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Kunstmusikalische Versenkung: Pierre Boulez. Foto: Charlotte Oswald
Kunstmusikalische Versenkung: Pierre Boulez. Foto: Charlotte Oswald
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Die B-Seiten der zeitgenössischen Musik

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Bye-Bye: ein doppeltes Epitaph auf Pierre Boulez und David Bowie
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Es ist nicht nur ein Wortspiel mit Initialen, wenn hier mit nachrufendem Ohrenmerk auf und mit der doppelten Verneigung vor Pierre Boulez und David Bowie von den „B-Seiten“ der zeitgenössischen Musik die Rede ist: Die Rückseiten von Schallplatten sind mehr als die beschränkende Eigenschaft eines vor-digitalen Mediums. Sie sind vielmehr Symbol für die musikhistorische „dark side of the moon“: für diffus-faszinierende Klangereignisse jenseits des kulturindustriellen Scheinwerferlichts.

Auf den ersten Blick erscheint es absurd, den Grandseigneur der Neuen Musik und den „Thin White Duke“ anlässlich ihres Todes in einem doppelten Epitaph zu ehren. Auf den zweiten Blick aber eröffnet die Koinzidenz des Heldensterbens eine produktive Perspektive auf die charakteristische Dialektik der zeitgenössischen Musikkultur. Verbleibt man im Bild der klingenden Moderne als einer Vinylscheibe, so repräsentieren Bowie und Boulez die Sezession der zeitgenössischen Musik: Hier der schillernde Entertainer Bowie, dort der intellektuelle Musikrevolutionär und Dirigent Boulez. Und doch waren sie beide Avant-gardisten im Wortsinn: Sie erschlossen Neuland zu einer Zeit, als die helle und die dunkle Seite des Musikmondes noch korrespondierten und lassen so bei aller Gegensätzlichkeit die scheinbar in Stein gemeißelte Klassifizierung der zeitgenössischen Musik in E- und U-Sparte bröckeln.

Nimmt man Lebenswerk und Wirkung ernst, gehört zweifelsfrei dem „Starman“ die A-Seite: denn ein Weltstar war David Bowie. Sein „Glamrock“ – schillernd wie eine Oberfläche aus Vinyl. Ihn deshalb gänzlich dem Pop abzutreten, wäre dennoch ein falscher Schluss. Genau genommen passt nur die sichtbare Spitze seiner Arbeit dorthin: Die pomadig glänzende Disko-Hymne „Let’s Dance“ ganz bestimmt. Seine über 50 ohrenschmeichelnden, aber immer komplexen und niemals langweiligen Top-Ten-Singles nur vielleicht. Viele seiner besten Stücke aber, die herausfordernden Konzeptarbeiten, sind nur bedingt der Popkultur zuzuordnen und finden sich nicht zufällig auf den Rückseiten seiner LPs: Die diffusen Soundexperimente auf den B-Seiten seiner Berlin-Trilogie „Low“, „Heroes“ und „Lodger“ etwa, auch das großartige, zwischen Noise und Industrial changierende Konzeptalbum „Outside“ (1995) oder sein unterschätzter Drum-and-Bass-Beitrag „Earthling“ (1997). Spielerisch meisterte das „Chamäleon“ die ständige Neuerfindung seiner selbst; etwas an dem die „ernste“ Avantgarde stets krankte. Ein letztes Beispiel seiner im Wortsinne avant-gardistischen Wandlungsfähigkeit ist sein musikalisches Vermächtnis, „Blackstar“: Das düstere, von Experimentaljazz getragene Klangtestament würde bestimmt nicht in den Verkaufscharts landen – wäre es nicht Bowie, der große Schattenmann der stilbewussten Popkultur. Er mag das Vorbild für die Inszenierungspraktiken aktueller Popsternchen wie Lady Gaga sein; aber der „Starman“ sollte nicht so einfach der Unterhaltungsindustrie überlassen werden.

