Das Pianola oder „Player Piano“ erlebt eine kleine Renaissance. Michael Denhoff, Marc-André Hamelin, György Ligeti, Steffen Schleiermacher, James Tenney und viele andere haben zuletzt für das Selbstspielklavier komponiert. Sie alle sind inspiriert von einem seltsamen Einzelgänger: Conlon Nancarrow (1912–1997).
Im 18. Jahrhundert gab es ein „clavecin électrique“, im 19. Jahrhundert das weit verbreitete „Walzenklavier“. Doch erst das pneumatische Selbstspielklavier, gefüttert mit gelochten Papierrollen, eröffnete um 1900 der mechanischen Musik eine völlig neue Dimension: Beliebig lange Stücke wurden nun auf einem Klavierautomaten abspielbar – mit dem kompletten Tonumfang des Instruments und mit Steuerungsfunktionen für Anschlag und Dynamik. Dank des elektrischen Welte-Mignon-Systems konnten große Pianisten ab 1904 ihre ganz individuelle Stilistik auf Papierrolle verewigen, völlig unabhängig von den beschränkten Aufnahme- und Wiedergabe-Möglichkeiten der Zeit. Auch als Unterhaltungs-Apparat für die Bürgerstube war das Selbstspielklavier erfolgreich: In den USA wurden zehntausende verschiedener Abspielrollen von Schlagern und Klassikstücken vermarktet und zeitweise mehr „Player Pianos“ verkauft als normale Klaviere.
Weniger bekannt, aber umso faszinierender war eine dritte Funktion der Selbstspielklaviere: als Inspiration für Komponisten. Denn die technischen Möglichkeiten, die eine Lochstreifen-Stanzung erlaubt, überschreiten bei weitem die Grenzen eines zwei- oder vierhändigen Klavierspiels. Übermenschlich schnelle und dichte Tonfolgen, chromatische (!) Glissandi, gewaltige, von menschlichen Händen nicht zu bewältigende Akkordgebirge sowie komplizierteste Polyrhythmen, Metren und Tempowechsel lassen sich, den Papierrollen anvertraut, vom „Player Piano“ bewältigen. Igor Strawinsky und Alfredo Casella haben schon um 1917 diese Möglichkeiten erkannt und spezielle Kompositionen für das Lochstreifen-Piano vorgelegt. In Donaueschingen rückte man 1926/27 die Kammerkonzerte sogar ganz ins Zeichen der mechanischen Musik und besonders des Selbstspielklaviers: Paul Hindemith, Ernst Toch, Nikolai Lopatnikoff und andere komponierten für Donaueschingen „in den Geist des Instrumentes hinein oder aus ihm heraus“, wie Toch es formulierte. Die mutigsten, visionärsten Stücke aber schrieb damals der Konzertpianist Hans Haass: Als Aufnahmeleiter bei der Firma Welte besaß er die umfassendste Vorstellung von den fantastischen Klangwelten, die das automatische Klavier eröffnete.
Emigration nach Mexiko
Als der ehemalige Jazztrompeter Conlon Nancarrow das „Player Piano“ für sich entdeckte – nach dem Zweiten Weltkrieg –, war es längst ein Museumsstück geworden. Es kostete Nancarrow einige Mühe, noch zwei funktionierende Instrumente der Marke Ampico („American Piano Company“) aufzutreiben, die einmal als Musik-Automaten fürs Wohnzimmer gebaut worden waren. So ganz freiwillig kam Nancarrows Zuwendung zum Selbstspielklavier allerdings nicht, sondern war die Konsequenz einer wachsenden Distanz zur amerikanischen Gesellschaft und zum offiziellen Musikbetrieb. Begonnen hat dieser Weg ins Dasein eines Sonderlings, als er sich als junger Mann über Francos Putsch in Spanien empörte. 1937 – erste Kompositionen von Nancarrow waren bereits im Druck erschienen – meldete sich der Künstler zum Lincoln-Bataillon, einer amerikanischen Freiwilligen-Einheit der Internationalen Brigaden, die im Spanischen Bürgerkrieg gegen die Faschisten kämpften. Als er zwei Jahre später in die USA zurückkehrte, die sich im Spanien-Konflikt offiziell neutral verhalten hatten, galt er in der Heimat als unerwünschter „Kommunist“ und bekam von den Behörden keinen neuen Pass ausgestellt. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sein Heimatland zu verlassen. Sein neues Zuhause fand er in Mexiko – einem Land, das den Kampf gegen Franco mit Geld, Waffen und Munition tatkräftig unterstützt hatte. Übrigens war Mexiko auch das einzige Land im Völkerbundrat, das 1938 gegen den „Anschluss“ Österreichs durch die Nationalsozialisten protestierte.
