Hauptbild
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Ein guter Wein entwickelt sich aus verschiedenen Trauben

Untertitel
Das Europäische Komponistengespräch in Berlin &#183
Publikationsdatum
Body

Komponisten aus fünf Ländern Europas trafen sich im Berliner Haus der GEMA am 1. November 2003 im Rahmen des Fonds Européen des Sociétés d’Auteurs pour la Musique (FESAM) zu einem Europäischen Komponistengespräch zum Thema „Ernste Musik in der Spaßgesellschaft des 21. Jahrhunderts“.

Ist die Frage nach der Krise der Neuen Musik überhaupt aktuell? Manfred Trojahn bestritt dies und verwies auf eigene Statements aus den siebziger Jahren. Schon damals habe er sich um neue Spielorte bemüht, etwa in der Hamburger Kampnagel-Fabrik, und zugleich die Integration des Neuen ins Abonnementkonzert versucht. Die Krise sei nicht 30, sondern schon 300 Jahre alt, warf ein Kollege ein. Oder begann sie gar, wie Konrad Boehmer listig meinte, vor tausend Jahren, als die Mönchsgesänge von anderen Musikarten verdrängt wurden? War denn die zeitgenössische Musik nicht immer schon ein Minderheitenphänomen? Wurden nicht die Bühnenwerke eines Ignaz Umlauff in Wien häufiger gespielt als die Mozarts, schätzten die Zeitgenossen die Klaviermusik eines Julius Kalkbrenner nicht höher ein als die Robert Schumanns? Die heutige Krise, so Boehmer, hat andere Gründe: Sie besteht in einer Überinstitutionalisierung und einem Überangebot von Komponisten und Werken, die alle in die gleichen Medien drängen.

Beim Europäischen Komponistengespräch, zu dem die GEMA unter dem Motto „Ernste Musik in der Spaßgesellschaft des 21. Jahrhunderts“ am 1. November nach Berlin geladen hatte, diagnostizierten dagegen die französischen Teilnehmer überhaupt keine Krise. Gemeinsam setzten sie absolutes Vertrauen in die Notwendigkeit großer Kunst unabhängig von der Gesellschaft. Der zwischen Theorie und Praxis vielfältig tätige Henry Fourès, der heute das Nationalkonservatorium von Lyon leitet, definierte sich als Optimist oder fröhlicher Pessimist. Für ihn ist die Kunst real, dagegen die Spaßgesellschaft eine Fiktion, ein Phantasma. Von einer Krise der Kunst könne man nicht reden, allenfalls von einer Krise der Gesellschaft.

Der Messiaen-Schüler Philippe Fénelon ist zufrieden mit den Besucherzahlen bei Konzerten Neuer Musik, so dass er die Suche nach anderen Aufführungsorten für überflüssig hielt. Angesichts der Omnipräsenz der Medien gebe es keine verkannten Genies. Die wirkliche Begabung, so meinte er optimistisch, setze sich immer durch. Von einer Krise der Kreativität könne heute ohnehin nicht die Rede sein. François Bayle, als einstiger Mitarbeiter von Pierre Schaeffer und Olivier Messiaen ein Avantgardist der alten Schule, schwärmte von der Bereicherung der Musikwelt durch audiovisuelle Medien. Das Schaffen Ernster Musik mache, wie auch Lothar Voigtländer bestätigte, großen Spaß, sei hierin also kein Kontrast zur modernen Spaßgesellschaft.

Moritz Eggert, wohl der Jüngste in der Runde, war mit einer so selbstverliebten Position nicht zufrieden. Seiner Meinung nach können sich die Komponisten den Fragen, die die Gesellschaft an sie stellt, nicht entziehen. Sind aber nicht die U-Musik-Komponisten, fragte er provozierend, die eigentlich Ernsten, weil sie ihre Zwecke und Zielgruppen oft genauer im Visier haben als die verträumten E-Kollegen? Diese wären demnach die Spaßgesellschaft, da sie auf Kosten der U-Musik leben. Reinhard Flender warnte allerdings davor, mit solchen Gedankenspielen gewachsene Förderungsstrukturen in der GEMA sowie die staatliche Kultursubventionierung in Frage zu stellen.

Aktiver Umgang mit Medien

Ähnlich gespalten wie in der Frage der Krise war die Runde in der Einschätzung der Massenmedien. Michael Karbaum hatte als Vertreter der gastgebenden GEMA zugespitzt, nur das existiere heute, was von den Medien aufgegriffen wird; Komponisten sollten deshalb ihre Werke über Schallplatte, Rundfunk, Fernsehen und Presse zugänglich machen. Dem widersprach Reinhard Flender: die Neue-Musik-Szene könne heute in Deutschland mehr Spezialensembles und mehr Uraufführungen denn je vorweisen. Diese Szene existiere also, wenn auch – ebenso wie die Chorszene – weitgehend außerhalb der Medien. Überhaupt sei Neue Musik in Rundfunk und Fernsehen schwer zu vermitteln und unterscheide sich damit prinzipiell von der gezielt für Massenmedien entwickelten Unterhaltungsmusik.