Androgyner Mondschwärmer

Näherliegend für ein E- und U-Musik umspannendes Doppelepitaph wäre ein kontrafaktischer Nachruf auf den „ernsten“ Gegenpart David Bowies: Karlheinz Stockhausen. Die elektronischen Klänge von „Papa Techno“ muteten vielen Hörern wie Musik von einem anderen Planeten an; dagegen machten Major Tom und Ziggy Stardust ihr irdisches Alter Ego zum Popstar-Alien. Von der hellen- wie auch der dunklen Seite des Musikmondes machten beide mit der Ästhetisierung weltpolitischer Gewaltinszenierung Skandal: Bezeichnete der Komponist die Anschläge von 9/11 als „größtes Kunstwerk“ – und gab damit vor allem ein Statement zu den Mechanismen massenmedialer Ereignisinszenierung ab – hatte dies David Bowie bereits 1976 vorgemacht: „Adolf Hitler war einer der ersten Rockstars“, verkündete dieser und lieferte eine kontrovers-treffende, wenngleich oft unterschlagene Erklärung: „Wie er sich bewegt hat! Wie er das Publikum im Griff hatte! Er war ein Medienkünstler.“

Der androgyne Mondschwärmer erkannte mit seinem unangemessenen Vergleich die intrinsische Verbundenheit von Politik und Theater und schloss in abstoßender Bewunderung: „Er inszenierte ein ganzes Land.“ Bowie begnügte sich mit der Inszenierung seiner selbst und durchschaute dabei wie kaum ein anderer die Wahrheiten der technischen Welt. Dem Flower-Power setzte der „Man Who Fell to Earth“ die „fremdartige, entmenschlichte Welt“ entgegen, „mit der wir es in einer technologischen Gesellschaft zu tun haben.“ Man kann sich nur zu gut vorstellen, wie zwischen Bowies überirdischer Destination, dem „Blackstar“, und dem von Karlheinz Stockhausen besetzten Sirius Funksignale ausgetauscht werden: stereophon und damit zweikanalig wie die zeitgenössische Musikkultur.

Folgt man solch kontrafaktischen Gedankengängen würden sich auch für Pierre Boulez andere Gewährsmänner aufdrängen. Etwa Frank Zappa, dessen „Perfect Stranger“ Boulez 1984 seinem Ensemble InterContemporain dirigierte. Statt massenbewegenden Vordenkern stand seine puristisch-konstruktivistische Musik im Geist der französischen Kulturphilosophie. Michel Foucault etwa bekannte, seine „Ordnung des Diskurses“ sei auf den „choc“ der seriellen Musik zurückzuführen, die ihn aus dem „dialektischen Universum“ herausgerissen habe. Mit dem Serialismus war Boulez nach 1945 angetreten, die heile Welt der Tonalität unter einer radikalen Negation der Vergangenheit zu revolutionieren. Als ein Vordenker der „Darmstädter Schule“ installierte Pierre Boulez einen autonomieästhetischen Fortschrittsimperativ, machte die Neue Musik zu einer Bastion der permanenten Revolution und forderte: „Sprengt die Opernhäuser in die Luft!“ – um nur wenig später in Bayreuth den „Jahrhundertring“ zu dirigieren. Der unbedingte Innovationsgeist der Nachkriegsavantgarde mündete in einem „Absolutismus der Moderne“, in dessen Zuge „Robbes“-Pierre Boulez verfügte, dass „jeder Komponist unnütz ist, der sich außerhalb der seriellen Bestrebungen stellt.“ Er prägte diesen Satz 1951, als der gerade einmal 26-jährige Komponist nur wenige Wochen nach dem Tode der Vaterfigur aller Neuen Musik verkündete: „Schönberg est mort!“

Nun heißt es also: ‚Boulez est mort‘! Der Abgang des letzten Königs der Nachkriegsavantgarde kann wiederum Energien für die Neue Musik freisetzen und einen längst überfälligen Generationenwechsel einleiten. Die Formeln dazu gab Pierre Boulez mit seinem Schönberg-Aufsatz selbst zu Hand: Darin bemerkte er, die „wesentliche Erfahrung, die sein Werk bietet“ bestehe darin, „daß es verfrüht ist, verfrüht insofern, als es ihm an bewußtem Wagemut fehlt.“ Wie Boulez 1951 betonte, geht es auch heute nicht um eine „lächerliche Verteufelung“, wenn man sein Werk als „verspätet“, als ein Relikt aus der letzten Goldenen Ära der Neuen Musik deklariert, die auch im 21. Jahrhundert noch den Takt vorgibt.