Mit seiner Emigration nach Mexiko isolierte sich Nancarrow früh (er war noch keine 30 Jahre alt) von der offiziellen Musikwelt – und verlor damit jede realistische Aussicht auf angemessene Aufführungen seiner Musik. Das Trio für Klarinette, Fagott und Klavier (1942) oder auch das Streichquartett (1945) galten ohnehin als kaum spielbar; in Mexiko zumal war an eine befriedigende Realisierung nicht zu denken. Nancarrow musste also einen Weg finden, um in seiner Musik ohne Interpreten auszukommen. „Wenn ich jünger wäre, hätte ich im elektronischen Medium gearbeitet“, meinte er später im Rückblick. Ende der 1940er-Jahre war das „Player Piano“ für ihn nicht mehr als eine Notlösung, ein steiniger Ausweg. Denn die Arbeit mit dem Klavier-Automaten bedeutete nicht nur den Verzicht auf atmende Natürlichkeit in der Musik und auf klangfarbliche Ausgestaltung, sie verlangte auch eine geradezu asketische und körperlich anstrengende Hingabe. Tatsächlich konnte der Zeitaufwand, um fünf Minuten Musik in die Papierrolle zu stanzen, bis zu einem Jahr betragen. So entstanden in 40 Jahren nur ungefähr fünf Stunden Musik: die berühmten „Studies for Player Piano“, insgesamt rund 60 Stücke – festgehalten nicht in Noten, sondern als durchlöchertes Papier.
Seinen Hauptzweck hat das „Player Piano“ für Nancarrow erfüllt: Es machte Interpreten überflüssig und erlaubte darüber hinaus Dinge, die für menschliche Musiker nicht nur schwer spielbar, sondern praktisch unspielbar waren. Zweifellos haben die Möglichkeiten des Automaten-Klaviers damit auch Nancarrows weitere Entwicklung als Komponist geprägt und geleitet. Die Dichte und Komplexität der Abläufe in den „Studies“ übertrafen bald alles bis dahin Gehörte. In seinem weltfernen „Labor“ experimentierte Nancarrow mit extremen polyrhythmischen Überlagerungen, vielfach geschichteten Einzelstimmen, polytonalen Boogie-Effekten, changierenden Tempi, mehroktavigen Akkordtürmen – oder mit fantastischen Tongewittern von bis zu 200 Anschlägen pro Sekunde. Diese Science-Fiction-Musik vermag unsere Wahrnehmung von Raum und Zeit zu verändern, bombardiert den Hörer mit ungekannten psychoakustischen Sensationen und schickt ihn in eine nie geträumte Klangerlebnis-Welt. Als der Komponist György Ligeti die Musik Nancarrows um 1980 erstmals zu hören bekam, nannte er sie „die größte Entdeckung seit Webern und Ives“. Für Ligeti war der skurrile Einzelgänger aus Mexiko „der bedeutendste lebende Komponist“, der Johann Sebastian Bach des 20. Jahrhunderts. Ligeti holte den elf Jahre Älteren auch nach Europa und verwies in seinem Spätwerk mehrfach auf Nancarrows Einfluss.
