Als sich am 21. Januar der Freundeskreis um die Hamburger Klavierprofessorin Elgin Roth zur Feier ihres 80. Geburtstags im Händelhaus zu Halle versammelte, da war die geistige Anwesenheit zweier historischer Gestalten der Klavierpädagogik so intensiv spürbar, dass man fast glaubte, sie leibhaftig wahrnehmen zu können. Sie standen – um es zeitgemäß zu formulieren – als „virtuelle“ Festgäste im Raum, „zugeschaltet“ aus der Sphäre des pianistischen au-delà: Ludwig Deppe (1828–1890) und Elisabeth Caland (1862–1929).
Eingeweihte wissen es: Elgin Roth hat über Jahrzehnte hinweg für die Rehabilitierung der beiden Klaviermethodiker gekämpft – unbeirrt, bis zum heutigen Tag: Im Unterricht lehrte sie ihre Stu-denten, die Gebote Deppes zu befolgen, auf Kongressen und in Seminaren hielt sie Vorträge, mit ihren Kollegen führte sie Streitgespräche. Sie publizierte Artikel in Fachzeitschriften und schrieb zwei Bücher – „Klavierspiel und Körperbewusstsein“ und „Die Wiederentdeckung der Einfachheit“ –, alles in dem Bestreben, der genialen Pianistik Ludwig Deppes zu neuer Blüte zu verhelfen. Dass die Werke Elisabeth Calands jetzt als Reprints wieder aufgelegt werden, ist für die Jubilarin mehr als nur ein Erfolgserlebnis. Es ist ein echter Triumph. Seit langem waren die Bücher vergriffen. Weder „Die Deppe’sche Lehre des Klavierspiels“ noch „Das künstlerische Klavierspiel“ noch „Die Ausnützung der richtigen Kraftquellen beim Klavierspiel“ noch irgendein anderes der insgesamt sieben Werke waren im Buchhandel erhältlich. Auch in den Regalen der Antiquariate suchte man vergebens nach ihnen.
Die Neuauflage dieser Schriften ebnet den Weg für eine faire Diskussion über „die wahre Art, Clavier zu spielen“ – war doch das Fehlen der Originaltexte immer ein gravierendes Handicap, wenn es galt, der Stimme Deppes Gehör zu verschaffen. Auch darf die Wiederveröffentlichung als Zeichen dafür gewertet werden, dass im Bereich der Klaviermethodik ein Umdenken stattfindet. Folgende Erkenntnis bricht sich Bahn: Ludwig Deppe hat den rechten Weg gewiesen, als er im Kampf gegen den mechanistischen Übungsdrill des 19. Jahrhunderts ein Lehrgebäude schuf, das den natürlichen Gegebenheiten des menschlichen Organismus Rechnung trägt. Die Methodiker der nachfolgenden Generation erkannten ihn als den großen Meister und Reformer an. „The first major pioneer of an effective system“, schrieb der amerikanische Klavierhistoriker Reginald Gerig. Später versuchte man jedoch, seine Ideen zu modifizieren und weiter zu entwickeln. Dabei geriet man auf Abwege. Man missdeutete und verfälschte das Original. Dieses gilt es nun wiederzuentdecken und für die Unterrichtspraxis nutzbar zu machen.
Elisabeth Caland hatte 1890 von ihrem Lehrer Ludwig Deppe kurz vor seinem Tod den Auftrag bekommen, anhand seiner umfangreichen Manuskripte über die Probleme des Klavierspiels seine „Prinzipien“ zusammenzufassen und zu veröffentlichen. Es war sein besonderer Wunsch, diese zu „erklären“ und zu „erläutern“, und zwar „seine Ausdrücke“ zu verwenden (und nicht die im Umlauf befindlichen „gewöhnlichen“ Termini). Nachdem die drei oben genannten Werke in den Jahren 1897, 1904 und 1910 erschienen waren, gingen einige – zunächst begeisterte – Caland-Anhänger auf Abstand und propagierten eigene, abweichende Unterrichtsmethoden. Der daraufhin ausbrechende Streit zwischen „Relaxionisten“ und „Fixionalisten“ ging, wie man weiß, zugunsten der von R.M. Breithaupt kreierten „natürlichen Klaviertechnik“, später der von ihm thematisch präzisierten „modernen Gewichtstechnik“ aus, von Breithaupt mit ungewöhnlich rhetorischer Begabung und verführerischer Eloquenz verfochten, womit er wohl den Nerv der Zeit traf. Bis auf den heutigen Tag blieb „Gewichtstechnik“ der gebräuchlichste (und wohl missverständlichste) Terminus für Klaviermethodik. Mancherorts wird deshalb gefragt, wie es möglich war, dass Calands seinerzeit anerkannt gewichtiges Werk für ein gutes Jahrhundert so in Vergessenheit geraten konnte, ja nicht einmal ihr Name in weiten Fachkreisen bekannt war (und ist). Die Vokabeln „Gewicht“ und „Entspannung“ standen hoch im methodischen Kurs, dagegen sprach Caland von sich ökonomisch anpassender Spannung, von „elastischer Fixation“ der Gelenke, also von einer „gewissen Feststellung der Gelenke“, der Armglieder, ohne die die nötige „Kraftübertragung“ vom Rücken bis in die Fingerspitzen gar nicht möglich sei. Prompt reagierten ihre Gegner (die Relaxionisten) mit der Verunglimpfung des Wortes „Fixation“, die ja für den Spieler völlige Versteifung (!) und Verkrampfung bedeuten müsse. Breithaupt war ihr Wortführer, obwohl er 1903 bei Caland studiert hatte und sich noch 1905 in öffentlichen Zeitschriften enthusiastisch über die Deppe-Caland-Lehre äußerte.
