Länger könnten die Beine nicht sein und die Absätze nicht höher. Acht junge Damen schreiten über den Catwalk. Da glitzern Roben ganzkörperlich in Gold und bauscht sich der Tüll, Wespentaillen und Culs de Paris treiben die weibliche Silhouette ins Absurde, wispernde Seide trifft auf T-Shirt-Stoff und Jeans mit Löchern. Die Gesichtszüge der Models verlieren sich hinter weißer Theaterschminke und Clownsmündern, darüber türmen sich die toupierten, knallrot oder orange gefärbten Haare.
Nein, dies ist keine der gängigen Modenschauen in Paris oder London, dies ist Hannover, genauer die Galerie der prachtvollen barocken Herrenhäuser Gärten, und die Musik ist nicht zufällig von Georg Friedrich Händel.
Das Defilee mit Haute Couture von Vivienne Westwood, der ebenso schrägen wie entschieden politischen britischen Designerin, gehört zu „Semele Walk“, einer Inszenierung von Ludger Engels nach Händels Oratorium „Semele“. Engels überspringt die Jahrhunderte und konfrontiert die fiebrig-exaltierte Gedankenwelt des Barock mit der rebellischen des Punk.
Mit der Produktion haben die diesjährigen Kunstfestspiele Herrenhausen eröffnet. „Entfesselte Welten“ hat die Intendantin Elisabeth Schweeger das Festival überschrieben. Das handverlesene Programm reichte von Barockarien mit der Sopranistin Patricia Petibon über Mahlerlieder mit der Musicbanda Franui und Stummfilmkonzerte bis zu Jan Müller-Wielands fast druckfrischem Melodram „Der Knacks“. Darum rankten sich Vorträge, Performances und Installationen.
Die Theaterfrau Schweeger ist der deutschen Öffentlichkeit noch in Erinnerung aus den Jahren, in denen sie das Schauspiel Frankfurt aufmischte. Man glaubte ihr sofort, dass sie in Herrenhausen Grenzen überschreiten wollte, Stile und Aussagen konfrontieren, das Publikum nicht nur unterhalten, sondern auch zum Nachdenken bringen. Nur blieb nach dem Eröffnungsabend der leise Zweifel, ob ein Umfeld wie das perfekt restaurierte Herrenhausen dafür das nötige Fluidum bietet.
Dass es bei den „Entfesselten Welten“ nicht nur ums Hören ging, sondern auch ums Sehen, das wurde beim „Semele Walk“ deutlich. Engels hat aus dem Mythos, wie Händel ihn vertont hat, den tragischen Konflikt Jupiters herausdestilliert: Jupiters Geliebte Semele begehrt Unsterblichkeit von ihm und zwingt ihn damit unwissentlich, sie mit seinen Strahlen zu verbrennen. Dafür hat Engels die Partitur von gut drei Stunden auf etwa 80 Minuten Spieldauer gekürzt. Von den ursprünglich Beteiligten ist nur Semele geblieben, alle anderen verschmolzen in der Figur des „In-Between“.
Der Regisseur scheuchte seine Protagonisten kreuz und quer durch den Raum: Sie verfolgten einander im Streit, fielen lang zu Boden oder den Musikern zu Füßen. Die Sopranistin Aleksandra Zamojska stöckelte im Westwood-Look den Models nach wie unerreichbaren Idolen, sie sang In-Between an, schrie und forderte. Und der Countertenor Armin Gramer verkörperte als In-Between mal den Jupiter, der seine Semele zu besänftigen suchte, aber auch gerne eins der Models im Vorbeigehen begrapschte – und mal warnte er Semele als besorgter Freund.
Stimmlich bewältigten Zamojska und Gramer ihre Parforcetour mit Anstand, wenn auch nicht mit allerletzter Leichtigkeit. Was ihnen an Schmelz und mitunter an Abstimmung mit dem Dirigenten Olof Boman und dem Orchester fehlte, machten sie aber wett mit der Intensität ihres Spiels. Und die Models taten unerschütterlich ihre abgezirkelten Schritte, als wollten sie sich von all den kochenden Gefühlen distanzieren.
Von solchem Furor war die Eröffnungsveranstaltung weit entfernt. Der Soziologe Lord Anthony Giddens, ehedem Direktor der ehrwürdigen London School of Economics, von dessen Buch „Runaway World“ das Festivalmotto entlehnt ist, sprach in seiner Rede lauter Wahrheiten zum Klimawandel aus. Nur keine unbequemen: Giddens benannte keinerlei Einschränkungen, die die Anwesenden selbst treffen könnten, wenn es ernst würde mit dem Klimaschutz. Freundlicher Beifall.
An der Musik lag es nicht, dass diesem Abend die Widerhaken fehlten. Das Berliner Solistenensemble Kaleidoskop changierte lustvoll zwischen den Epochen: Die Musiker spielten in aller Darmsaitenklangpracht auf und funktionierten die Theorbe dann per Tonabnehmer in einen E-Bass um. Sie schmiegten sich an Semeles Lamenti und kippten im nächsten Moment über einen liegengebliebenen Schlusston in eine Improvisation in bester Jimi-Hendrix-Manier mit jaulenden Rückkopplungen. Sie staksten im Punkdress spielend um die Sänger herum, die Geigerin Daniella Strasfogel hauchte gar den 80er-Jahre-Hit „Sweet Dreams are made of this“ der britischen Popgruppe Eurythmics ins Mikro. Und der Norddeutsche Figuralchor kommentierte das Geschehen stilsicher und mit beeindruckend klarem Stimmklang. Dass Engels die Sänger im Publikum verteilt hatte, schien ihnen nichts auszumachen.
Überhaupt spielte der Raum seine ganz eigene Rolle. Abmessungen von 67 Metern Länge und nur 11 Metern Breite sind ein Albtraum für jeden Regisseur, doch Engels machte daraus eine Tugend. Er legte einen weißen Teppich von einem Ende zum anderen, und fertig war der Laufsteg – und damit auch das Menetekel. Die Galerie, üppig ausgemalt und dekoriert, ist so schön wie die ganze Herrenhäuser Anlage. Unter Marketingaspekten kann sich die Stadt nur gratulieren zu den Kunstfestspielen. Doch vielleicht taugt zuviel Schönheit nicht als Rahmen für aufrüttelnde Kunst, vielleicht braucht sie eine rauere Oberfläche. Am Hannoveraner Premierenpublikum jedenfalls perlte die kritische Auseinandersetzung mit Hedonismus, Schönheits- und Jugendwahn offenbar ab. Freundlicher Beifall auch hier; ein intelligent gemachtes, unterhaltsames Spektakel ist ja auch schon etwas. Mühelos hielt es den Spannungsbogen, bis hin zu Semeles verhängnisvollem Credo „I’ll take no less, than all in full excess“ und dem tödlich gleißenden Licht der Schlussszene. Was Semeles Scheitern an der eigenen Hybris mit dem heutigen Publikum, mit uns zu tun hat? Das kriegen wir ein andermal. Hoffentlich.