Werner Trockel kann auf eine erfolgreiche Karriere als Pharmazeut und Apotheker zurückblicken. Seit er seine berufliche Tätigkeit beendet hat, widmet er sich noch intensiver einer Leidenschaft, die ihn sein ganzes leben lang begleitete: der Musik. Mit zehn hatte er die ersten Klavierstunden, später lernte er Gitarre spielen. Obwohl Kriegswirren und später berufliche Belastung einer kontinuierlichen Ausbildung im Wege standen, blieb Trockel seiner Liebe zum Klavierspiel stets treu. Und er suchte neue Betätigungsfelder im musischen Bereich: Von 1974 an wirkte er an der Entwicklung der „Homburger Meisterkurse“ mit. Seit dieser Zeit hat er viele Künstler kennen gelernt und bekam Einblick in den „Markt“. Seit etwa zwölf Jahren organisiert Werner Trockel für die Bundesapothekerkammer Konzerta-bende in Davos, Meran, Sylt und Mallorca. Seit etwa acht Jahren stiftet die Bundesapothekerkammer Sonderpreise für erste Preisträger im Bundeswettbewerb von „Jugend musiziert“. Für die neue musikzeitung besuchte Werner Trockel zwei Musikhochschulen, um dort am Klavierunterricht von Professoren teilzunehmen. Uns interessierte der Blick des Laien und Amateurs auf das Tun der Profis. Das Resultat seiner „Feldforschungen“ stellt die nmz im Rahmen des Dossiers „Amateure, Liebhaber und Kenner“ hiermit ihren Lesern vor.
Meine erste Station ist Saarbrücken. Die Hochschule für Musik und Theater liegt zwischen dem Staatstheater und der Modernen Galerie an den Saarwiesen, die in diesem Bereich parkartig angelegt sind. Eine schöne Lage am Fluss und in der Nähe der Altstadt. Ich betrete einen modernen Zweckbau aus den 60er-Jahren. Musik schallt aus allen Räumen. Das Gebäude umschließt einen lauschigen Innenhof. Da er an den Konzertsaal grenzt, dient er bei gutem Wetter auch als Foyer. Die Hochschule ist mit etwa 300 Studenten möglicherweise eine kleines Institut, aber sicherlich im Reigen der anderen Hochschulen nicht unbedeutend. Da ich hier von Klaviermusik spreche, sei erwähnt, dass Walter Gieseking hier in den 50er-Jahren als Klavierlehrer tätig war und seit damals der Schule ein Ruf vorausgeht, der bis heute aufrecht erhalten werden konnte.
Ich bin verabredet mit Professor Robert Leonardy. Ein kleiner Unterrichtsraum, schallgedämmt, zwei Steinway-Flügel nebeneinander. Ich treffe dort eine junge Dame an. Sie kommt aus Russland. Nach zwei Jahren Grundstudium in Moskau setzt sie nun ihre Ausbildung mit dem Aufbaustudium in Saarbrücken fort. Professor Leonardy tritt ein und es geht gleich zur Sache, denn die Stunde ist auf 60 Minuten begrenzt. Sie möchte den ersten Satz aus dem Klavierkonzert Nr. 4 G-Dur von Beethoven vorspielen und legt dem Professor den Klavierauszug des Orchesterparts auf den Flügel. Los geht’s.
Wer sich mit den Klavierkonzerten Beethovens etwas auskennt, weiß, dass das G-Dur Konzert mit einem Klavier-Solo über fünf Takte beginnt; diese ersten fünf Takte müssen sauber und musikalisch überzeugend kommen, sonst ist der gute Eindruck schon hin. Die Pianistin setzt sich, spielt die fünf Takte und wird sogleich von Leonardy unterbrochen, weil der kleine Lauf der rechten Hand nicht ganz sauber ist, das C ist nicht klar zu hören. Es werden auch die Bindungen in dieser kurzen Passage ausgiebig besprochen. Dann geht es weiter mit dem Einsatz des Klaviers nach dem Orchestervorspiel. Leonardy hat etwas an der Artikulation auszusetzen. Und weiter geht es durch das schwierige Konzert. Es ist ein Unterschied, ob ich im Konzertsaal sitze und höre, wie ein Pianist mit Leichtigkeit und Sensibilität die schweren Passagen spielt oder ob ich aus der Entfernung von zwei Metern sehe, welch komplizierte Gedanken der Komponist hier in die Noten geschrieben hat. An einer Stelle ergibt sich die Frage nach piano oder forte. Eine Orchesterpartitur wird herbeigeschafft und das Problem ist gelöst.