Aus dem hier skizzierten Bild vom Verlauf der methodischen Diskussion in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – es ist einer der zahlreichen Abhandlungen Elgin Roths entnommen – geht deutlich hervor, mit welchen Mitteln es gelingen konnte, Deppes Lehre ins Abseits zu drängen. Man bediente sich des unfairen Tricks, seine „Ausdrücke“ missverständlich zu interpretieren und sie dann als unbrauchbar abzuqualifizieren. Der Begriff „Fixation“ beispielsweise sollte nicht ein starres Festhalten der Gelenke bezeichnen, sondern einen – im Jargon der modernen Bewegungslehren ausgedrückt – „eutonischen“ Zustand, das heißt, eine angemessene Spannung, die es den Gelenken erlaubt, Bewegungen durchzuführen. „Entspannte“ Muskeln können laut medizinischer Wissenschaft keine Arbeit leisten und sind somit für Spielbewegungen nicht geeignet. Es ist so ähnlich, wie wenn bei einem Spaten die Schaufel lose am Stiel hängt. Mit einem solchermaßen „entspannten“ Spaten kann man kein einziges Gramm Erde bewegen.
Es ist traurig, aber wahr: Bis in unsere Tage ist die Verunglimpfung der Deppeschen Lehre gängige Praxis in Veröffentlichungen der Musikpädagogik. Erst in jüngster Zeit nahm sich ein Autor den Begriff „Bewegungsökonomie“ vor, eine der Säulen des Systems Deppe-Caland. Er zog die Bewegungen eines Roboters zum Vergleich heran und formulierte: „Bewegungsökonomie, das ideale Konstruktionsprinzip des Roboters – genau das Gegenteil des menschlichen Bewegungsprinzips.“
Bei Caland liest sich das ganz anders. Hier wird nicht der Roboter als Erklärungsmodell benützt, sondern der Anfänger beim Schlittschuhlauf. Caland schreibt auf Seite 7 von „Die Deppe’sche Lehre“: „Zuerst zappelt er mit den Armen und dem Oberkörper umher, sodass man fürchtet, er würde bei jeder neuen Anstrengung, vorwärts zu kommen, umfallen. Nach einigen Tagen der Übung sind schon viele der Mitbewegungen veschwunden, und je mehr er sich übt, desto regelmäßiger und schöner werden alle Glieder fest aneinandergeschlossen und beherrscht gebraucht, bis endlich die ganze Erscheinung die wohlgefälligste ist und man sich freut, mit welcher Grazie der nun fertige Läufer über die Eisfläche dahinschwebt.“ Soweit Elisabeth Caland. Man sage nicht: „Aber der Schüler soll ja Klavierspielen lernen, nicht Eislaufen!“ Es muss vielmehr heißen: Wenn jemand das ruhige Dahinschweben eines Eisläufers als roboterhaft empfindet, dann zeigt das eine Wahrnehmungsstörung an. Die Ruhe, das heißt das Verschwinden der zappelnden Hilfsbewegungen, ist Ausdruck der souveränen Beherrschung der Technik, ein zuver-lässiges Zeichen des optimalen Gelingens der Bewegungssteuerung. Es ist nicht Anzeichen fehlender Emotionalität. Der Ausdruck inneren Bewegtseins kann erst dann überzeugend gestaltet werden, wenn die gleichgewichtige Aufrichtung des Körpers mit minimalem (ökonomischem) Kraftaufwand gesichert ist. Stimmige Ausdrucksbewegung setzt Bewegungsökonomie voraus. Das gilt für den Eiskunstläufer genauso wie für den Pianisten.