Liegt aber nicht in dieser Distanz zwischen Medien und Ernster Musik ein zentrales Problem? Warum wurden die schon in den zwanziger Jahren von Kurt Weill, Max Butting, Paul Hindemith, Hanns Eisler und Hermann Scherchen unternommenen Bemühungen um eine mediengerechte, spezifisch radiophone Musik nicht ernsthafter weitergeführt? Konrad Boehmer bezeichnete es als ein ernsthaftes Versäumnis, wenn sich Komponisten heute nur passiv zu den Medien verhalten, sie lediglich als Transportmittel begreifen. Der Komponist dürfe sich den medialen Bedingungen nicht sklavisch anpassen. Notwendig sei vielmehr eine aktive Haltung, wobei sich Werk und Medium dialektisch beeinflussen. Dieses Statement des ebenso eloquenten wie polyglotten Niederländers machte Eindruck. Manfred Trojahn und Moritz Eggert entdeckten hier die wichtigste Herausforderung der Diskussion. Der berechtigten Skepsis von Karl Heinz Wahren gegenüber dem dualen System von öffentlichen und privaten Sendern, das immer mehr zu einer fatalen Quotenorientierung führe, stellte Boehmer positive Erfahrungen mit unabhängigen Produzenten gegenüber.

Trotz der Mitwirkung der beiden Niederländer Konrad Boehmer und George Knops sowie von Paul Hertel (Wien) handelte es sich überwiegend um einen deutsch-französischen Dialog. Nach der deutschen stellte die sechsköpfige französische Delegation, zu der auch Olivier Bernard, Gaël Marteau und Marion Roudeix von der SACEM gehörten, die größte Gruppe dar. Die vier Schweizer hielten sich zunächst im Hintergrund und verstanden sich, wie es Hans Ulrich Lehmann erläuterte, als Beobachter. In der Rundfunkfrage griffen sie dann aber in die Debatte ein. Während Lehmann und Thierry Mauley sich zur Situation der zeitgenössischen Musik in der Schweiz zufrieden äußerten, beklagte Jean Balissat ihr Abdriften in Spartenprogramme; anders als früher werde das breite Publikum mit neuen Klängen gar nicht mehr konfrontiert. Passend dazu berichtete Hertel von Plänen des ORF, in einem Spezialprogramm hauseigene Produktionen zeitgenössischer Musik ganztägig auszustrahlen – allerdings ohne zusätzliche Honorare für die Urheber.

Öffnung

Eggert sprach von einer veränderten Einstellung des Publikums. An die Stelle der früher verbreiteten Haltung des „Das verstehe ich nicht“ sei inzwischen ein „Das mag ich nicht“ getreten. Früher hätten selbst Ignoranten der Neuen Musik eine gewisse gesellschaftliche Bedeutung und Notwendigkeit zugestanden. Heute dagegen bekundet man sein Desinteresse und ist zu einer ernsthaften Auseinandersetzung kaum mehr bereit. Selbst gebildete Kreise fühlen sich heute nicht mehr verpflichtet, wie Paul Hertel bestätigte, sich über zeitgenössische Musik auf dem Laufenden zu halten. Die französischen Teilnehmer empfanden das nicht als Problem, beharrten sie doch ohnehin auf ihrer Minderheiten- und Eliteposition. Dagegen wollten sich einige der deutschsprachigen Komponisten mit der Getto-Situation nicht zufrieden geben.
Wie aber kann diese Isolation durchbrochen, wie können die verschiedenen Individualstile, deren Notwendigkeit niemand bestritt, dem Publikum vermittelt werden? Ein allgemein gültiges Rezept wurde nicht angeboten. Man plädierte aber beispielsweise für ein Einbringen unabhängiger Produktionen in die öffentlichen Medien. Dem Trend der Privatsender, leichtgängige Filmmusik als New Classics zu präsentieren, müsse man das wirklich Neue entgegensetzen.

Die Komponisten sollten aber, worauf Eggert Wert legte, dabei nicht nur Nabelschau betreiben, sondern sich auch den Fragen der Gesellschaft öffnen. Die Suche nach neuen Aufführungsorten und neuen Publikumsschichten ist demnach weiterhin aktuell.
Was als Aneinanderreihung einzelner sehr individueller und oft gegensätzlicher Statements begonnen hatte, gewann am Nachmittag übergreifende Konturen. Europäische Gemeinsamkeiten entwickelten sich nicht zuletzt beim Blick auf die durchweg kommerziell orientierten USA, deren Neue-Musik-Szene sich kaum so entwickelt hätte, wäre sie nicht vom alten Europa aus ständig gefördert worden. In Bezug auf die Ernste Musik ist die Alte Welt immer noch relativ vorbildlich. Könne man nicht, so regte Reinhard Flender an, einen paneuropäischen Sender für zeitgenössische Musik einrichten?

Auch Konrad Boehmer forderte weitere integrative Projekte für Europa. Die Berliner Diskussion verglich er abschließend mit einem Traubensaft aus verschiedenen Reben, der sich schon zu einem guten Wein zu entwickeln begänne, gewiss nicht zu Essig. Um im Bild zu bleiben: Um eine billige Nachahmung der Coca-Cola der heutigen Spaßgesellschaft sollten sich die Ernsten Komponisten gar nicht erst bemühen.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!