Der Begriff Persönlichkeit, so befand Theodor W. Adorno schon 1966 in seiner „Glosse über Persönlichkeit“, ist nicht mehr zu retten. Ursprünglich als Abstraktum formuliert, in dem der Begriff der Menschheit als Ideal mitschwingt, wurde er auf Individuen übertragen, die nun nicht mehr Persönlichkeit haben, sondern angeblich unmittelbar sind. Damit wird der Begriff aber gründlich entwertet: Die starken, mächtigen, gewieften, erfolgreichen „Persönlichkeiten“ haben in der Regel nichts mehr mit dem Gebildeten im Sinne Humboldts zu tun, dessen Aufgabe es noch war, ‚soviel Welt als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden’. Die Flexiblen, Dynamischen, Belastbaren, Teamfähigen, die gleichzeitig ein vorbildliches Familienleben führen, womöglich Kammermusik betreiben oder mindestens ein Konzertabonnement besitzen, und dabei in aller Welt präsent sind und die Konkurrenz kreativ an die Wand und in die Knie drücken – wie immer man sie nennen mag: „Persönlichkeiten“ im humboldtschen Sinne sind sie in der Regel nicht, eher noch deren Karikaturen.
Angesichts einer solchen Diagnose muss es Aufmerksamkeit erregen, wenn die „Initiative ,Bildung der Persönlichkeit’“ unter der Schirmherrschaft der Konrad-Adenauer-Stiftung eine „Renaissance der Persönlichkeitsbildung“ fordert, und zu diesem Zweck eine „Bildungsoffensive durch Neuorientierung des Musikunterrichts“ startet. Man muss sich fragen, welchen Beitrag denn ausgerechnet der Musikunterricht zu einem solchen Vorhaben leisten soll, hat doch die Musikpädagogik genug damit zu tun, ganz elementare Begriffe wie diejenigen des Musiklernens oder der musikalischen Erfahrung zu klären, oder deren Vorkommen beziehungsweise Nicht-Vorkommen in der Praxis des Musikunterrichts empirisch zu untersuchen, ohne dass damit die Stratosphärenhöhe der „Persönlichkeitsbildung“ überhaupt schon berührt wäre. Wer sich nun vom Papier der Adenauer-Stiftung eine Klärung dieser Fragen erwartet hätte, sieht sich leider enttäuscht. Was der Leser vorfindet, ist vielmehr ein Konglomerat unterschiedlichster Begriffs- und Theoriebestände, zusammengefügt mit einer verheerenden Logik. Keinem Studenten im Grundstudium würde man einen solch schlampig formulierten Text als Seminararbeit durchgehen lassen, und die kläglichen Wortspiele („,Outfit’ statt ‚Input’ ist aber zu wenig“, S.12) machen das Ganze auch nicht gerade ertragreicher.
Sinnvoller als die Auseinandersetzung mit den im Papier vorgebrachten Pseudoargumenten ist dagegen ein Blick auf das Schwert, das als Waffe für die „Bildungsoffensive“ (,Offensive’, laut Duden ursprünglich „planmäßiger Angriff einer Heeresgruppe“) geschmiedet wurde: Der musikalische Bildungskanon. In diesem, so die im Übrigen anonymen Autoren, sollen „typische, exemplarische und überzeitliche Werke“ (S.12) versammelt werden, durch deren Kenntnis „kulturelle Identität und Kommunikation“ (ebd.), in der verquasten Terminologie des Papiers mithin „Bildung der Persönlichkeit“, überhaupt erst möglich sein sollen. Die – um im militärischen Jargon zu bleiben – musikpädagogische Frontlinie ist dabei klar gezogen: Der Feind steht überall dort, wo nicht „zur Geschmacksbildung beigetragen wird“ (S.4), was hier heißt: „anspruchsvolle und anspruchslose Musik“ unterscheiden zu lernen (ebd.). Weiterhin ist er dort zu vermuten, wo es primär um formale Bildung geht, also um die Fähigkeiten, die Individuen durch die Auseinandersetzung mit vielfältigen Musik(en) erwerben – obwohl diese, vor allem auch fachübergreifende Fähigkeiten und Transfereffekte, natürlich rhetorisch auch gleich großzügig mit einkassiert werden. Und schließlich steht der Feind vor allem dort, wo die subjektiven Schülerinteressen zu vermuten sind; die Idee, dass es sich beim Verhältnis von „objektiver Analyse“ und „subjektivem Musikempfinden“ (S.4) nicht um ein schiedlich-friedliches Komplementärverhältnis (ebd.), sondern um eine dialektische Spannung handeln könnte, kommt den Autoren erst gar nicht.
