Nachhaltigkeit und Partizipation sowie Integration und auch Inklusion sind für Festivalmachende das Gebot der Stunde. Gute Einstudierung mit reichlich Probenzeit und exzellenter Aufführung genügt schon lange nicht mehr, um bei fördernden und finanzierenden Institutionen Etats locker zu machen. Außerdem steht das Nur-Musik-Hören im Konzertsessel seit einiger Zeit im Verdacht ganz passiv das kulturelle Sahnehäubchen von unserem subventionierten Musikleben einfach bloß abzuschöpfen, womöglich noch zu Richard Strauss’ Ballettmusik „Schlagobers“ (Autor schnalzt mit der Zunge). Denn auch das will schließlich gelernt sein, das Hören, sprich: Das Werk braucht Vermittlung und Kontextualisierung, um nicht nur die Kenner und Liebhaber der doch zahlreichen Musikangebote zu gewinnen, sondern tatsächlich in die Mitte der Bevölkerung und dort zu breiterer Akzeptanz zu gelangen.
Darin ist das Ensemble Modern tatsächlich ein Spezialist ersten Ranges. In seinen Mitgliedern finden wir nicht nur die wahrscheinlich umfassendste Poetik der Neuen Musik der letzten gut 30 Jahre auf sehr vielen Beinen – was dringend wissenschaftlich abgerufen werden müsste, denn es steht eben nicht alles in der Partitur, was man für den Saaleinbau eines Werks braucht – sondern auch exzellente Musikvermittler, die sich seinerzeit noch als junges Publikum im Matsch des New Jazz Festivals Moers gewälzt haben, Frank Zappa erheblichen Nachruhm verschafften oder Helmut Lachenmann durch ihre werktreue Einspielung von „Mouvement – vor der Erstarrung“ zu größerer Streuung im klassischen Musikleben verhalfen. Kurzum: Sie sind mit allen Wassern gewaschen.
Die ehemalige Ensemble-Modern-Oboistin und Komponistin Cathy Milliken betreute sogar viele Jahre hindurch das Education-Programm der Berliner Philharmoniker und schuf dort erfolgreich gänzlich neue Vermittlungsformate, oft mit dem Ensemble-Modern-Flötisten Dietmar Wiesner zusammen, Gründungsmitglied des Ensembles und ein Mann, der weiß, wovon er spricht, wenn er das Wort Neue Musik in den Mund nimmt. Wiesner konnte jetzt gemeinsam mit dem Ensemble-Modern-Geschäftsführer Chris-tian Fausch, dem hr-Musikchef und Manager des hr-Sinfonieorchesters Michael Traub sowie mit dem hr-Neue- Musik-Redakteur Stefan Fricke ein wirklich alle Sinne auf sehr hohem Niveau ansprechendes Programm für die mittlerweile vierte Frankfurter Biennale für Moderne Musik „cresc...“ auf die Beine stellen. Aufführungen fanden zudem in Wiesbaden und auch Hanau statt. Darmstadt fehlte in dieser Ausgabe, das kann sich aber wieder ändern.
Unter einem Hut
Unter dem Festivalmotto „Transit“ bekamen die Planer viel unter einen Hut, denn natürlich ist alles irgendwie „Transit“, also Durchgang, Übergang. So allgemein verstanden, hätte man das Festival auch „Wetter“ nennen könne. Wetter ist immer und überall. Musikalisch verstanden berührt „Transit“ allerdings das Wesen der Musik, nämlich durch die Zeit zu gehen und sich dabei stetig zu verwandeln. Gleiches gilt natürlich auch für gesellschaftliche und politische Prozesse. Das war der Trick bei der Sache. Hinter „Tranist“ steht natürlich immer der Impetus, dass die Verhältnisse sich bessern mögen. Insofern ist „Transit“ dann sogar ein Motto in ganz eigener Sache.
