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Das Loch

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www.beckmesser.de (2016/12)
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Vor kurzem ging diese Meldung durch die Medien: „30 Meter lang, 27 Meter breit, 15 Meter tief: Das waren die Ausmaße eines enormen Erdlochs, das sich vergangene Woche in der japanischen Stadt Fukuoka aufgetan hat. Nur sieben Tage später ist davon nichts mehr zu sehen.“ Das Loch, das durch den Bau einer U-Bahn entstanden war, wurde innerhalb einer Woche repariert, der Verkehr auf der fünfspurigen Straßen fließt wieder normal. Die Effizienz, mit der in Japan solche Probleme gelöst werden, weckt unser Staunen. Nicht lange reden, sondern handeln.

Der Fall ist symptomatisch, und man ahnt die Gründe für den einzigartigen Wirtschaftsaufschwung der Gesellschaften im Fernen Osten. Es ist eine Mentalitätsfrage. In Europa dreht sich alles um das sakrosankte Individuum, und im Zweifelsfall wären hier die Therapieansprüche der geschockten Augenzeugen vermutlich wichtiger als die Reparatur des Lochs in der Straße. In Japan hingegen werden individuelle Befindlichkeiten erst einmal hintenangestellt und man packt gemeinsam an.

Ähnlich dynamische Verhaltensmuster scheinen auch in Korea zu gelten. Beim Symposium unter dem Titel „Celebrating Fifty Years of Younghi Pagh-Paans Compositional Career“ in Seoul erhielt ich kürzlich einen kleinen Einblick in das dortige Leben. Die Stadt, die während des Koreakriegs (1950-53) fast vollständig zerstört wurde – es gibt Vergleiche mit Berlin 1945 – hat heute gigantische Ausmaße. Die Metropolregion mit rund 25 Millionen Einwohnern ist der viertgrößte Wirtschaftsraum der Welt. Und, um beim Vergleich mit Berlin zu bleiben, der Flughafen funktioniert. Auch sonst: Keine verschmierten Hauswände, keine versifften U-Bahnschächte, keine Angst, abends auf die Straße zu gehen. Die blitzsauberen U-Bahnen halten hinter Glasfronten mit automatischen Schiebetüren, und mitten im Meer der Hochhäuser befinden sich die alten Königspaläste, deren weitläufigen Parklandschaften sonntags von Tausenden von Menschen durchwandert werden.

Die Touristenperspektive ist natürlich stets trügerisch, vor allem bei einem Kurzbesuch. Doch der allgemeine Eindruck bestätigte sich im Mikrobereich der Universität, wo die Tagung stattfand. Für eine perfekte Organisation und eine Gastfreundschaft, die die europäischen Teilnehmer sprachlos machte, sorgte das sympathische Frauenteam von der Musikabteilung der Ewha Womans University. Diese Hochschule mit 21.000 Studentinnen wurde 1886, als sich Korea auf äußeren Druck der Welt öffnen musste, von einer amerikanischen Missionarin gegründet. Während der wechselvollen koreanischen Geschichte zwischen Krieg, Unterdrückung und Selbstbestimmung war sie stets ein Ort der Wissenschaft und hat heute einen internationalen Ruf. Ein als Schneise in den Hügel hineingehauener, vom Franzosen Dominique Perrault entworfener Neubau von 2008 ist das spektakuläre architektonische Kennzeichen des Campus.

Die für das moderne Korea charakteristische, pragmatische Weltoffenheit zeigte sich auch bei der internationalen Tagung, in die das Pagh-Paan-Symposium und die begleitenden Konzerte eingebettet waren. Unter dem Titel „Bringing the Past into the Present: Creating and Curating Digital Music Archives“ zog man hier die Zwischenbilanz eines im Gang befindlichen Großprojekts: einer umfassende Datenbank mit den musikalischen Beständen in Korea, Japan und Taiwan. Die Teilnehmer kamen, außer aus den beteiligten Ländern, auch aus den USA, China und Europa; aus Deutschland war Klaus Keil dabei, der Leiter der RISM-Zentralredaktion („Répertoire International des Sources Musicales“) in Frankfurt. Das von Hyun Kyung Chae, Musikologin und Direktorin des universitären Musikforschungsinstituts, geleitete Unternehmen stellt eine gewaltige Herausforderung dar, soll doch das dokumentarische Erbe von drei reichen Musikkulturen in einer einheitlichen Datenbank erfasst werden. Die Rolle der unterschiedlichen Sprachen und Schriftzeichen bei der Klassifizierung ist dabei noch das geringste Problem. Doch der Optimismus der Beteiligten lässt keinen Zweifel am Gelingen des Projekts aufkommen.

Ein Ereignis war auch der Programmschwerpunkt mit Younghi Pagh-Paan. In der koreanischen Musikszene hat man sie jahrzehntelang ignoriert, denn eine Frau hat es dort um einiges schwerer als bei uns. Sie hat ihre Karriere in Westeuropa gemacht, doch ihre koreanischen Wurzeln nie verleugnet. Die Veranstaltungen in Seoul und die Gründung eines nach ihr benannten Kompositionspreises, der hochoffiziell von der Koreanischen Botschaft in Berlin ausgerichtet wird, signalisieren eine Wende. Man heißt sie jetzt in ihrer Heimat willkommen. Eine Musikdatenbank und das Werk der Komponistin Younghi-Pagh-Paan scheinen zwei völlig verschiedene Dinge zu sein. Doch der Schein trügt. Beide Male geht es darum, das Überlieferte zu bewahren und zukunftsfähig zu machen, einmal auf individuell-kompositorischer Ebene, einmal mit den Mitteln der digitalisierten Wissenschaft. Die ostasiatischen Länder erkennen zunehmend ihr kulturelles Potenzial und suchen zwischen Europa und den USA nach eigenen Wegen. Beim Bau von Straßen und Flughäfen haben sie uns ohnehin schon längst überholt.

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