Das neue „Handbuch Musikpädagogik“ möchte „ein Referenzwerk für die gesamte Disziplin Musikpädagogik“ sein. Doch ist das überhaupt möglich – gerade vor dem Hintergrund, dass sich die Musikpädagogik als Fach in den letzten Jahren, wie die Herausgeber betonen, „sowohl enorm erweitert als auch vernetzt hat“? Es ist in der Tat ein „gewagtes Unterfangen“, wie Dartsch et al. selbst meinen, gerade auch, wenn man bedenkt, dass die Publikation mit „nur“ 618 Seiten auskommt, stellt man ihr beispielsweise die vier Bände des „Handbuchs der Musikpädagogik“ aus den späten 1980er- und 90er-Jahren (erschienen im Bärenreiter-Verlag) gegenüber.
Überwiegend beleuchtet das neue Handbuch, wie der Untertitel verrät, „Grundlagen – Forschung – Diskurse“ der Musikpädagogik und widmet sich weniger der detaillierten Darstellung didaktischer Modelle, Konzeptionen oder Methoden. Musikpädagogik wird dabei als Bezeichnung für die „im weitesten Sinne auf Lernen orientierte Beziehung zwischen Mensch und Musik inklusive der damit verbundenen Situationen, Praxen, Reflexionen, Theorien und Forschungen“ nach H.J. Kaiser verstanden.
Der Einführung (Kapitel 1) folgen fünf weitere große Kapitel. Diese hätten womöglich auch anders strukturiert sein können, da die Auswahl der Themen, deren Behandlung und Systematisierung natürlich immer einer Interpretation unterliegen. Sicherlich nicht zuletzt aufgrund des permanenten Aushandlungsprozesses der Herausgeber, wie im Vorwort zu lesen ist, liegt nun aber ein sehr stimmiges, nachvollziehbares und übersichtliches Resultat vor.
Kapitel 2 widmet sich „Kontexten“ – zentralen Begriffen (wie Musik- und Kulturbegriffen, musikalischer Bildung), Legitimationen musikpädagogischen Handelns sowie interdisziplinären Verknüpfungen (u.a. mit Erziehungswissenschaft, Musiktherapie, -psychologie, Musikermedizin, Genderforschung). Kapitel 3 portraitiert Akteure musikpädagogischen Handelns: Es nimmt Lernende selbst in den Blick, Personen und Instanzen, die musikalische Sozialisation beeinflussen (wie Familie, Peers, Medien, Bildungseinrichtungen), selbstverständlich aber auch Lehrende in musikpädagogischen und sozialen Arbeitsfeldern, sowie im Laienwesen Tätige. Kapitel 4 beleuchtet verschiedene „Perspektiven auf Lernen“ – von Lernbegriffen, Lernformen und -wegen über Zieldimensionen (wie Bildung, ästhetische Erfahrung, das Künstlerische selbst, Expertise und Kompetenz, Teilhabe und Transfer), bis hin zu Wechselwirkungen (bspw. durch Motivation, Begabung, Präferenz, Selbstkonzept und Kreativität). Daneben wird auch das Üben aus musikpsychologischer wie instrumentalpädagogischer Perspektive thematisiert und die Didaktik in den Blick genommen – mit Konzeptionen für den schulischen Musikunterricht, wie auch für IGP, EMP und Musikvermittlung, genauso mit Handlungsfeldern und Unterrichtsgestaltung. Es schließt sich ein kurzes Unterkapitel zu Diagnostik, Leistungserfassung und -rückmeldung an. Die weiteren beiden großen Kapitel 5 und 6 beschäftigen sich mit (institutionellen wie außerinstitutionellen) Orten des Musiklernens sowie der Musikpädagogik als Forschungsdisziplin. Hier werden wissenschaftstheoretische Grundlagen skizziert, Forschungsansätze steckbriefartig aufgezeigt und (philosophische, empirische und komparative) Forschungsschwerpunkte umrissen. Immer wieder große Aufmerksamkeit liegt auf interdisziplinären Verknüpfungen. Ebenso wird auf die Internationalisierung der Musikpädagogik verwiesen – hierzu gibt es allerdings, wie die Herausgeber selbst einräumen, nur wenige „symbolische“ Beiträge.
Die Einzelbeiträge zeichnen sich neben ausgewiesenem Fachwissen auch durch ihre Übersichtlichkeit und einen klaren Aufbau aus. Sie beginnen meist, jeweils an die Thematik und den Gegenstand angepasst, mit einer Definition, einem Definitionsversuch oder einem Überblick über das Themenfeld. Es folgt gegebenenfalls ein historischer Abriss. Nach den inhaltlichen Konkretisierungen im Hauptteil schließen die Artikel mit Überlegungen zur didaktischen Relevanz, zur Auswirkung auf beziehungsweise Umsetzung in die Praxis und/oder mit einem Überblick zur Forschungslage.
Ein besonderes Surplus im Anhang des Handbuchs: eine tabellarische Aufstellung musikpädagogischer Verbände und Zeitschriften; Letztere werden einem praxis- oder forschungsorientierten Schwerpunkt zugeordnet. Hier finden sich übersichtlich kategorisiert auch Verweise auf Datenbanken und Hinweise zum inhaltlichen Fokus sowie den (primären) Zielgruppen. Für eine kommende Auflage wünschenswert wäre ein Personen-, insbesondere aber ein Sachwortregister, anhand dessen sich in verschiedenen Artikeln immer wiederkehrende Schlagworte einfach auffinden ließen.
Dies schmälert den Gesamteindruck jedoch keinesfalls: Dank der fachlichen Qualität der Einzelbeiträge sowie der Themenwahl und deren übersichtlicher Gliederung durch die Herausgeber kann das „neue“ Handbuch tatsächlich als Referenz- und Nachschlagewerk für Lehrende, Studierende, Forschende und Akteure der Kulturpolitik dienen – ein gelungenes „Unterfangen“ also. Äußerst reflektiert und gut nachvollziehbar umreißen Dartsch et al. darüber hinaus selbst, was die Publikation zu leisten vermag, wo ihr aber auch Grenzen gesetzt sind: Dadurch dass nicht alles, was im Feld der Musikpädagogik bedeutsam ist oder vermutlich werden wird, auch angemessene Entsprechung in Forschungsarbeiten findet, können an vielen Stellen nur Desiderate formuliert werden. Aber gerade deren Aufdecken macht das Handbuch neben dem enthaltenen Expertenwissen auch so reizvoll. Über den Anspruch, als Nachschlagewerk zu dienen hinaus weckt es Neugier: Es zeigt relevante Themengebiete der Gegenwart auf, die musikpädagogischer Forschung bedürfen, regt so zum Nachdenken an und lässt mit Spannung darauf blicken, in welchen der angerissenen Felder in den nächsten Jahren neue Erkenntnisse zu erwarten sind.
- Handbuch Musikpädagogik. Grundlagen – Forschung – Diskurse, hrsg. v. Michael Dartsch/Jens Knigge/Anne Niessen/Friedrich Platz/Christine Stöger. Waxmann/UTB, Stuttgart 2018, 624 S., € 49,99, ISBN 978-3-825250-40-9