten Jahrzehnten ein Schattendasein. Diesem Zustand ist ein Ende zu setzen. Gedacht werden kann an Verstärkungssysteme, die vor allem in mittleren Frequenzen wirken, aber auch an direkte Entlastungen der mittleren Lagen etwa von Brillenbässen, Tremolos oder langen Haltenoten, die die musikalische Präsenz zu unterminieren drohen. Der Abbau von bürokratischen Kompositionsstrukturen wäre in diesem Sinne eine wichtige flankierende Maßnahme.

Musikalische Finanzsysteme

Gezielt sind Mittel einzusetzen, die ältere und erprobte Musikwerke, in denen die musikalischen Personen Formen eigener Heimat gefunden haben, effektiv renovieren und modernisieren. Die Kompositionswirtschaft hätte hier ein breites, heute noch viel zu wenig beachtetes Expansionsfeld. Ihrem berechtigten Streben nach ständig neuen klanglichen Mitteln, worauf auch breite Kreise der Bevölkerung nicht verzichten möchten, wäre wirksam zu ergänzen durch Maßnahmen moderner Zurechtrückungen alter und erhaltungswürdiger Substanz. Musikleben ruht auf zwei Sockeln: Aus dem Blick auf das Vergangene formt sich der Blick in die Zukunft. Verlage, die bislang diese erhaltenden Maßnahmen betrieben, sind steuermäßig in großem Umfang zu entlasten. Existenzgründer, die ihr Tun musikkonservatorisch einzusetzen gedenken, sind für die ersten Jahre von sämtlichen Abgaben zu befreien. Dazu soll eine eigene Kreditbank ins Leben gerufen werden, die diese Maßnahmen von Musikverwaltungs- und Musikbewahrungsunternehmungen in Milliardenhöhe entlasten.

Musikalische Bildung, Ausbildung und Klanginnovation

Es versteht sich von selbst, dass diesen Punkten die allerhöchste Priorität zukommt. Wenn man bedenkt, dass in Deutschland immer noch ein Drittel amusischer Personen existiert (mit dieser Zahl liegt Deutschland im hinteren Mittelfeld einer kürzlich über Testreihen erstellten Musikkoeffizienten-Tabelle, was als beschämend gewertet werden muss), dass bei Nachlassen der Aktivitäten diese Zahl sogar wieder anzuwachsen droht, dann ist die Notwendigkeit schleunigst getroffener Maßnahmen offensichtlich. Eine musikalische Ausbildungsoffensive ist zu starten, die von pränataler Bildung (es wäre zum Beispiel an sanfte musikalische Bestrahlungen der Mutterbauches, wenn nicht gar des männlichen Gliedes vor der Zeugung zu denken) über frühkindliche Bildungsaktivitäten (hier kann das Prinzip einer dann im Unterbewussten gespeicherten Überforderung des kindlichen Hörers durch exzessive avantgardistische Musik durchaus ins Auge oder ins Ohr gefasst werden), Schule, Universität, musikalische Fortbildungsmaßnahmen während des Berufslebens (im Idealfall ein Musikberuf) bis hin zu musikalischen Events und Aktionen in Seniorenheimen und sogar zur stimmungsvollen musikalischen Ausstattung des Sterbezimmers reicht. Ziel ist musikalische Flächendeckung. Es darf im Sinne eines gedeihenden Gesamtsystems nicht sein, dass auch nur ein Individuum der Gesellschaft nicht die Möglichkeit zur permanenten Musikversorgung, Musikunterstützung, Musikausübung bekommt. Die Maßnahmen, die in der „Agenda 2009“ vorgeschlagen werden, sind unverzüglich zu ergreifen und in die Tat umzusetzen. Denn nur ein umfassend verwirklichter Musikstaat kann letztlich den Fortbestand und das Gedeihen unserer Existenz sichern.

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