Er ist der große Solitär der Gegenwartsmusik. Seine künstlerische Entwicklung verlief im Spannungsfeld von zwei politischen Systemen, und seinen Weg musste er ganz allein finden. Mit achtzig Jahren kann Arvo Pärt nun auf ein Lebenswerk zurückblicken, das weder Vorläufer noch Nachahmer kennt, aber ihn zu einem der meistaufgeführten Komponisten der Gegenwart gemacht hat.
Das Geheimnis seines Erfolgs liegt wohl darin, dass er ihn nicht gesucht hat. Estland, wo er am 11. September 1935 geboren wurde, war eine Sowjetrepublik, und Musik wie die seine, die nicht auf Parteilinie war, hatte es ohnehin schwer. So richtete er seine ganze Energie jahrelang nach innen und feilte mit hoher Disziplin an seiner unverwechselbaren Handschrift. Im 2010 gegründeten Arvo Pärt Centre an seinem Wohnort Laulasmaa, einem Dorf mitten in den Wäldern, eine Autostunde außerhalb der estnischen Hauptstadt Tallinn, liegen heute die Zeugnisse dieser klösterlich-strengen Exerzitien. Zehn wissenschaftliche Angestellte, sechs davon in Vollzeit, sind mit der Aufarbeitung der Materialien beschäftigt. Das Institut ist privat und wird von der Familie Pärt geführt, für 2017 ist ein großer Neubau geplant. Heute sind die Hunderte von Skizzenheften, die seine akribische Arbeit am Material dokumentieren, noch in engen Regalen gestapelt. Ihr Inhalt: lange Zahlenkolonnen, die an mathematische Reihen erinnern, einstimmige, endlos variierte Notenfolgen, mit dünnem Bleistiftstrich fein filetierte Verszeilen der vertonten Texte, handwerkliche Kommentare und kalligrafische Formskizzen. Pärt nennt diese Arbeitshefte „Tagebücher“, und tatsächlich protokollieren sie auf minutiöse Weise den Tages- und Jahresablauf eines musikalischen Geistesarbeiters, der durch meditative Konzentration auf seinen Gegenstand dem Klang und seiner Wahrnehmung ganz neue Dimensionen erschlossen hat.
Zwölftönige Proteststücke
Pärts frühe Kompositionen sind zwölftönig. Über seinen Lehrer Heino Eller in Tallinn und den rumänischen Webern-Schüler Philipp Moisejevic Herscovici, der gelegentlich auftauchte, erwarb er sich heimlich Kenntnisse über die verbotene Technik. Sein 1960 komponierter „Nekrolog“, ein zwölftöniges Proteststück, verursachte ihm nach einer Aufführung in Moskau viel Ärger. Von nun an hatten ihn die Parteiaufpasser auf dem Radar. Das unheimliche, mit sich verdichtenden Überlagerungen gearbeitete „Perpetuum mobile“, uraufgeführt 1963 beim Warschauer Herbst, widmete er Luigi Nono, mit dem sich bei dessen Besuchen hinter dem Eisernen Vorhang eine herzliche Beziehung entwickelte. „Ein wahrer Utopist“, erinnert sich Pärt in seinem langen, 2010 in der Universal Edition Wien erschienenen Gespräch mit Enzo Restagno, „er hatte auch großes Interesse an der russischen Religionsphilosophie.“
Es folgte ein Phase, in der sich Pärt in die Musik Bachs vertiefte. Den Abschied von der Dodekaphonie und von der expliziten politischen Aussage nahm er 1968 mit „Credo“ für Klavier, Chor und Orchester, das bei der Uraufführung in Tallinn unter Neeme Järvi vom Publikum gefeiert wurde, aber einen politischen Skandal verursachte. Christliches Bekenntnis, Bach-Collage und ein bruitistischer atonaler Ausbruch waren für die Partei eine toxische Mischung, was für Pärt mehrere Verhöre nach sich zog. Bis zu seiner Übersiedlung 1980 nach Wien hatte er nun einen schweren Stand.
Tintinnabuli
Von 1968 bis 1977 komponierte Pärt kaum noch. Er zog sich ganz zurück und entwickelte in jahrelanger Arbeit das, wofür ihn die Welt heute kennt: den „Tintinnabuli“-Stil, benannt nach dem lateinischen Wort für „Glöckchen“. Er beruht auf den einfachen Grundelementen Tonleiter und Dreiklang, die jedoch nach einem komplexen Regelwerk in ein, so Pärt, „hochformalisiertes Kompositionssystem“ eingebunden sind. Die linearen Prinzipien sind aus der Gregorianik und den Psalmen abgeleitet.
