2013 hatte die Bonner Pianistin Susanne Kessel ihr Projekt „250 piano pieces for Beethoven“ gestartet, nun ist bei zwei Konzerten im Kammermusiksaal des Beethoven-Hauses der 10. und letzte Band der dazugehörigen Notenedition vorgestellt worden. Aus 250 sind mittlerweile 260 Stücke geworden, rund 150 Komponisten aus 47 Ländern waren in den Vorjahren zur Uraufführung ihrer Werke angereist, und dann kam Corona und machte dem großen Finale erst mal einen Strich durch die Rechnung. Dennoch, abgearbeitet ist das Projekt für Kessel noch lange nicht: die letzten Korrekturfahnen sind gerade erst gelesen, viele Stücke müssen noch für eine spätere Veröffentlichung aufgenommen werden. Insgesamt aber kann man sagen: Es ist vollbracht.
Nur die große Geburtstagssause zum Finale musste ausfallen, soll aber nachgeholt werden. Stattdessen gab es ein Finale auf Sparflamme: zwei Kurzkonzerte mit reduziertem Publikum und ohne anwesende Komponisten mussten vorerst reichen – wobei „kurz“ bei Kessels immer wieder unglaublichem Pensum relativ ist: pausenlose Abende mit zweieinhalb Stunden Netto Musik und zahllosen Vorstellungen und Gesprächen waren eher die Regel als die Ausnahme für dieses Mega-Projekt.
Charakteristisch für die Konzerte war stets ein Mix zwischen bekannten Stücken und Uraufführungen. Das ermöglichte aufschlussreiche Wiederbegegnungen, im Vordergrund stand aber immer die Neugier, das Entdecken neuer musikalischer Horizonte. Altbekannt nach so einigen Konzerten waren etwa York Höllers „Weit entfernt und doch so nah“, Oliver Drechsels „Dreaming of E.“ oder Mike Garsons „Pathéthique Variations“. Auch Kai Schumachers „A little moonlight music“ oder Markus Schimpps „Ludwig at the silent movies“, beides ebenso eingängige wie konzise komponierte Stücke, haben in jedem Fall das Zeug zum Klassiker. Dass die Stücke aus Kessels Projekt das Potential hierzu haben, verrät nicht zuletzt die Tatsache, dass sie mittlerweile schon in Wettbewerben gespielt werden und zum Lehrprogramm von Musikhochschulen gehören. Eine Entwicklung, die der enormen, auch musikhistorischen Bedeutung des Projektes Rechnung trägt. Auf die Frage nach dem Klang unserer Zeit geben Kessels „250 piano pieces for Beethoven“ mit ihrer riesigen stilistischen und globalen Bandbreite jedenfalls eine spannende Antwort, vielleicht die spannendste derzeit.
Das zeigte sich immer wieder in den Stücken, die bei den Konzerten uraufgeführt wurden: jenes von Loy Wesselburg etwa, der mit „beethoven transforming gaps“ eine reizvolle Collage von Text und Beethoven-Fragmenten im Geist des ZEN geschaffen hat, und von Ralf Soiron, dessen „Tetrachord I“ auf einem Viertonmotiv basiert, das den Ausgangspunkt für vielgestaltige klangliche und harmonische Entwicklungen mit zum Teil expressiver Gestik ist. Johannes X. Schachtners MADEAM basiert auf verschiedenen von Beethovens Musik abgeleiteten Motiven und kontrastiert harsche Cluster mit fragilen harmonischen Feldern, während Odeya Ninis „Shift in Tonal Centers“ eine Collage aus einem sehr persönlichen Text mit einer Art Klangteppich ist, der von Beethovens Kompositionsweise inspiriert wurde. Auch die Stücke von Thuridur Jónsdóttir (Eine Bagatelle) und Ernst Helmuth Flammer (Muß es sein?, ja es muß sein) zeigten mit sich überlagernden Patterns und einer Beschäftigung mit der Großen Fuge, wie man sich im 20. Jahrhundert kreativ mit Beethoven auseinandersetzen kann. Und diesbezüglich hat Susanne Kessels Beethoven-Projekt in jeder Hinsicht Wegweisendes geleistet.