Beim zweiten Thema, welches vom Soloinstrument in der oberen Lage gespielt wird und mit Pianissimo espressivo bezeichnet ist, spielt die Pianistin sehr leise. Leonardy: „Nicht zu leise spielen. Auch in der 15. Reihe muss man noch genau hören was Sie spielen. Das Orchester spielt piano, also muss mit einem gewissen Druck ein sanfter, aber durchdringender Pianissimo-Ton erzeugt werden.“
Ich hatte nicht gedacht, dass auf einer Hochschule bei einem fortgeschrittenen Schüler so intensiv auf die technischen Probleme eingegangen wird. Leonardy weist die Schülerin bei schwierigen Stellen auf technische Übungen hin, die er ihr jeweils vorspielt. Leonardy geht dann auf den musikalischen Gehalt dieses Konzerts ein. Er weist ausdrücklich darauf hin, dass das G-Dur Konzert ein lyrisches Stück ist, wobei trotz der technischen Schwierigkeiten die musikalisch sensible Darstellung im Vordergrund steht. Das Konzert muss leicht klingen, obwohl es außerordentlich kompliziert zu spielen ist.
Erstaunlich für mich, wie schnell die Korrekturen von der Schülerin verstanden und umgesetzt werden. 60 Minuten sind nicht viel Zeit für ein so umfangreiches Werk. In der kommenden Woche ist die nächste Stunde für die junge Studentin aus Russland. Reicht die kurze Zeitspanne, um das Stück fehlerfrei vortragen zu können?
Die nächste Studentin ist eine junge Asiatin, die wöchentlich aus Paris kommt, um bei Leonardy eine Stunde zu nehmen. Sie studiert schon seit mehreren Jahren und verfügt über eine hervorragende Technik. Leonardy fordert sie auf, an Wettbewerben teilzunehmen, Erfahrungen zu sammeln und um sich selbst am Können der anderen messen zu können. Sie spielt zunächst den ersten Satz der h-Moll Sonate von Chopin komplett durch. Was mich erstaunt: sie hat kleine Hände, spielt aber gleichwohl die schwierigen Passagen mit großer Bravour auch dort, wo eigentlich große Hände erforderlich sind, ist sie in der Lage, durch entsprechend geschicktes Verhalten die Schwierigkeiten zu meistern. Sodann folgte das Scherzo, welches die Schülerin sehr schnell und, wie Leonardy anmerkte, etwas unstrukturiert spielte. Die Läufe waren ihm zu virtuos dargestellt und wurden von ihm auseinandergenommen. Die Struktur des Stückes wurde diskutiert und es ergab sich nach diesem „Eingriff“ eine musikalische Gestalt der Komposition, die ganz anders war als die erste Fassung der Studentin. Das Finale war zu seiner Zufriedenheit dargestellt, nur der Schluss müsste etwas schlüssiger sein. Leonardy demonstriert am Flügel.
Die dritte Schülerin ist wieder eine Russin aus Petersburg. Sie ist im dritten Semester in Saarbrücken, hatte allerdings schon eine gewisse Ausbildung in Petersburg. Sie will den Abschluss als Schulmusikerin machen.
Auf dem Programm steht heute zunächst die Beethoven-Sonate E-Dur op.14. Sie spielt den ersten Satz vor, der dann musikalisch und technisch ausgiebig kritisiert wird. Ich denke, dies ist eine Sonate, die technisch nicht so aufwendig ist, die aber musikalisch nicht unproblematisch ist. Wenn man diese Sonate mal so „etwas durchspielt“, wirkt sie zunächst spröde und erschließt sich nur langsam. Dies kommt auch hier zum Ausdruck. Im ersten Satz ist eine Kantilene in Oktaven, die von der Schülerin erst nach dem Eingriff von Leonardy gebunden wird. Dadurch bekommt diese Passage eine andere Wirkung. So oder ähnlich gab es mehrere Stellen im ersten Satz. Leonardy half auch über technische Hürden, indem er Möglichkeiten zum Üben demonstrierte. In der nächsten Unterrichtsstunde soll die Sonate noch einmal vorgespielt werden. Es folgt die Etüde op. 10 Nr. 3 von Chopin, die von der Schülerin für mein Empfinden überraschend locker vorgetragen wird. Allerdings sind die con bravura zu spielenden Sexten im Mittelteil der Etüde nicht so, wie man es hätte erwarten können. Leonardy erklärt die Möglichkeiten, die- se schwierige Passage zu üben. Er schlägt vor, bei diesen Sexten die obere und untere Stimme einzeln zu üben – also einmal nur fünfter und vierter Finger und die unteren Töne der Sexten mit erstem und zweitem Finger. Auf diese Weise entsteht Sicherheit und die Hand weiß genau, wohin sie soll. u
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u Im Anschluss an die Unterrichtsstunden habe ich noch ein kleines Gespräch mit Leonardy. Hat der Lehrer so großen Einfluss auf das Interpretationsverhalten des Schülers, dass dieser quasi etwas nachspielt? Professor Leonardy legt seinen Unterricht so an, dass die eigenen Überlegungen des Schülers erhalten bleiben und von ihm nur der musikalische Gedanke und die Struktur des jeweiligen Werkes erklärt werden. Er will auf jeden Fall vermeiden, dass nachgespielt wird. Der Schüler soll spielen, was in den Noten steht. Er weist darauf hin, was man technisch machen kann, und sagt dem Studenten, dass man diese oder jene Stelle etwas leiser, lauter, schneller oder langsamer nehmen sollte, aber er besteht nicht darauf.