„Fixation“ und „Bewegungsökonomie“ stehen für eine ganze Reihe von „Ausdrücken“ der Caland-Deppe-Schu-le, die bis heute Anlass zu Polemik und Missverständnis geben. Zu nennen wären: die federleichte Hand, das bogenförmig herumgehende Handgelenk, der beherrschte freie Fall, der vom Rücken getragene leichte Arm, die „Schulterblattsenkung“, die Kraftübertragung vom Rücken bis in die Fingerspitzen, das Tonnehmen, die Verwirklichung des innerlich gehörten idealen Tones, das Postulat einer idealen Spielbewegung, der Primat des Ganzen gegenüber den Teilen, die Schwerpunktsbezogenheit aller Bewegungen.
Häufig handelt es sich bei den Einwänden um Wortklauberei („Mit Worten lässt sich trefflich streiten.“ Goethe, „Faust“, Teil I). Man argumentiert vordergründig und oberflächlich, ohne zu prüfen, ob man nicht am Kern der Sache vorbeiredet, ob man sich nicht in den Fallstricken der Terminologie verfangen hat. Das macht die Wiederveröffentlichung der Caland-Bücher um so bedeutsamer. Der unvoreingenommene Leser wird erkennen – sofern er sich die Mühe macht, mitzudenken –, „dass Deppes methodischer Entwurf eines Bewegungsideals heutige Kriterien über Koordination vorwegnahm“(Elgin Roth im Vorwort zur japanischen Ausgabe von „Das künstlerische Klavierspiel“, 1987). Er wird feststellen, dass Deppe in nahtloser Übereinstimmung mit den Erkenntnissen der Musikermedizin steht, ebenso wie mit den Prinzipien der modernen Bewegungslehren (Feldenkrais, Alexandertechnik), und dass seine Spielanweisungen den „Königsweg“ beschreiben – „the royal road to piano playing“.
Es gibt einen Vorwurf, der, von Autor zu Autor weitergereicht, immer wieder von Neuem erhoben wird. In „Üben und Musizieren“, Jg. 2004 Nr. 3, schreibt etwa Marion Saxer: „Zeitgenössischen Berichten zufolge hatten allerdings gerade SchülerInnen von Elisabeth Caland,… , erheblich mit Verkrampfungen des Spielapparats zu kämpfen.“ Als Quelle wird angegeben: „Kosnick, Busonis Gestaltung durch Gestalt“, zitiert nach „Gellrich: Über den Aufbau motorischer Schemata beim Instrumentalspiel“, in „Mantel (Hrsg.): Ungenutzte Potentiale“. Dazu ist Folgendes zu sagen: Elgin Roth suchte im Jahre 1967 den Urheber Heinrich Kosnick an seinem Wohnort Göttingen auf, um nach den Gründen seiner Opposition gegen Caland zu forschen. Sie musste feststellen, dass keine überzeugenden Sachargumente und keine gesicherten Belege für seine Behauptungen existierten. Er hatte Gerüchte in die Welt gesetzt – offenbar, um sich zu profilieren.
Trotzdem wäre es nicht gerechtfertigt, bei diesem brisanten Thema schnell zur Tagesordnung überzugehen, ist doch die Gesundheit des Musikers angesprochen. Elisabeth Caland hat selbst darauf hingewiesen, dass ihre Lehre nur mit genauester Befolgung ihrer Anweisungen praktiziert werden soll. Sie birgt Gefahren in sich, wenn unbedacht vorgegangen wird. Es ist wie bei einer starken Medizin: Sie hat eine mächtige Wirkung, muss aber vorsichtig dosiert und bei ihrer Einnahme streng überwacht werden.
