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Von Bach bis Zimmermann, von Beethoven bis Nono: Für den Dirigenten Michael Gielen ist die Geschichte der Musik unteilbar. Foto: Charlotte Oswald
Von Bach bis Zimmermann, von Beethoven bis Nono: Für den Dirigenten Michael Gielen ist die Geschichte der Musik unteilbar. Foto: Charlotte Oswald
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Michael Gielen erhält den Ernst von Siemens-Musikpreis
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Was lange währt, wird endlich …: Der Dirigent und Komponist Michael Gielen erhält den Musikpreis der Internationalen Ernst von Siemens Musikstiftung für 2010. Als vor zwei Jahren einer zwar bekannten, gleichwohl etwas konfektionierten Geigerin der Preis zugesprochen wurde, fragte die neue musikzeitung irritiert nach den Kriterien für die Preisvergabe. Dass Michael Gielen damals schon seit langem der Jury des Musikpreises nicht preiswürdig erschien, mutete, vorsichtig gesagt, seltsam an. Aber man lernt ja nie aus, auch als Juror nicht. Immerhin sitzen mehrere renommierte Komponisten in der Jury des Siemens-Preises. Vielleicht hatten sie sich ja inzwischen etwas genauer informiert, was Michael Gielen für die Musik, für die Neue Musik vor allem, die doch für den Siemens-Preis irgendwie im Zentrum der Kriterien für die Preisvergabe steht, geleistet hat.

Michael Gielen eilte zeitlebens der Ruf eines Spezialisten für Neue Musik voraus. Das verwirrte sogar noch den Frankfurter Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann, als ihm einige kritische Berater Gielen als Nachfolger des erfolgreichen Operndirektors und Chefdirigenten Christoph von Dohnányi vorschlugen. Michael Gielen hatte zu diesem Zeitpunkt anno 1977 bereits als Chefdirigent an der Königlichen Oper Stockholm von 1960 bis 1965 gewirkt, von 1973 bis 1975 in gleicher Position an der Niederländischen Oper Amsterdam. In den frühen sechziger Jahren zeigte sich Michael Gielen bei den Festspielen in Aix-en-Provence in der Nachfolge des Dirigenten Hans Rosbaud als genuiner Mozart-Interpret: „Figaro“, „Così fan tutte“, „Zauberflöte“ – das waren lange vor Nikolaus Harnoncourt beredte, spirituelle, klangsinnliche Aufführungen.

Eine Großtat Gielens fiel in die sechziger Jahre: Die Uraufführung von Bernd Alois Zimmermanns Oper „Soldaten“ an der Kölner Oper. Bis dahin galt das Werk als unaufführbar. Wer der Premiere beiwohnen durfte, begeistert sich noch heute über die Souveränität, mit der Gielen die ungewöhnlichen Schwierigkeiten des Werkes in die praktische Wirklichkeit überführte. Die Aufführung von Zimmermanns „Soldaten“ war eines der wichtigsten Ereignisse in der modernen Musikgeschichte.

Michael Gielens Engagement an die Oper Frankfurt, von Hilmar Hoffmann engagiert organisiert, brachte für den Dirigenten Gielen die, wie er selbst oft sagte, wichtigste Phase seiner Karriere. In den zehn Frankfurter Jahren, von 1978 bis 1988, formulierten Gielen und seine Mitstreiter, die Dramaturgen Klaus Zehelein und der hoch gebildete Christoph Bitter, eine Ästhetik des modernen Opern-Theaters, die seither in vielen mehr oder minder qualifizierten Nachfolgern, man könnte auch sagen: Nachahmern eine Fortsetzung gefunden hat. Klaus Zeheleins grandiose Stuttgarter Opernära wäre ohne dessen Frankfurter Erfahrungen so nicht möglich gewesen.