Mich interessiert, ob Leonardy es für richtig hält, wenn ein Schüler im Laufe seiner Studien den Lehrer wechselt. Er befürwortet einen solchen Wechsel, da der Student nur so die unterschiedlichen Sichtweisen und Interpretationen lernen kann.
Mein nächster Besuch gilt der Staatlichen Hochschule für Musik in Karlsruhe. Ich bin verabredet mit Professor MichaelUhde, der hier Klavier und Kammermusik unterrichtet. Wir treffen uns im Schloss Gottesaue. Dort ist die Musikhochschule mit ihren Dozenten und Studenten zum großen Teil untergebracht. Ein beeindruckendes Gebäude, dieses Schloss. Nicht allzu weit von der Innenstadt von Karlsruhe entfernt. Ein Schloss, welches eine wechselvolle Geschichte erlebt hat. Die Anfänge liegen im Jahre 1588. Im Laufe der vielen Jahre gab es durch-aus unterschiedliche Nutzungen: landwirtschaftliches Gut, Kaserne, zuletzt Polizeischule bis zur Zerstörung in den Wirren des Zweiten Weltkrieges im Jahre 1944. Mehr als 30 Jahre lang stand dann am Rand der Stadt das Schloss als Ruine, bis es wieder aufgebaut wurde, um die Staatliche Hochschule für Musik zu beherbergen. Das Gebäude ist daher für die jetzige Nutzung geeignet und vermittelt einen großzügigen Eindruck. Von außen ein historisches Gebäude, das im Inneren die Nutzungsmöglichkeiten bietet, die man heute erwartet. Im Laufe der Jahre ist die Hochschule auf zirka 500 Studenten gewachsen und man hat Pläne für eine Erweiterung auf dem Gelände um das Schloss herum. Das Bauprojekt ist so umfangreich, dass auch in den nächsten Jahren mancher Student in einer der drei Dependancen im Zentrum der Stadt seinen Studien nachgehen muss.
Professor Uhde legt als Prorektor Wert darauf, mir die Einrichtungen der Hochschule zu zeigen. Es gibt ein Institut für Neue Musik und Medien, ein Institut Lernradio, in dem Musikjournalisten ausgebildet werden. Im gleichen Gebäude ist auch das musikwissenschaftliche Institut untergebracht. Wie man weiß, ist dieses nor-malerweise von der „praktischen Musik“ getrennt. Dieses Nebeneinander und nicht zuletzt die gemeinsame Bibliothek im Dachgeschoss führen zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit. Beeindruckend für einen Besucher ist ohne Zweifel die Großzügigkeit und Weitläufigkeit des Gebäudes, das hervorragende Möglichkeiten zum Unterricht bietet und schon durch seine Gestaltung die Kreativität der Studenten und Dozenten beflügelt. Man denke da an den Konzertsaal oder an das Aufnahmestudio, wo CDs hergestellt werden können, was dann gleichzeitig im Lernradio verwendet werden kann.
Dann geht es zum Unterricht. Eine junge Russin, die nach fünf Jahren Studium in Moskau nun hier im ersten Semester bei Uhde ihre Ausbildung fortsetzt. Sie will das Klavierkonzert Nr. 23 in A-Dur von Mozart spielen. Professor Uhde übernimmt den Orchesterpart. Erstaunlich, welche technischen Fähigkeiten hier gezeigt werden. Die junge Frau spielt mit hohem Tempo die sehr schweren Passagen des ersten Satzes. Nach dem ersten Durchgang korrigiert Uhde eine Phrasierung, zeigt sich aber sehr zufrieden. Der zweite Satz wird von ihr zu langsam gespielt. Obwohl Adagio überschrieben, muss nach Meinung des Lehrers der Zusammenhang und der Fluss der Musik hergestellt werden. Die Stimmung und die Intimität des Satzes müssen durch den entsprechenden zarten Anschlag erzielt werden. Er demonstriert ihr auf überzeugende Weise, was er sich vorstellt.
