Dass Robert Schumann zu einem der wichtigsten Komponisten der Romantik wurde, verdankt sich nicht zuletzt seinem Scheitern als Konzertpianist. Verhindert wurde seine Solistenkarriere durch chronische Probleme mit dem Mittelfinger der rechten Hand.
Schumann war noch keine 20, als er ein Taubheitsgefühl im dritten Finger feststellte. Er glaubte, die kleine Behinderung durch noch mehr Klavierüben überwinden zu können, erreichte damit aber nur eine Verschlimmerung der Beschwerden, die dann auf den vierten Finger, die ganze Hand und den Arm übergriffen. „Das Klavier wollte gestern nicht gehen; es war, als hielte mich jemand am Arm“, schrieb er einmal. „Und nun kann ich es nur zur Not herausbringen, stolpere mit einem Finger über den anderen.“ Kurz nach seinem 22. Geburtstag notierte er: „Der dritte Finger ist vollkommen steif.“ Schumann versuchte es mit vielen Heilmitteln, auch mit Homöopathie, Magnetismus, Kräuterumschlägen und Handbädern in Branntwein. Er wühlte sogar im warmen Gedärm frisch geschlachteter Rinder. Auch erfand er eine „Cigarrenmechanik“, eine Vorrichtung, um die betroffenen Finger gerade halten zu können – doch das sorgte nur für neue Beschwerden. Mit 30 Jahren konnte Schumann mit der rechten Hand keinen Gegenstand mehr halten.
Prominente Betroffene
Der kanadische Pianist Glenn Gould galt allgemein als exzentrisch, hypochondrisch und zu Depressionen neigend. Besonders seltsam fand man, dass er mit 31 Jahren seine erfolgreiche Konzerttätigkeit beendete und fortan nur noch Studioaufnahmen machte. Goulds Tagebucheinträge und Studiofilme legen jedoch nahe, dass der Pianist unter ähnlichen Beschwerden litt wie einst Robert Schumann. Offenbar hatte Gould zunehmend Probleme, die linke Hand zu öffnen und den Ring- und Mittelfinger getrennt voneinander zu bewegen. 1977 notierte er über sein Spiel einer Komposition von Alfredo Casella: „Das Eröffnungsthema war unausgeglichen, die Töne schienen festzustecken, und skalenartige Passagen waren ungleichmäßig und unkontrolliert. Während der folgenden zwei Wochen wurden die Probleme größer. Es war sogar nicht mehr möglich, einen Bachchoral sicher zu spielen – Teile waren ungleichmäßig, der Übergang von Ton zu Ton unsicher.“
Ein Überforderungs-Syndrom
Das Krankheitsbild nennen wir heute „fokale Dystonie“. Als Auslöser gilt eine Überforderung und Übertrainierung von bestimmten feinmotorischen Abläufen. In früheren Zeiten, als die Leute noch stundenlang mit der Hand schrieben, kannte man dieses Syndrom auch als „Schreibkrampf“. Die immer wiederkehrenden, immer wieder eingeübten Feinbewegungen von Golfspielern, Uhrmachern, Zahnärzten, Chirurgen können ebenfalls zu fokalen Dystonien führen. Am bekanntesten ist die Krankheit jedoch bei professionellen Musikern („Musikerkrampf“). Die Finger- oder Hand-Dystonie kommt vor allem bei Pianisten, Gitarristen und Geigern vor, aber auch bei Flötisten und Klarinettisten. Rund 80 Prozent der Betroffenen sind männlich. Dies erklären Psychologen mit dem Lernverhalten von Männern: Sie seien beim Üben zwanghafter und leistungsorientierter, setzten sich unter einen höheren, oft auch angstbesetzten Erfolgsdruck. Die ausdauerndsten, verbissensten Perfektionisten gelten demnach als die heißesten Kandidaten für eine fokale Dystonie. Laut Statistik erkranken daran rund ein Prozent aller professionellen Musiker auf Solistenniveau (die Angaben reichen von 0,2 bis 2,0 Prozent).