Mit dem israelischen Dirigenten Ilan Volkov, zur Zeit Chefdirigent des isländischen Sinfonieorchesters, als Leiter mehrerer Festivalkonzerte und Kurator eines Minifestivals im Festival zum Werk der Komponisten Alvin Lucier, Jahrgang 1931, und Éliane Radigue, Jahrgang 1932, sowie mit dem Komponisten Isang Yun, dessen einhundertster Geburtstag zu begehen und dessen transitorisches und auch gefährdetes Leben zwischen den politischen Systemen und der europäischen und asiatischen Kultur zu bedenken war, hatte das Festival zwei tatsächlich übergängig wirkende Künstler als Festivalpfeiler gesetzt, auf deren Wirken und Werk das Ganze dann fußen konnte. Volkov leitete zwei großsinfonische Abende und Isang Yuns Werke durchsetzten unregelmäßig aber immer wieder kontrastreich die Programme.
Fragil und dadaistisch
Das Flüchtlingsprojekt „Crossing Roads“ fehlte ebenso wenig im Programm wie die tanzenden Instrumentalisten in „Hyperion – Higher States“ nach einem Konzept des Tänzers und Choreographen Kiriakos Hadjiioannou. Konzertierender Raumklang kam im großen Saal der Alten Oper mit dem Ensemble Modern und dem hr-Sinfonieorchester in Werken von Philippe Manoury und Zeynep Gedizlioglu eindrucksvoll zu Gehör. Mit Gedizlioglus Komposition „Verbinden und Abwenden“ (2016) für ein Ensemble aus 14 Solisten und Orchester in Deutscher Erstaufführung wurde „Transit“ abermals verdeutlicht. Das teils sehr fragile und teils auch dadaistisch anmutende Werk ließ jedenfalls keinen Zweifel an der kompositorischen und auch interpretatorischen Kompromissfähigkeit aller Beteiligten. Mal lamentierend von sich weisend, mal ganz brav den leisen Klängen selbst nachlauschend war „Transit“ hier ein sehr inhaltlich gelungen reflektierter und klanglich doch auch sehr betörender Opener im Großen Saal der Alten Oper. Man möchte mehr von der in Izmir geborenen Türkin hören, die nach einem Kompositionstudium in Istanbul dann in Saarbrücken beim verstorbenen Theo Brandmüller, in Straßburg bei Ivan Fedele und schließlich in Karlsruhe bei Wolfgang Rihm studierte und 2012 den Förderpreis der Siemens Stiftung erhalten hatte. Ihre Biografie ist gelebter Transit.
„In Situ. Für eine Gruppe von Solisten, Streichorchester und acht im Raum verteilte Orchestergruppen“ (2013) von Philippe Manoury, wurde auf Wunsch des Ensemble Modern ins Programm genommen, weil es das Werk als beteiligtes Uraufführungsensemble in Donaueschingen mit aus der Taufe gehoben hatte, forderte dann alle klangtechnische und dirigentische Logistik, ähnlich wie bei Nonos „Prometheo“. Immer wieder attackieren sich die Instrumentengruppen und Solisten, es entstehen vorbeiflirrende konzertante Konstellationen, oft ganz plastische Klangbilder voller nachvollziehbarer Gestik. Das hr-Sinfonieorchester bildete mit dem Ensemble Modern in diesem Eröffnungskonzert sogleich einen sehr organisch atmenden Klangkörper bei aller Differenz der Aufgaben.
Enorm auch, wie selbstverständlich die Musiker des Ensemble Modern (Orchestra) in der Uraufführung „Spinning Lines“ für verstärkte Klarinette, Horn, Violine und Orchester des Franzosen Martin Matalon, Jahrgang 1958, sich als Solisten an der Rampe die Seele aus dem Leib spielen und damit auch zeigen, was noch möglich ist, wenn kein Tarifvertrag den Musikfluss stoppt: Die Musiker des Ensemble Modern spielen alle nach wie vor und mehr oder weniger auf eigene Kappe. Dass man in Matalons Werk als Intonationswunder auf dem Horn (Saar Berger), um keine Kapriole verlegener Klarinettist (Jaan Bossier) und ebensolcher Violinist (Giorgos Panagiotidis) seinesgleichen wohl schwerlich finden wird, sei hier auch deutlich gesagt. Wenn das nicht eine Rente wert ist? Pustekuchen!