Elgin Roth schreibt dazu: „Kenner der Caland’schen Lehre wissen, daß die sinnvolle Lektüre ihrer Texte keinesfalls schnelles, oberflächliches Erfassen zuläßt; ihre physiologischen Ausführungen müssen verständnisvoll in die Praxis umgesetzt werden. Erst durch Selbsterfahrung ist ein eigenes Urteil möglich, ob Calands Behauptung des ‚merkwürdig Erleichternden, Bereichernden, Verschönernden‘ durch organische Koordination auch für das eigene Spiel gelten könne. Dazu sind Neugier und Einfühlungsvermögen in Calands Bewegungsbeschreibungen nötig, geduldiges kinästhetisches Kontrollieren eigener körperinnerer und -äußerer Koordination (‚Synergie der Muskeln‘). Sie sind Voraussetzung für das Gelingen.“
Die Jubilarin ist als Lehrerin diesem Anspruch zeitlebens in hohem Maße gerecht geworden. Dabei hat sie immer wieder in eindrucksvoller Weise demonstriert, wie allein schon die Korrektur der Spielmotorik im Sinne der Caland’schen Gesamtkoordination genügt, um einen Heilungsprozess in Gang zu setzen. Im Lauf ihrer langjährigen Unterrichtstätigkeit half sie einer Vielzahl von Studenten, ihre Spielfähigkeit wiederzuerlangen. Der Steinway der Frau Professor Roth in der Musikhochschule war – Aussagen ehemaliger Kollegen zufolge – geradezu Anlaufstelle für schmerzhaft verspannte Schultern und entzündete Sehnenscheiden.
Heute noch werden von der Musikermedizin vereinzelt schwer behandelbare Fälle zu ihr in die Privatstunde geschickt. Sie wird als letzte Hoffnung angesehen. Und sie kann erstaunliche Erfolge vorweisen.
Damit werden die abwertenden Behauptungen Heinrich Kosnicks Lügen gestraft – genau das Gegenteil ist der Fall: Caland, richtig angewendet, ist das Heilmittel der Wahl gegen pianistische Verkrampfungsschäden. Es wäre für alle Betroffenen eine vorzügliche Alternative – ein Ersatz für Botox.
Die Frage nach dem Ursprung ihrer leidenschaftlichen Parteinahme zugunsten von Deppe-Caland beantwortet Elgin Roth stets mit dem Hinweis auf ihre persönliche Leidensgeschichte. Sie teilte in jungen Jahren das Schicksal vieler Klavierstudenten, die sich durch fleißiges Üben nach veral-teten Methoden eine Beeinträchtigung ihrer Spielfähigkeit zugezogen hatten. „Ich war kaputt“, sagt sie ganz offen. Heilung fand sie erst durch die konsequente Umstellung ihrer Spieltechnik auf das System Deppe-Caland. Dieses war jedoch verschüttet und musste erst wieder ausgegraben werden. Elgin Roth leistete Schatzgräberarbeit auf dem Gebiet der Klaviermethodik. Sie wühlte sich durch die Antiquariate auf der Suche nach Caland-Büchern und pilgerte zu sämtlichen noch lebenden ehemaligen Caland-Schülern, um Informationen aus erster Hand zu sammeln.
Der Ertrag ihrer jahrelangen Bemühungen war nicht nur die völlige Gesundung ihres „Spielapparats“. Das gründliche Studium des Deppe’schen Modells der psycho-physischen Gesamtkoordination schärfte zudem ihren Blick für die Unzulänglichkeiten der etablierten Gegenentwürfe. Der Vergleich mit Autoren wie Marek, Gát, Martienssen, Varró, Breithaupt und so weiter erbrachte die Gewissheit, dass das System Deppe-Caland als einziges eine stringente Beschreibung der Merkmale funktionalen Klavierspiels bietet. Wer mit ihr über dieses Thema diskutiert, der stößt auf eine wahrlich furchteinflößende Belesenheit und auf einen Sachverstand, der jeden Kontrahenten, und sei er noch so kompetent oder prominent, in Verlegenheit bringt.
Auf Klavierkongressen vermeidet man deshalb seit langem, sich auf konkrete Auseinandersetzungen mit ihr einzulassen. Zu oft schon musste einer, um das Gesicht zu wahren, mit flappsigen Sprüchen um sich werfen, weil sein Vorrat an Sachargumenten aufgebraucht war. Ein findiger Journalist nannte Elgin Roth einmal die „Jeanne d‘Arc der Klavierpädagogik“.
Die guten Wünsche, die anlässlich ihres Geburtstages ausgesprochen wurden, bezogen sich neben Gesundheit und Wohlergehen natürlich in erster Linie darauf, dass die beginnende Renaissance der Deppe-Caland’schen Klavierlehre rasch an Fahrt gewinnen möge. Dabei richtet sich die Hoffnung nicht allein auf die belebende Wirkung der neu aufgelegten Lehrbücher. Am musikpädagogischen Institut der Universität Halle sind deren Inhalte bereits heute fester Bestandteil des Lehrangebots. Das sollte auch andernorts Schule machen; und das wiederum würde Elgin Roths Lebensabend mit Freude und Zufriedenheit – oder besser gesagt „Glückseligkeit“ – erfüllen.