Wenn man die Größe des gesamten Projektes und die Bandbreite der Komponisten bedenkt, die dabei mit von der Partie sind, so kann man dieses Unterfangen getrost als ein Kompendium des zeitgenössischen Komponierens bezeichnen. Denn zwischen intellektueller Metamusik und retrospektivem Traditionalismus ist so ziemlich alles dabei, was die aktuelle Musikszene so zu bieten hat, von Pop bis Klassik, von Jazz bis Ambient. Was alle Werke eint ist die Beschäftigung mit einem Genius, der auch 250 Jahre nach seiner Geburt noch viel zu sagen hat – musikalisch wie menschlich.
So unterschiedlich die Werke auch sein mögen, so sehr werden sie doch durch den genius musici Beethoven geeint. Und so stehen sich mitunter Werke wie Markus Karas‘ tonale aber sehr konzise durchkomponierten „Mass-Memories“ und Vincent Royers ebenso eruptives wie vergeistigtes Werk „Es träumt…“ gegenüber. Die Art der Einfälle ist genauso unterschiedlich wie die Komponisten und deren Hintergründe. Aber das ist auch das ebenso faszinierende wie tröstliche: dass Beethovens Musik all dies aushält und dass aus dieser ungeheuer kreativen Auseinandersetzung etwas völlig Neues entsteht.
„Besessenheit“ lautet etwa der Titel des Werkes von Mark Rayen Candasamy, zu dem dieser durch die Beschäftigung mit den Klaviersonaten op. 2 inspiriert wurde. Hier finden sich vor allem zahlreiche obstinate Rhythmen, die der Besessenheit musikalische Form geben. Die Klaviersonaten haben für viele Stücke als Inspirationsquelle gedient, ebenso wie das omnipräsente „Für Elise“. Der Kölner Komponist Albrecht Zummach etwa hat den Titel und die Musik als Anagramm interpretiert und so auf konzeptionell bestechende Weise eines der spannendsten Stücke über dieses Werk geschrieben: „Leise Rufe“, so der Titel des originellen Werkes.
Eine der größten Herausforderungen für Kessel war es, die „Persönlichkeit“ eines jeden Stückes zu entdecken. Denn mit dem Projekt ging sie auch eine Verpflichtung ein: „Egal, was die Komponisten mir liefern, ich spiele es.“ Das hat auch mit ihrer Vorliebe zu tun, sich auf neue Herausforderungen einzulassen. „Ich mag es, Aufträge zu bekommen und diese dann mit Leben zu füllen.“ Das berge zwar auch ein Risiko, sei aber auch „ungeheuer reizvoll.“
Als Nächstes steht die Herausgabe eines Buches über ihr Projekt an, auch eine mobile Reiseausstellung, die sie bei ihren Konzerten präsentieren kann, ist in Planung. Die Ideen gehen Kessel so schnell nicht aus. Auch Sponsoren für die Aufnahmen aller Stücke sucht sie noch, denn alle der 260 Stücke will sie ebenfalls akustisch für die Nachwelt erhalten. Doch auch abseits der bloßen Kompositionen ist vieles entstanden: ein internationales Netzwerk an Komponisten etwa, aus dem heraus sich schon Freundschaften, neue Projekte und Zusammenarbeiten ergeben haben. „Für die Komponisten bin ich ihr Stützpunkt in Bonn“, so Kessel, bei ihr laufen alle Fäden zusammen. In Zeiten von Corona läuft das meist digital ab, was Kessel gleich die Idee für ein neues, interaktives Kompositionsprojekt geliefert hat. Einstweilen gilt es für sie aber erst mal, sich auf die veränderten Bedingungen einzustellen und ihr Projekt zu einem guten Ende zu bringen.