Querschnitt musikalischen Konsumverhaltens
Komponist Martin Grütter war aus dem regelmäßig zum Festival stattfindenden Komponistenseminar hervorgegangen und jetzt mit einem Auftrag für seine Komposition „Allheilmittel“ für Orchester mit Klavier und Hyperklavier gewissermaßen promoviert worden. Grütter blickt da tief in einen Querschnitt musikalischen Konsumverhaltens. Was ist hier authentisch oder ist doch nur alles Zitat? Donnerblech trifft Viertelton, dann so etwas wie die Titelmelodie zu „Die Straßen von San Francisco“ oder war das eben ein Rihm-Zitat. Warum jetzt der gerade Beat vom DrumSet und das Orchesterglissando wie ein altes DKW-Motorrad – aus dem Keller raus schon Drehmoment und zwischendrin immer wieder die aus dem Niemandsland zu uns herüberwehenden, wabbelnden Hyperklavierklänge: Grütters Bewusstseinsstrom ließ förmlich den Sendesaal des HR beben – so muss die Ewigkeit des Rock klingen.
Gleiches geschah beim Free-Jazz-Konzert im Staatstheater Wiesbaden mit der groovigen hr-Bigband und den Solisten Alexander von Schlippenbach und Aki Takase zu vier Händen und an zwei Flügeln, unterstützt von von Schlippenbachs Sohn Vincent alias DJ Illvibe. Der hatte schon vor einigen Jahren mit der Bigband erolgreich eine CD produziert. Im ersten Set unterhielten sich Takase und Alexander von Schlippenbach an einem Flügel sitzend erst einmal über die Noten, während die Bigband unter der Leitung von Rainer Tempel schon einmal loslegte. Im Verlauf des einstündigen Konzerts kam es allerdings immer wieder zu sehr öffnenden Querständen zwischen allen vier Akteuren.
Von Schlippenbachs grummelnde, dann wieder fast traditionell phrasierende Spielart wurde von Aki Takases freier Haptik gewissermaßen konterkariert. Sohn Vincent scratchte mit viel Dreh seine schmatzenden Klänge da hinein. Mit von Schlippenbach als Dirigent konnten die Musiker dieser Weltklassejazzformation noch einmal zeigen, was jeder einzelne darunter versteht, wenn die Hände des Dirigenten plötzlich Fäuste werden oder er den Arm langsam im Halbkreis aufwärts führt. Das war schon sehr nah an Cage. Bei dem hätte man sich dann aber auch für tiefe Töne entscheiden können. Hat die Bigband nicht. Man muss ja nicht gleich alles machen, wie der Dirigent es will. Das wäre dann auch Jazz.
Im Konzert des Komponistenseminars unter der Leitung des sehr kundigen Enno Poppe zeigte das Ensemble Modern noch einmal seine weite Bandbreite. In Malte Giesens „Surrogate/Extension für großes Ensemble, Klavier und Keyboard“ (2017) kam noch einmal heraus, wo Teile der jüngeren Komponisten stehen. Giesen ergänzt den Flügel mit eher schlechter klingenden Keyboardklängen. Das versteht er einerseits ganz traditionslos als Ergänzung ins Unreine, dann aber auch als Erweiterung der Gattung Klavierkonzert. Teilweise mit schablonenartigen Klängen wie ein ziemlich stones Kurorchester, bei dem die Musiker meinen, sie spielten in diesem Zustand besonders inspiriert. „Shimmer II für Ensemble“ (2017) von Matej Bonin war am ehesten als Neue Musik, wie man sie sich landläufig vorstellte, zu identifizieren: Fragment an Fragment gereiht, aufgescheuchte Violinen und eingestreute Klaviertriller oder aber fette Akkorde im Tutti und insgesant sehr mysteriös gehalten, das Ganze, dabei mitreißend gespielt vom Ensemble Modern. Die Namen muss man sich merken. Gesang kam von den SWR-Vokalsolisten in der exakt und entschieden von Peter Rundel geleiteten Aufführung von Luigi Nonos epochalem „Il Canto sospeso“ für Sopran, Alt, Tenor-Solo, Chor und Orchester mit dem hr-Sinfonieorchester. Schon allein für den Besuch dieser wirklich ergreifenden Aufführung hätte sich der ganze Aufwand gelohnt. Oder, wie es Hans Werner Henze nach der ersten Münchener Biennale für heutige Ohren ganz unzeitgemäß formulierte: „Wir haben das Geld sinnvoll verbraten.“ So auch bei cresc...