Neue Rhythmusdimensionen
Das Standardmodell von Conlon Nancarrows „Studies“ ist der Kanon. Wir alle glauben zu wissen, was ein Kanon ist: Mehrere Stimmen setzen nacheinander mit derselben Melodie ein. Die Lieder „Frère Jacques“ oder „O wie wohl ist mir am Abend“ sind volkstümliche Beispiele. Von der Renaissance bis zum späten Bach brachte die kontrapunktische Kunst allerdings auch sehr komplizierte Kanon-Verfahren hervor, etwa den Spiegel-, Umkehrungs-, Krebs-, Proportions- oder Spiegelkrebskanon sowie Mehrfachkanons mit raffinierten Verflechtungen von Themen (Doppel-, Tripel-, Quadrupelkanon). Auch kann die Melodie eines Kanons in den jeweiligen Einzelstimmen transponiert erklingen: Bei Bach findet man Kanons „alla seconda“, „alla terza“, „alla quarta“ bis hin zu „alla duodecima“. Der Übergang vom kunstvoll variierten „Kanon“ zur freier gestalteten „Fuge“ ist – nicht nur bei Bach – oftmals fließend.
In Nancarrows Klavierautomaten-Musik bekommt die Kanontechnik noch weitere, völlig neue Dimensionen und Bedeutungen. Vor allem das Element der Tempo-Proportion wächst hier zum mathematisch-sinnlichen Experimentierfeld an. In Proportionskanons der Alten Musik werden Tempo, Rhythmus oder Takt eines Kanonthemas in den verschiedenen Stimmen nach einfachen geradzahligen Verhältnissen (1:2, 3:4 usw.) variiert. Nancarrows „Studies“ übersetzen diese Techniken in komplexere Mathematik: Schon in der 24. Studie, einem dreistimmigen Kanon, erklingen die Stimmen im Tempoverhältnis 14:15:16, was zu einer ganz allmählichen Verschiebung der Stimmen gegeneinander und damit zu fantastischen Klangwirkungen führt. In späteren Studien tauchen auch irrationale Proportionen auf (Wurzel aus zwei oder die Zahl Pi) oder sorgsam gesteuerte allmähliche Beschleunigungen und Verlangsamungen der Tempi. Die daraus resultierenden „Phasenverschiebungen“ fesseln und verwirren das Ohr gleichermaßen. Ähnliche Ansätze anderer Komponisten – etwa beim frühen Steve Reich – wirken dagegen geradezu banal.
Nancarrows „Studies“ sind Musik gewordene Visionen des Maschinenzeitalters. Da wird oft ein ganzes Bündel an Einzelstimmen miteinander verflochten und polytempisch durch kontrapunktische Engpässe geführt. Da tauschen sie unterwegs das Thema oder das Tempo miteinander und sind wechselseitig in ständigen Überholmanövern begriffen. Auch ganze mehrstimmige Komplexe, polyphon verwobene Linien-Stränge, werden ihrerseits wiederum kanonartig behandelt und ebenfalls in schwirrender Dichte und hohem Tempo mit- und gegeneinander entwickelt. Solche technizistischen Superkanons korrespondieren zweifellos mit unseren täglichen Erfahrungen in der digitalen Welt, mit strömenden Informations-Highways oder verwirrenden Massen-Verkehrsadern. Der Reflex von Conlon Nancarrows Musik scheint heute in vielen Bereichen auf, nicht zuletzt in der elektronischen Musik. Aber die „Studies for Player Piano“ inspirieren auch immer mehr Musiker zu dem Versuch, das Unspielbare doch noch am Instrument zu meistern. Man darf die komplex gewordene Welt nicht kampflos den Automaten überlassen.
CD-Tipps
- Conlon Nancarrow: Vol. 1–5, Player Piano 1, 3, 5, 7, 9, Einrichtung: Jürgen Hocker (Dabringhaus und Grimm 2006–2009)
Mit realen Musikern (Auswahl):
- Conlon Nancarrow: Orchestral and Chamber Music, Ensemble Continuum (Naxos, 1991)
- Conlon Nancarrow: Studies, Ensemble Modern (BMG, 1993)
- Conlon Nancarrow. Studies for Player Piano, Calefax Reed Quintet (Dabringhaus und Grimm, 2009)
- Conlon Nancarrow: As Fast As Possible (Wergo, 2011)