Die schrecklichen Bilder erreichten mich in Krakau. Zwei Tage zuvor besuchten meine Frau und ich den bösesten Ort des 20. Jahrhunderts. In Auschwitz/Birkenau wollten wir das Unfassbare fassen und der Gemarterten und Ermordeten gedenken. Im Hotel las ich die Lebenserinnerungen des Schindler-Mädchens Stella Müller-Madej und überlegte, ob ich sie in mein zweites Musiktheater integrieren solle. Nach dem Abendessen drehten wir den Fernseher an, damit ein Film uns ablenke. Doch es war kein Film. New York brannte wirklich und mit den Towers die ganze Welt.
Die schrecklichen Bilder erreichten mich in Krakau. Zwei Tage zuvor besuchten meine Frau und ich den bösesten Ort des 20. Jahrhunderts. In Auschwitz/Birkenau wollten wir das Unfassbare fassen und der Gemarterten und Ermordeten gedenken. Im Hotel las ich die Lebenserinnerungen des Schindler-Mädchens Stella Müller-Madej und überlegte, ob ich sie in mein zweites Musiktheater integrieren solle. Nach dem Abendessen drehten wir den Fernseher an, damit ein Film uns ablenke. Doch es war kein Film. New York brannte wirklich und mit den Towers die ganze Welt.Seither geht es mir wie vielen Kollegen und Freunden. Man kann kaum arbeiten, ist gebannt nicht nur von den sich überstürzenden Ereignissen, sondern von dem, was man zu erahnen beginnt: Die Kategorien haben sich verschoben, der 11. September 2001 ist in der Tat eine welthistorische Zäsur, wir sind im freien Fall, in Sekundenschnelle und vor den Augen von Milliarden im 21. Jahrhundert angekommen. Die gekaperten Flugzeuge waren perfekt platziert, ihre Flugbahn rational kalkuliert: Das Böse zeigt seine „Genialität“, es erreicht den größten Schaden mit einem Minimum an Mitteln, das Menschliche wird ausgeklammert, als sei es niemals gewesen. Ich dachte unwillkürlich an die reibungsfreie Tötungsmechanik in Birkenau und daran, dass es ohne den Holocaust kein Israel und auch kein palästinensisches Problem gäbe. Wie schnell uns doch die Geschichte einholt.Man möchte reagieren, gerade als Künstler. Ich spürte, dass meine Musik sich jetzt erst recht ändern muss. Aber auch als Demokrat und Intellektueller – wieder in Deutschland rief ich eine große deutsche Zeitung an und bat, gefragt zu werden, wenn die Künstler gefragt würden. Komponisten werden aber nicht gefragt. Nur einer hat es nolens volens geschafft, in alle Feuilletons und selbst in CNN zu kommen, Karlheinz Stockhausen, der nun wirklich nichts zu sagen hatte. Der Einzige, der etwas sagt, sagt das Falsche und bringt eine ganze Musikszene, deren Beitrag zur allgemeinen Kultur seit den 1970er-Jahren stetig sinkt, in Verruf.
Aber sprechen wir noch nicht über die Auswirkungen auf die Kultur, die möglichen Konsequenzen für die Neue Musik, auch nicht über die neuen Erfordernisse, denen wir Musiker uns stellen müssen. Noch müssen wir begreifen, was geschah und geschieht. Dass sich die Kategorien verschieben, zeigt sich an allen Ecken und Enden. Die Kommentare der Intellektuellen, der Schriftsteller und der befragten Wissenschaftler sind nicht prinzipiell falsch, man spürt aber, daß sie nicht wirklich den Punkt treffen. Nicht selten zeigen sie, dass sie es immer schon gewusst haben. Das zeigen vor allem die pausenlose Schelte an den Medien und die Kritik an Amerika, den Amerikanern und dem Amerikanismus. Ich wäre der Letzte, der die kulturellen und politischen Gefahren einer amerikanischen Interpretation der Globalisierung übersähe. Doch diese Einsicht wird zunächst von einem Gefühl überlagert: wie froh ich doch bin, dass die Amerikaner einst mit der Stürmung der Normandie das letzte Gefecht gegen Hitler einleiteten und uns so vor Stalins Würgegriff bewahrten. Hätten wir ohne die aufgezwungene Westintegration Demokratie gelernt, lebten wir heute ohne sie in einer doch respektablen Zivilgesellschaft?
Bezeichnenderweise wurden die klügsten Reden von Postkommunisten gehalten, analytisch konzis von Gysi während des Berliner Wahlkampfes und weltpolitisch erwartungsheischend von Putin im Deutschen Bundestag. Wir trügen alle Schuld, weil wir noch in den Kategorien des Kalten Krieges, mithin des 20. Jahrhunderts, in Polaritäten und Unilateralismus dächten, so der russische Präsident, ganz offensichtlich Gorbatschow’sche Visionen weiterführend. Am 11. September wurden wir belehrt, dass die schmucken entpolitisierten und sich ganz den Finanzmärkten und der Technologiebranche überlassenden 1990er-Jahre eine trügerische Siesta waren. Der Augenblick der Politik hat sich mit aller Gewalt, aufgezwungen undank tausender Opfer zurückgemeldet. Die Druckwelle hat in wenigen Wochen mehr an Politik ausgelöst als die letzten zehn Jahre zusammen. Nicht zuletzt diese Geschwindigkeit überfordert uns und treibt uns eher zu den alten Ansichten anstatt zur Gunst der Stunde: einzugestehen, dass man ratlos ist und deswegen lernen muss. Die Welt ist zwar kleiner geworden, aber wenn wir sensibel die Balance zwischen besonnener Entschlossenheit und klugem Zweifel finden, dann haben sich die Handlungsspielräume etwas erweitert. Und man beginnt zu lernen: Russland will NATO-Mitglied werden, Scharon erkennt, dass der Westen ihm nicht die vielbeschworene uneingeschränkte Solidarität zuteil werden lässt, Indien und Pakistan beginnen, miteinander zu sprechen, die arabische Welt wird wachsam, aber, wie im Falle des Iran, auch selbstbewusst im positiven Wortsinne. Nicht zuletzt lernt Amerika, es kann nicht anders. Genau das hatten die wenigsten erwartet.