Boulez est mort!

An Wagemut fehlte es Boulez sicher nie, und zwar dem größtmöglichen: Der Franzose setzte extreme Reduktion, sperrige Präzision und konstruktivistischen Intellektualismus dem Tosen der Popindustrie entgegen. Aber die „seriellen Bestrebungen“, die Boulez 1951 zum Credo erklärte, und selbst die postserielle Musik kann nach dem postmodernen Exitus und der digitalen Revolution das Fahrwasser nicht mehr bestimmen. „Hüten wir uns“ also, noch einmal gesprochen mit der Schönberg-Polemik des jungen Pierre Boulez selbst, den Grandseigneur der Nachkriegsavantgarde „als eine Art Moses anzusehen, der im Angesicht des Gelobten Landes stirbt“. Denn der musikalische Garten Eden kann nicht im autonomieästhetischen Elfenbeinturm liegen. So wie Boulez „nicht das geringste Interesse an einem törichten Skandal“ bekundete „wenn wir jetzt ohne Zögern sagen: Schönberg ist tot“, so zögert man auch heute nicht, in aller Ehrerbietung zu schreiben: Boulez est mort!

Wenn sich für David Bowie und Pierre Boulez auch jeweils andere Gewährsmänner für die je andere Seite der zeitgenössischen Musikkultur anbieten, so soll der Gedanke eines doppelten Epitaphs doch einmal ernst genommen werden. Die beiden verkörpern Licht- und Schattenseite der zeitgenössischen Musik, A- und B-Seite der musikalischen Moderne, gedacht als eine Scheibe. Der eine steht für die kunstmusikalische Versenkung, der andere für die popmusikalische Inszenierungslogik – und doch eint die gegensätzlichen Lichtgestalten eine ikonische Aura. Wer beide Charismatiker live erleben durfte, der konnte zwei extreme Positionen intensiver Musikzelebration erfahren: Die Bühnenpräsenz des französischen Grandseigneurs lebte von extremer Reduktion der Mittel, dagegen erhob der britische Gentleman die Inszenierungslogik zu einer Kunstform. Kehrte der erste dem Publikum den Rücken zu, um sich ganz seinen Musikern und dem reinen Klangereignis zu widmen, dirigierte der andere das Publikum und nutzte die Gesetze der Kulturindustrie gleichermaßen, wie er sie aushebelte.

„Boulez est mort!“ Bowie aber ist ein Untoter. Zeit seines Künstlerlebens zelebrierte der stil- und klangbewusste Popavantgardist die dialektische Kunst von Untergang und Auferstehung. Als der 26-jährige Brite 1973 sein erfolgversprechendes Alter Ego Ziggy Stardust den Bühnentod sterben ließ, inszenierte er den „Rock’n’Roll Suicide“ als Genesis: indem er sich in neuer Gestalt immer wieder wie Phönix aus der Asche erhob. Er machte vor, wie die ewige Innovationslogik des Avantgardegedankens mittels Persönlichkeitsspaltung eine ganze Karriere tragen kann: indem „Heroes“ ihre Plätze immer wieder neuen Helden und Konzepten räumen mussten. Seine letzte und bleibende Inszenierung ist der „Blackstar“, der selbst die Logik der Medien und des Musikmarktes außer Kraft setzt: Die B-Seite seines klingenden Vermächtnisses beließ Bowie komplett in schwarz und verhilft so einem vor-digitalen Musikmedium zu einer Renaissance: Die Original-Vinyls des „Starman“ werden im Internet zu galaktischen Preisen angeboten – und damit erleben auch die diffus-faszinierenden B-Seiten von LPs eine Wiederauferstehung.

Bye Pierre Boulez. Bye David Bowie. Bye Bye –

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