Das Einfache, das schwer zu machen ist: Was Brecht einst als kommunistische Utopie formulierte, verwirklichte Pärt unter dem realen Kommunismus in einer musikalischen Sprache, die an die Stelle jener Utopie die religiöse Aussage setzt. Ein Aufstand des Geistes gegen die materialistische Weltsicht, formuliert mit technisch verschlüsselten, emotional unerhört aussagestarken Klängen. Seine Musik zielt ohne Umwege direkt auf das Innere, bedächtig im Tempo, sanftmütig im Ton und ohne überreden zu wollen. Der „pensiero debole“, das „schwache Denken“, das Gianni Vattimo um 1983 aus westlicher Sicht als postmodernes Symptom einer Krise des Subjekts ins Gespräch brachte, wird hier aus osteuropäischer Perspektive zum aktiven Prinzip gewendet: zum Triumph des schwachen Subjekts über die Verhärtungen des Hörens, Denkens, Fühlens. Und über die erstarrten politischen Verhältnisse. Ähnliches hatte auch der späte Nono angestrebt. Pärt erweist sich hier als ein typischer Angehöriger der geistigen Elite Ost- und Mitteleuropas, die den gewaltlosen politischen Widerstand praktizierte und sich dabei auf christlich-religiöse Grundsätze abstützte. Im durchsäkularisierten Westeuropa stieß diese Position lange auf Skepsis, obwohl ihr die Geschichte Recht gegeben hat. Pärt musste das nicht stören. Seine Musik als Träger dieser Ideen findet heute auf allen Kontinenten offene Ohren. Mit ihren zerbrechlichen, in dauernder Verwandlung befindlichen Strukturen und ihren genau kalkulierten Spannungsverläufen spricht sie den Laien und den bewussten Hörer gleichermaßen an. Viele seiner Werke haben einen Popularitätsgrad erreicht, um den ihn die Konkurrenz beneiden dürfte. Dazu gehören Instrumentalstücke wie „Summa“ oder „Festina lente“ für Streichorchester, „Fratres“ für Violine und Klavier oder das Konzert „Tabula rasa“ für zwei Violinen, präpariertes Klavier und Kammerorchester.
Dass diese im Musikleben dauerhaft Wurzeln schlagen konnten, verdankt sie auch renommierten Interpreten wie Gidon Kremer, dem Estnischen Philharmonischen Kammerchor unter Tõnu Kaljuste, dem Ensemble Vox Clamantis oder dem Hilliard Ensemble, die sie in ihr Repertoire aufnahmen, und einem Plattenproduzenten wie Manfred Eicher. Er begann als einer der ersten mit Pärt zu arbeiten und eröffnete 1984 mit „Tabula rasa“ die „New Series“-Reihe von ECM.
Klang und Wort
Doch Pärt ist vor allem ein Vokalkomponist. „Die Worte schreiben meine Musik“, sagt er, und: „Der Klang ist mein Wort.“ Sprache und Musik gehen in seinen meist syllabisch komponierten Vokalwerken eine enge Verbindung ein. Eine kürzlich vom Pärt Centre veröffentlichte Dokumentation nennt 84 Titel. Eines der jüngsten Vokalwerke ist „Adam’s Lament“ für Chor und Streichorchester. Es basiert auf einem Text des russisch-orthodoxen Mönchs und Mystikers Siluan und handelt von Adam, dem Urvater der sündigen Menschheit. Dass die Uraufführung 2011 in Istanbul mit türkischen und estnischen Interpeten und in Anwesenheit der Staatspräsidenten beider Länder stattfand, war ein Zeichen für die integrative, alle Gegensätze überwindende Kraft von Pärts Musik.
Dieses Werk wurde nun zum Kernstück eines Musiktheaterwerks, das im Mai dieses Jahres in Tallinn in einer U-Bootfabrik aus Sowjetzeiten zur Uraufführung kam, inszeniert von Bob Wilson. Zwei Meister der Entschleunigung und Sucher nach Schönheit, der introvertierte Este und der perfektionistische Texaner, trafen hier erstmals aufeinander und verstanden sich prächtig. Die Aufführung war ein internationales Ereignis. Zum Geburtstag am 11. September wird die Aufzeichnung in vielen Ländern im Fernsehen übertragen, das Label Accentus bringt die DVD heraus. Mit achtzig fährt Arvo Pärt nun die Ernte seines Schaffens ein.