Am Ende von Steven Spielbergs neuem Film „The Fabelmans“ gibt es eine wunderbare Szene, die ich hier aus inhaltlichen Gründen spoilern muss:
Der junge Fabelman (=Spielberg) besucht die Hollywood-Studios und bekommt die überraschende Gelegenheit, sein Regieidol John Ford im Büro zu besuchen. Der alte Mann lässt ihn erst einmal lange warten, zündet sich umständlich eine Zigarre an und fordert dann den schüchternen jungen Sam Fabelman (=Spielberg) auf, zwei Cowboy-Bilder an der Wand anzuschauen. „Hast du Ahnung von Kunst? Dann sag mir, was du siehst.“ Ungeduldig unterbricht er den stotternden jungen Mann, als dieser ihm die Bilder zu konkret beschreibt. „Das interessiert mich alles nicht. Schau nochmal hin. Wo ist der verdammte Horizont?“. Sam stellt fest, dass dieser bei dem einen Bild am unteren Bildrand, beim zweiten Bild am oberen Rand ist. „Und das ist alles, was Du wissen musst: Wenn der Horizont unten ist, ist es interessant. Wenn der Horizont oben ist, ist es interessant. Wenn der Horizont in der Mitte ist, ist es langweilig. Und nun hinaus mit Dir!“.
Mir hat diese Szene vor allem deswegen so gut gefallen, weil sie etwas auf den Punkt bringt, was ich meinen Studierenden auch immer wieder zu vermitteln versuche, wenn auch ohne Zigarre und mit etwas mehr Geduld. Für mich geht es hier um das Konzept des Besonderen, das in der Kunst immer eine Rolle spielt. Was bedeuten die unterschiedlichen Horizonte in der Ästhetik von Bildern? Der Horizont am unteren Rand ist der Blick in die Ferne, in die Unendlichkeit. Der Horizont am oberen Rand ist der Blick von oben auf das Geschehen, der die dargestellten Personen in den Mittelpunkt rückt. Der Horizont in der Mitte aber ist das, was wir normalerweise sehen, der alltägliche Blick auf Augenhöhe.
Es hat schon einen Grund, warum wir auf Berge klettern, um zum Beispiel einen „besonderen“ Ausblick zu genießen. Die Sicht vom Berggipfel ist nichts Alltägliches, sie ist ein echtes Erlebnis, weil sie nicht unserer normalen Perspektive entspricht. Nicht jeden Tag klettern wir auf einen Berg, daher bleiben uns die Momente auf dem Gipfel in Erinnerung.
Dasselbe erwarten wir von einem guten Konzert – nicht den Alltag, nicht das Normale, sondern das Außergewöhnliche, das wir im Gedächtnis behalten wollen. Ein gutes Konzert ist nicht einfach so da, sondern das Resultat langer Vorbereitung von Musikerinnen und Musikern, die sich bemühen, auf der Bühne alles zu geben.
Natürlich ist das eine Idealvorstellung, die oft an der Wirklichkeit scheitert. Als Publikum merken wir sofort, wenn zum Beispiel ein Orchester eher „Dienst nach Vorschrift“ macht, anstatt sich leidenschaftlich auf eine Interpretation einzulassen. Das mag daran liegen, dass für die Orchestermusiker ein Konzert auch ein bisschen Alltag ist, aber sie wissen genau, dass es immer für alle besser ist, wenn auch Hingabe dabei ist. Denn die heiligste Regel des Betriebs ist nicht zu Unrecht „The Show must go on“ – man gibt alles, egal wie man sich fühlt und egal unter welchen Umständen.
Dasselbe muss aber auch für die dargebotenen Werke gelten. Und da unterschätzen viele Komponierende, dass man als Hörerin durchaus merkt, wenn „der Horizont in der Mitte“ ist, wenn also etwas einfach nur „gut“ aber eben nicht besonders ist. Das hat mit Stilistik und Ästhetik nichts zu tun, sondern geht auf den Grund der Sache.
Für das Komponieren bedeutet das, dass man sich nicht schnell zufrieden geben darf. Klar, mit Erfahrung kriegt man schnell etwas hin, das niemanden enttäuschen wird und nach technischen Gesichtspunkten „ok“ ist. Aber das reicht nicht. Der Schritt zum Kunstwerk ist das Quäntchen Besonderheit. Wenn es fehlt, ist das Ergebnis alltäglich – man ist nicht gestört, aber auch nicht begeistert. Warum sind zum Beispiel Bach oder Haydn so unglaublich gut? Weil sie in der Lage waren, selbst in der Routine, selbst in der hundertsten Kantate oder der 100. Symphonie, immer noch den besonderen Moment zu suchen, den außergewöhnlichen Blick auf die Dinge, der unvergessen bleibt.