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Bunte Fenster: Mehrstöckige Musikvermittlungsarbeit in einem Saarbrücker Stadthaus. Foto: Rieke Weber
Bunte Fenster: Mehrstöckige Musikvermittlungsarbeit in einem Saarbrücker Stadthaus. Foto: Rieke Weber
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Biedermeier und die Klangstifter

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Nachschlag 2018/06
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Ein neuer Verein in Deutschland? Ist das eine Meldung wert? Aber gewiss doch! Erst vor wenigen Wochen fand nämlich die Gründung von „Klang­rausch Deutschland e.V.“ in Mannheim statt. Klangrausch ist eine (noch) kleine Veranstaltungsreihe, die sich als alternatives Format im Bereich der Musikvermittlung versteht. „In gemütlicher Atmosphäre“, so schreiben die Vereinsvorstände, „wird bei Bier und Wein ein ungezwungener Erstkontakt zu klassischer Musik ermöglicht. Fernab von etablierten Rezeptionsgewohnheiten in Konzertsälen, welche insbesondere für Menschen in ihren Zwanzigern häufig eine Hürde für einen Konzertbesuch darstellen, bietet Klangrausch eine neue Wahrnehmung von und Perspektive auf Kammermusik und klassische Ensemblemusik. Komplettiert wird dieses Erlebnis durch den Auftritt von DJs im weiteren Verlauf des Abends.“

Das bekanntlich nicht in andere Sprachen übersetzbare deutsche Wort „Gemütlichkeit“ lässt einen zunächst stutzen und an Biedermeier und Rückzug ins Private denken. Klickt man aber die Links zu den Youtube-Videos von Klangrausch-Konzerten an, sieht man schnell, dass Klangrausch gerade nicht für neue Innerlichkeit und kulturelles Cocooning steht, sondern ein geradezu umstürzlerisches Potenzial in sich trägt.

Eine junge Generation sucht den Erstkontakt zur Klassik nicht in der Elbphilharmonie und anderen repräsentativen Neubauten, den möglicherweise letzten Angsttrieben eines überkommenen Konzertrituals.

Klangrausch steht für den Wunsch und das Grundbedürfnis, mit Gleichgesinnten das Leben zu teilen, ein mit Musik erfülltes versteht sich. Eine WG ist daher kein schlechter Startpunkt für dieses Projekt – Alt-68er dürfen dabei schon mal an die Kommune 1 denken, die vor fünf Jahrzehnten eine der Keimzellen nachhaltiger politischer und kultureller Umwälzungen war. Jüngeren Semestern schadet es ebenfalls nicht, sich an studentische Wohngemeinschaften zu erinnern, in denen vermutlich auch ohne Vereinsgründung klassische, jazzige und neue Musik gemacht und gehört wurde – zur Freude der Nachbarn strömte dabei viel buntes Partyvölkchen durch Haus.

Jede Generation sucht also ihren eigenen Klangrausch und den will sie nicht mit dem Establishment teilen, so viel ist klar. Das soll sich bestenfalls an dessen Ermöglichung beteiligen. Beispiele gibt es schon einige: Nehmen wir das Podium Festival in Esslingen, auch hier schielten junge Künstler und Veranstalter nicht nach den Futtertrögen des Musikbetriebs, sondern machten ihr Ding, schufen sich ihr eigenes Festival, samt Management, Publikum und Programm – das alles ohne Konzertsaalneubau und Abonnement.

Auch das schon etwas in die Jahre gekommene Projekt Festival „Musik in den Häusern der Stadt“ des KunstSalon Köln ist eine vergleichbare Initiative, die das Musikbetreiben den Profis aus den Händen nimmt und ins Private zurück verortet.

Der neue Klangrausch e.V. praktiziert mit seinen Ablegern in Saarbrücken, Weimar und Koblenz eine begrüßenswerte Wiederinbesitznahme von Kultur und tätige Aneignung von Musik. Musikvermittlung nur den Profis an den großen Häusern zu überlassen, wäre doch zu wenig. Hoffentlich ereilt den jungen Verein nicht das gleiche Schicksal wie den 1918 von Arnold Schönberg mitbegründeten Verein für musikalische Privataufführungen, dem nur eine kurze Lebensdauer beschieden war und der bereits 1921 wegen Geldmangels infolge der Inflation wieder aufgelöst werden musste. Auf einen Klangrausch muss aber nicht zwingend ein Katzenjammer folgen, und so sind dem jungen Klangrausch-Verein viele musikalische Erstkontakte zu wünschen.

PS: Darüber, wie weit sich Klangrausch mit den Honorarempfehlungen der Musikverbände verträgt, liegen derzeit noch keine Erkenntnisse vor.


Mehr zu Klangrausch

Die Initiative gib es in drei Städten: Saarbrücken, Weimar und Koblenz. Im November 2017 trafen sich die bereits bestehenden Klangrausch-Teams beim „Thinktank musik“ des Jugendorchesterverbands Jeunesses Musicales Deutschland (JMD) erstmals städteübergreifend. Die Vereinsgründung schafft unter anderem die rechtliche und inhaltliche Grundlage für neue potenzielle Organisationsteams in weiteren Städten. Dadurch soll die Verbreitung des Klangrausch-Konzepts weiter professionalisiert und verstetigt werden. In Mannheim, Rostock, Stuttgart und anderen Städten sind ebenfalls eigene Veranstaltungsreihen geplant. Informationen zur Mitgliedschaft: klangrausch.deutschland [at] gmail.com (klangrausch[dot]deutschland[at]gmail[dot]com)

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