Ein Kollege aus dem Neue-Musik-System meinte, um dieser Lerneffekte willen sei der Anschlag auf die USA nötig gewesen. Krude Logik, meine ich. Was würde er sagen, ein Kernkraftwerk in seiner Nähe würde gesprengt? Wie viel Fundamentalopposition bleibt uns in der wissenschaftlich-technischen Welt? Müssten wir Musiker und nicht zuletzt die Komponisten nicht von unserer angemaßt privilegierten Position, immer ganz anders denken zu dürfen, Abstand nehmen, um sich wieder der Realität anzunähern, der man in einem weiteren Schritt sehr wohl das ganz andere entgegensetzen kann? Stockhausen wird von seinen faschistoiden Machtfantasien nicht lassen. Aber wem ist er noch ein Vorbild?
Die Auswirkungen des 11. September auf die Kultur sind nicht zu überschauen. Erstaunlich ist aber, welche Fragen plötzlich und wieder gestellt werden. Die von Peter Scholl-Latour verachtete Spaßgesellschaft fängt mit dem Nachdenken an. Das Bedürfnis nach Verstehen, nach Selbstreflexion, nach Begegnung mit dem anderen wird wachsen. Die ökonomisch brisanteren Zeiten, die vor uns liegen, dürfen aber nicht zu weiterer Ausblutung der Kultur führen. Der Finanzboom der neoliberalen Phase hat ihr nicht genutzt, und genau das muss sich ändern. Wenn das Geld nicht anwächst, müssen die Prioritäten neu definiert werden. Die Postmoderne der 1980er-Jahre – jeder mache, was ihm beliebt – und der Neokonservativismus der 1990er Jahre – der Rang eines Künstlers bemisst sich nach seinem Marktwert – sind vorbei. Für deren luxurierende Dekadenz fehlt nicht nur die Legitimation, die sie ohnehin nie hatte, sondern die materiellen Ressourcen. Auch diejenigen, welche sich an das falsch verstandene Mäzenatentum gewöhnt haben, werden umdenken müssen. Das weitere politische Handeln wird nachdrücklich vom kulturellen Diskurs abhängen. Investitionen im Bildungssektor werden unausweichlich sein.
Und die Neue Musik? In der letzten Ausgabe schrieb Max Nyffeler: „In Zukunft wird Musik wohl wieder mehr darauf hin befragt werden, mit welchen Deutungen, Perspektiven und Antwortversuchen sie auf die geistigen Probleme der Gegenwart, die nun ersichtlich globale Dimensionen annehmen, zu reagieren vermag.“ Genau von solch einer wachen und sensiblen Zeitgenossenschaft hat sich das Neue-Musik-System der postmodernen und neoliberalen Phase mit seiner Gier nach Karriere, billigem Effekt, Pseudomystik und blinder Genieästhetik immer weiter entfernt. Die Macher und die Gemachten kooperierten vorzüglich. Nicht, dass das Experimentelle, das Herz der Neuen Musik, einzudämmen wäre, es muss sich aber verstärkt an seinen Ergebnissen messen lassen. Nicht, dass jetzt in erster Linie Kompositionsaufträge zu Themen wie Klonen, Genmanipulation und Nanoroboter zu vergeben wären. Nicht, dass wir der Kulturindustrie nacheiferten, die doch ihr Geschäft auch ohne uns und viel besser versteht. Nicht, dass wir wieder zur 19.-Jahrhundert-Mentalität zurückkehrten, da wir uns doch des 21. Jahrhunderts annehmen müssen. Eine Musik, die sich diesem stellt, wird nach dem Menschen, seinem Lieben und Leben, seinem Leiden und Sterben fragen, danach, was Musik überhaupt noch vermag, wonach sich die Ohren sehnen, welche sich der Neuen Musik ohne Wenn und Aber öffneten. Müsste nicht eine Musik gefunden werden, welche die Paranoia der Gegenwart und die radikale Unsicherheit gegenüber der Zukunft in Form und Klang genauso fasst wie unser aller geschichtliche Herkunft erinnernd wachhält? Man kann gespannt sein, was die musikalische Kreativität sich einfallen lässt.
Eine europäische, eine „nordatlantische Sicht“? Das mag sein. Aber zeigt sich jetzt umgekehrt an Weltmusik und interkulturellem Patchwork nicht deren imperialistischer Aspekt? Wir beginnen zu begreifen, dass die „fremde“ Kultur gerade nicht die eigene ist, aber eben deswegen respektiert und geschützt werden muss. Vielleicht lernt die Menschheit nun, die Ideologien zu überwinden und zu einem Gleichgewicht der Kulturen zu finden, in dem die westliche Welt genauso zu Hause ist wie China, der indische Subkontinent, der Islam und das hoffentlich nicht mehr so hungernde Afrika. Und da sollte Europa nicht ohne eigene Musik dastehen.
Zwei Leserbriefe:
Konrad Boehmer: Wo Ahnungslosigkeit zur Sentimentalität wird
Burkhard Friedrich: Probleme mit der Bodenhaftung?