Nach heutigem Wissen entsteht die fokale Dystonie aus einer Störung im Zusammenwirken von Muskel und Gehirn. Man muss sich klarmachen, dass virtuoses Klavierspiel mit zum Anspruchsvollsten gehört, was die Neuromotorik des Menschen leisten kann. Spitzenpianisten haben ihre Hände wesentlich schneller und exakter zu steuern als „gewöhnliche“ Menschen. Vladimir Horowitz, so haben Messungen ergeben, drückte bei Trillern zwei Tasten bis zu 13-mal pro Sekunde – und das mit höchster Präzision. Speziell die „schwachen“ Finger sind bei Klaviervirtuosen um ein Vielfaches stärker gefordert als bei ihren Mitbürgern. Neurologische Untersuchungen zeigen, dass bei Pianisten die Repräsentations-Areale dieser Finger in der Großhirnrinde stark vergrößert sind – zuweilen so stark, dass sie miteinander überlappen. Dadurch kann es quasi zu „Fehlschaltungen“ kommen, bei denen Muskeln aktiviert werden, die gar nicht „gemeint“ sind. Das würde erklären, warum die Handdystonie bei Pianisten überwiegend den dritten und vierten Finger betrifft.
Schmerzhafte Verkrampfungen
Nicht nur Pianisten leiden unter fokaler Dystonie. Reinhard Goebel, Gründer des ehemaligen Ensembles „Musica Antiqua Köln“, galt einmal als „Zauberer“ an der Barockgeige. Später betrachtete er seine Dystonie an der Greifhand (links) mit fast zynischer Nüchternheit: „Ich habe mich überübt. Diese Krankheit musizieren sich ‚Aufsteiger‘ an.“ Der Jazzgitarrist Julian Lage, der als achtjähriges „Wunderkind“ schon mit Carlos Santana auftrat, erkrankte mit 26. „Ich war natürlich ein Kandidat dafür“, sagt er, „niemand war wirklich überrascht.“ Unter Blechbläsern kennt man die Krankheit auch als fokale Ansatz-Dystonie im Mund- und Kieferbereich. Robert Hilgers war 20 Jahre lang Solo-Posaunist der Düsseldorfer Symphoniker. Er erinnert sich: „Anfangs waren es nur kleine spieltechnische Schwierigkeiten in der leichten Mittellage der Posaune. Daraus entwickelte sich ein nicht zu kontrollierendes Zucken des Unterkiefers, was bis zur schmerzhaften Verkrampfung führte.“
Berühmt wurde der Fall des im August dieses Jahres verstorbenen Pianisten Leon Fleisher. Der Schüler Artur Schnabels galt als Jahrhunderttalent. Mit 16 Jahren feierte er sein Carnegie-Hall-Debüt mit den New Yorker Philharmonikern und machte danach viele bedeutende Plattenaufnahmen (Beethoven, Brahms, Mozart). „Die Symptome kamen ganz plötzlich“, erzählte Fleisher. „Auf einmal haben sich der vierte und fünfte Finger meiner rechten Hand während des Spielens eingerollt, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Innerhalb von nur zehn Monaten konnte ich nicht mehr mit meiner rechten Hand spielen.“ Es folgten langwierige Untersuchungen und Therapien, denn die fokale Dystonie war 1964 noch wenig bekannt. Die Mediziner vermuteten bei Fleisher alles Mögliche, von Parkinson bis zu bloßer Einbildung. In der Zwischenzeit entwickelte sich Fleisher zum Spezialisten für die Klavierliteratur für die linke Hand. Er gab 35 Jahre lang einhändige Konzerte, wurde auch ein erfolgreicher Dirigent und unterrichtete namhafte Pianisten. Mit rund 70 Jahren jedoch erlebte er sein sensationelles Comeback als zweihändiger Pianist. Die Behandlung mit Botox (Botulinumtoxin), die bei Fleisher erfolgreich war, ist heute die Therapie der Wahl bei fokaler Dystonie.
Therapien: Retraining und Injektionen
Dystonie ist nicht heilbar, aber behandelbar, wobei die Therapieaussichten im Frühstadium am besten sind. Leider ignorieren viele Musiker ihre Anfangsprobleme und kämpfen (vergeblich) dagegen an. Heute ist die Diagnose „fokale Dystonie“ relativ leicht zu stellen, doch stößt sie oft noch auf Skepsis. Der Posaunist Robert Hilgers sagt: „Diese Krankheit ist der allgemeinen Bevölkerung unbekannt. Man reagierte mit Erstaunen, Unkenntnis und Unverständnis. Die BfA schickte mich von einem Arzt zum anderen. EKG, EEG, Kernspintomografie und so weiter. Ich musste viele psychologische Untersuchungen über mich ergehen lassen.“ Erst seit 2017 ist die fokale Dystonie als Berufskrankheit von Instrumentalmusikern anerkannt.