Die Regisseure, die Gielen und Zehelein in Frankfurt versammelten, gleichen einem Gotha des Regietheaters: Ruth Berghaus, Hans Neuenfels, Jürgen Flimm, Harry Kupfer, Alfred Kirchner, Volker Schlöndorff, um die Wichtigsten zu nennen. Der „Berghaus-Ring“, der „Berghaus-Parsifal“, Flimms Bildvisionen zu Nonos „Al gran sole“, Neuenfels’ spektakuläre „Aida“ oder, noch wichtiger, dessen geniale Adaption von Schrekers „Die Gezeichneten“, das waren Maßstäbe setzende Interpretationen. Nach seiner Frankfurter Zeit verpflichtete sich Michael Gielen für zehn Jahre beim Radio-Sinfonieorchester des Südwestrundfunks als dessen Chefdirigent. In dieser Funktion war er vor allem für die Donaueschinger Musiktage zuständig. In einem späteren Interview bekannte Gielen sehr offen, dass ihn in den zehn Jahren Donaueschingen nur wenige Werke wirklich interessiert hätten. Da müsste man jetzt in eine ernsthafte Diskussion eintreten. Ein Mann wie Gielen, mit einem sehr ernsten, auch belastenden historischen Hintergrund (Emigration vor den Nationalsozialisten nach Buenos Aires), hat sicher eine intensivere existentielle Beziehung zur Musik als jüngere Komponisten. Diese existentielle Bedrängung, das „Utopische“ in der Musik mag man in jüngeren Kreationen vermissen. Gleichwohl sind Gielen in seinen Donaueschinger Jahren grandiose Uraufführungen, etwa von Matthias Spahlinger oder Dieter Schnebel gelungen.

Bei allem Engagement für die Neue Musik hat Michael Gielen nie die Geschichte der Musik aus dem Blick verloren. Einen Unterschied zwischen Alter Musik und Neuer Musik hat es für ihn nie gegeben. Gielens Mahler- und Bruckner-Zyklen, seine Beethoven-Interpretationen zählen zu den wichtigsten Beiträgen der Gegenwart überhaupt. Mit diesen Auseinandersetzungen wuchs auch das Orchester des Südwestrundfunks zu einem Spitzeninstrument, das sich nicht nur wendig in den Vertracktheiten avantgardistischer Partituren zurechtfindet, sondern darüber hinaus zu einem integrativen Musizierstil gefunden hat, der für die Darstellung der großen Sinfonik in Klassik und Romantik unabdingbar ist.

Gielen stand dieser Sinfonik aber nie besonders ehrfürchtig gegenüber. Der philharmonische „Ton“ war ihm verdächtig, übertönte eher die Wahrhaftigkeit der Werke als dass er diese erhellte. In seiner Frankfurter Zeit kreuzte er einmal Beethovens Neunte mit Schönbergs „Überlebendem aus Warschau“, nicht im freundlich-nachdenklichen Nebeneinander, sondern im harten Verschnitt: Freunde, nicht diese Töne, lasst uns freudenvollere vernehmen – und dann Schönberg. Die „Freude“ wurde nachgeliefert. So befreit man einen vom Komponisten selbst sehr ernst gemeinten Appell von der eingeschliffenen gesellschaftlichen Erbauungshaltung.

Wenn Michael Gielen in diesem Jahr den Ernst von Siemens Musikpreis empfängt, so darf man das zugleich auch als einen Akt kulturpolitischen Widerspruchs sehen. In einer Zeit zunehmender Verflachung der ästhetischen Inhalte, der geistlosen Unterhaltung, des Event-Primitivismus wirkt die Ehrung Michael Gielens wie ein Protest gegen die allgemeinen Tendenzen. Das hat wohl auch die Jury des Ernst von Siemens Musikpreises so gesehen. Ihre Entscheidung für Michael Gielen ehrt zugleich auch sie selbst.

Nachwort: Der Siemens Musikpreis wird abwechselnd einem Interpreten und einem Komponisten verliehen. Diesmal ist der Interpret an der Reihe. Michael Gielen hat aber auch ein zwar kleines, aber gewichtiges kompositorisches Werk aufzuweisen. Das Orchesterstück „Einige Schwierigkeiten bei der Überwindung der Angst“, die Melodramen und Zwischenspiele nach Texten von Hans Arp unter dem Titel „Die Glocken sind auf falscher Spur“, das „Mitbestimmungsmodell für Orchestermusiker und Dirigenten“, ein großartiges Streichquartett oder die orchestrale „Verräumlichung“ von Beethovens „Großer Fuge“ zeigen, dass der Komponist Gielen dem Dirigenten Gielen gleichsam die ästhetischen Vorlagen zuspielt. Man sollte die Verleihung des Siemens Musikpreises zum Anlass nehmen, etwas intensiver auf Michael Gielens kompositorisches Schaffen zu verweisen.
 

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