Stattdessen findet sich im vorgeschlagenen Kanon fast alles wieder, was im Unterricht an Musikwerken angeblich sowieso schon „geht“, vom „Zauberlehrling“ über die „Moldau“ bis hin zum „Continuum“, ohne dass die Exemplarizität der Werke oder gar ihre Bildungsrelevanz offensichtlich noch einer besonderen Begründung bedürfte. Dass für die vor-barocke Musik ebenso wie im Bereich Pop und Jazz gar keine „Werke“ genannt werden, sondern Komponisten beziehungsweise Interpreten, sei dabei als Kuriosum nur am Rande erwähnt; in einem konsequenten Werk-Kanon hätten all diese Musiken gar nichts zu suchen.
Der Versuchung, sich über solche Kanons lustig zu machen, ist natürlich schwer zu widerstehen: Dass A. Lloyd-Webber zu den kanonischen Komponisten der „E-Musik“ des 20. Jahrhunderts zählen soll, ist sicher ebenso drollig, wie die Zuordnung des im Übrigen unschätzbaren H. Mancini zur Kategorie „Jazz“. Und was ausgerechnet die Scorpions zur Persönlichkeitsbildung beitragen sollten, wird vermutlich auf ewig das Geheimnis der Autoren bleiben. Weitaus weniger zur Erheiterung des Lesers trägt jedoch eine andere Konstruktion bei: Der Kanon ist, wie die Autoren formulieren, „schulformspezifisch differenziert; er gilt in Gänze für das Gymnasium inklusive Oberstufe“ (S. 12). Für die Hauptschule ist lediglich ein „Basiskanon“ vorgesehen, der für die Realschule bestimmte „Ergänzungen“ erfährt. Damit ist die Katze aus dem Sack. Ganz abgesehen davon, dass ein „offener Kanon“ (S.12) wohl einem hölzernen Eisen gleicht: Der Anspruch des Papiers, mittels eines Kanons „kulturelle Identität und Kommunikation“ herzustellen, führt sich selbst ad absurdum, wenn diese Identität schulform-, und damit wohl in Deutschland nach wie vor auch schichtenspezifisch differenziert ist; und Kommunikation – worüber und warum eigentlich? – ist dann idealiter zwischen einem Hauptschüler, der musikalisches „Grundwissen und Fachterminologie“ (S.12) anhand der „West Side Story“, Reichs „Drumming“ und Metallica erworben hat, und einem Gymnasiasten, dessen „Persönlichkeit“ durch Pendereckis „Lukaspassion“, Riehms „Erscheinung“ und J. Cocker geschult wurde, nur noch sehr eingeschränkt möglich.
Was, so muss gefragt werden, ist das eigentlich für eine „Persönlichkeit“, die an einem solchen Kanon entwickelt werden soll? Die Antwort fällt nicht schwer. Es ist, schlicht gesagt, der typische Schwanitz-Bildungsbürger, der über Perotin, Monteverdi und Hindemith ebenso versiert wie oberflächlich unter seinesgleichen zu parlieren versteht, wie über Pärt, Ch. Parker und B. Dylan, ohne dass dabei natürlich die Geschäfte irgendwie gestört würden. Die bedauernswerten Hauptschüler müssen – offensichtlich wohl aufgrund nicht nur zeitlicher, sondern auch intellektueller Beschränkungen – mit Charpentier, Vivaldi, Elvis und Glenn Miller vorlieb nehmen. Dies ist nicht nur grotesk, sondern vor allem auch ärgerlich, bedenkt man, wie schamlos sich die Autoren dabei im Begriffsarsenal ganz anders begründeter und wesentlich gehaltvollerer musikpädagogischer Theorien bedienen, um mit Scheinargumenten einen Ansatz zur „Neuorientierung (!) des Musikunterrichts“ propagieren, der gesellschafts- und kulturpolitisch, musikwissenschaftlich und musikpädagogisch nicht anders als reaktionär zu bezeichnen ist – denn wer wollte etwa der im Papier erhobenen Forderung widersprechen, dass die Rahmenbedingungen für musikalische Bildung verbessert werden müssen (S. 5)?
Am Begriff Persönlichkeit, so noch einmal Adorno, ist jedoch selbst im Zeitalter seiner Liquidation etwas zu bewahren, nämlich „die Kraft des Einzelnen, nicht dem blind über ihn Ergehenden sich anzuvertrauen, ebenso blind ihm sich gleichzumachen“. In diesem Sinne verstanden sei allen Bildungspolitikern und Musikpädagogen gewünscht, sie seien angesichts solcher Zumutungen musikpädagogischer Restauration Persönlichkeit genug, sich ebenso zu verhalten, wie in dem von Adorno zitierten Hölderlin-Satz gefordert: „Drum, so wandle nur wehrlos/ Fort durchs Leben, und fürchte nichts!“.