Die Erstbehandlung zielt darauf ab, die von der Dystonie betroffenen Muskeln zu schonen und dem Bewegungsablauf beim Musizieren ein „Retraining“ oder „Retuning“ zu verpassen. Zum Beispiel wird versucht, das sensomotorische Erlebnis der Finger durch kleine Hilfsmittel und ergonomische Korrekturen zu stimulieren, etwa durch Handschuhe, Fingerschienen oder eine Aufpolsterung der Tasten. Auch der Bewegungsablauf im Großen und die Körperhaltung können „retrainiert“ werden Ein geübtes Körperbewusstsein hilft, andere, größere Muskeln stärker in Anspruch zu nehmen und so die problematischen Muskelpartien zu entlasten. Hierbei gibt es gute Behandlungserfolge mit Methoden wie Feldenkrais, Kinästhetik, Dispokinese oder Alexander-Therapie. Da die fokale Dystonie häufig durch psychische Komponenten begünstigt ist – Perfektionismus, Erfolgsdruck, Übungsstress, Versagensangst –, wird in der Therapie auf psychologische Behandlung großer Wert gelegt. Entspannungs- und Atemtechniken, Yoga, Autogenes Training und ähnliches sollen der Angst- und Stressreduktion dienen.
Medikamentös gibt es Erfahrungen mit verschiedenen krampflösenden Mitteln. Die Palette reicht von Marihuana bis hin zu Antiepileptika. Am häufigsten kommen Anticholinergika zum Einsatz, also Anti-Parkinson-Medikamente wie etwa Trihexyphenidyl.
Vielfach bewährt ist die Therapie mit Botulinumtoxin-Injektionen, die auch Leon Fleisher geholfen hat. (Allerdings ist Botox nicht für die Ansatz-Dystonien der Blechbläser geeignet.) Das Botox wird in kleiner Dosis gezielt in die betroffene Muskelfaser eingespritzt. Dort blockiert es den Transmitterstoff Acetylcholin, wodurch der Muskel praktisch gelähmt und stillgelegt wird. Der Nerv regeneriert sich aber nach einiger Zeit, weshalb die Therapie etwa alle drei Monate wiederholt werden muss. Die Injektion verlangt jedes Mal Präzisionsarbeit und birgt daher Risiken. Wird der falsche Muskel getroffen, bleibt auch er für drei Monate gelähmt.
Eingriffe im Gehirn – etwa die Tiefe Hirnstimulation, die bei Parkinson, Tourette und schwerer Dystonie Anwendung findet –, sind bei fokalen Dystonien bisher nicht üblich. 2017 jedoch ging eine kuriose Meldung durch die Presse, wonach sich der indische Gitarrist Abishek Prasad wegen einer fokalen Dystonie seiner Hand einer speziellen Hirnoperation unterzogen hatte. Dabei wurden Elektroden in seinen Kopf eingeführt, um gezielt die betroffenen Nervenzellen im Gehirn „wegzubrennen“. Zur Kontrolle des Erfolgs blieb der (lokal betäubte) Patient während der Operation wach und versuchte auf dem OP-Tisch seine Gitarre zu spielen. „Nach dem sechsten Brennvorgang öffneten sich meine Finger“, erzählte Prasad danach. „Jetzt habe ich beim Bewegen der Finger keine Probleme mehr.“
Fachliche Beratung für Betroffene (auch Ambulanz) bieten unter anderem folgende Hochschuleinrichtungen an:
• immm (Institut für Musikphysiologie und Musiker-Medizin), Hannover
www.immm.hmtm-hannover.de
• Kurt-Singer-Institut für Musikphysiologie und Musikergesundheit
http://ksi-berlin.de/
• Freiburger Institut für Musikermedizin
https://fim.mh-freiburg.de/
• Institut für Musikermedizin der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden
www.hfmdd.de
• Peter-Ostwald-Institut der Hochschule für Musik und Tanz Köln
https://poi.hfmt-koeln.de/