Der zweite Schüler am heutigen Vormittag ist ein deutscher Student, der sein Studium bis auf das letzte Examen abgeschlossen hat. Er hat schon Konzerterfahrungen sowohl bei Klavierabenden als auch insbesondere als Mitglied eines schon erfolgreichen Quartetts. Auf dem Programm stehen „Bunte Blätter“ op. 99 von Robert Schumann, ein schwieriges Werk, technisch teilweise sehr anspruchsvoll und auch musikalisch nicht einfach darzustellen. Der junge Mann spielt mit großer Virtuosität und kräftigem Zugriff. Man merkt, dass er Konzerterfahrung hat, er spielt gelassen und unbeeindruckt von seinen zwei Zuhörern. Herr Uhde lässt ihn zunächst das ganze Heft durchspielen und macht sich in den ihm vorliegenden Noten Notizen zu den Passagen, die er für korrekturbedürftig hält. Nach dem Vorspiel wird das Ganze durchgesprochen. Es geht um Tempofragen, es geht um Zusammenhänge, um exakt das wiederzugeben, was in den Noten steht. Da nicht alles direkt besprochen werden kann, entnehme ich dem Gespräch, dass das Werk in einer Woche noch einmal vorgetragen werden soll. Dann werden die Einwände von Herrn Uhde berücksichtigt sein.
Mittagspause. Ich habe die Gelegenheit in der Cafeteria des Instituts die Leiterin des Veranstaltungsbüros, Eva Lichtenberger, kennen zu lernen. Das Institut hat ein eigenes Veranstaltungsbüro, das sich in die Kulturaktivitäten von Karlsruhe und Baden Baden einklinkt und dafür sorgt, dass die Konzerte der Dozenten und Studenten von der Öffentlichkeit besucht werden können. Eine lobenswerte und auch notwendige PR, die sicherlich auch an anderen Hochschulen geleistet wird, wie ich mir vorstellen kann. Man hat hier auch Prospekte und Programme für das ganze Semester vorliegen.
Mittags ergibt sich zufällig die Gelegenheit zu einem kurzen Gespräch mit Professor Ulf Hölscher, der hier Violine unterrichtet. Ich bin in eine Unterrichtstunde geplatzt und konnte hören, wie intensiv an dem Violinkonzert von Tschaikowsky gearbeitet wurde. In dem anschließend stattfindenden Gespräch kommen wir auch auf die beruflichen Aussichten der Studenten, ein Thema welches heute viele Professoren beschäftigt. Theater und Orchester können von den öffentlichen Haushalten nur noch mit großer Mühe finanziert werden. Umso mehr ist der Eifer und der Idealismus der jungen Menschen zu bewundern!
Dann kommt noch eine Unterrichtstunde bei Herrn Uhde. Durch einen Irrtum bei einer Terminverschiebung warten zwei Studenten auf den Professor. Eine Französin, die nach mehreren Jahren Unterricht in Paris nun im ersten Semester hier studiert und ein Brasilianer, der nach dem Studium in Brasilien nun im ersten Semester bei Herrn Uhde studiert.
Da der Professor noch nicht da ist, ermuntere ich die Französin, etwas zu spielen. Sie wählt die C-Dur Sonate von Haydn. Ich bin überrascht, wie gut sie das macht. Ich habe selten ein derart farbiges und abwechslungsreiches Spiel bei einer Haydn-Sonate gehört. Einfach schön! Sie spielt mit leichtem Anschlag und sehr ausdrucksstark und überzeugend. Den zweiten Satz, ein Presto, nimmt sie für mein Empfinden etwas zu schnell, aber darüber kann man sicherlich streiten.
Dann beginnt die Unterrichtsstunde für den Brasilianer, der übrigens bisher in Belo Horizonte bei einer Professorin studiert hat, die ihrerseits ihre Ausbildung in Karlsruhe absolviert hatte. Auf dem Programm steht der erste Satz des Konzerts a-Moll von Schumann. Er ist eine Begabung, ohne Frage. Der junge Mann spielt das Konzert sehr flüssig und mit großem Verständnis. Vor allem auch in der Kadenz zeigt er, was er so „drauf hat“: Professor Uhde geht dann den ersten Satz noch mal durch und zeigt ihm, was man bei Schumann alles hören muss. Insbesondere die Kadenz wird auseinander genommen, die gedank-lichen Zusammenhänge erklärt. Dadurch wird diese Kadenz noch etwas schwieriger, bekommt aber auch ein anderes Gewicht.
Der junge Brasilianer kann noch kein Deutsch oder jedenfalls sehr wenig. Unterrichtssprache ist deshalb Italienisch. Es ist aber so, dass die Sprache gar nicht eine so große Wichtigkeit hat: Als Zuhörer, der nicht Italienisch spricht, weiß ich dennoch stets, worum es geht. Michael Uhde demonstriert entweder mit theatralischen Gesten oder mit Beispielen am Flügel, was er meint. Hier kommt zum Ausdruck, wie „international“ Musik ist; auch ohne Sprache ist sie eine Möglichkeit der Verständigung.