Der G. Henle Verlag wird in Kooperation mit Editio Musica Budapest Schritt für Schritt die Kritische Gesamtausgabe der Werke Béla Bartóks veröffentlichen. Als Herausgeber fungiert das Bartók-Archiv der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Dieses Großprojekt startet mit dem Zyklus „Für Kinder“ (HN 6200, Leinen, € 357,-). Parallel zur wissenschaftlichen Ausgabe erscheinen zwei Notenbände (HN 1225, HN 1226), erhältlich auch als „Henle Library“-App.
Unterschiedliche Auslöser führten zur Idee zu diesem zyklischen Werk: Bartóks relative Unerfahrenheit in der Arbeit mit Anfängern, das Fehlen von Literatur mit musikalischem Wert, die Lust, Klavier spielende Kinder mit der „schlichten und unromantischen Schönheit der Volksmusik“ vertraut zu machen und nicht zuletzt das Drängen des Verlegers Rozsnyai, der vornehmlich an leichter Unterrichtsliteratur interessiert war. Bartók verfolgte zunächst keinen besonderen Plan und seiner Arbeit lag auch kein pädagogischer Leitfaden zugrunde. Aber er wollte von Anfang an Stücke schreiben, die sich auf das Volksliedgut seiner Heimat stützen und die zumeist auf Melodien basieren, die der Komponist selbst aufgenommen hat. Die Entstehungszeit 1908/09 ist nicht völlig verbürgt und bezieht sich am ehesten auf die zwei ersten Bände, da Bartók ursprünglich gar keinen Zyklus plante. Das Konzept entstand während der Arbeit und die Reihenfolge der Stücke unterlag immer wieder Veränderungen oder Ergänzungen. Die ersten beiden Bände basieren auf ungarischem Liedgut, Band III und IV auf slowakischen Volks- und Kinderliedern („Gyermekeknek“/ „Für Kinder“, und „Pro deti“/ „ Pour les enfants“). Welchen Wert Bartók selbst seinen Kinderstücken beimaß, zeigt sich in der Tatsache, dass er im amerikanischen Exil recht bald mit dem Londoner Verlagshaus Boosey & Hawkes Möglichkeiten für eine Neuauflage prüfte. Um ein neues Copyright erwirken zu können, musste Bartók den Zyklus umarbeiten – ein willkommener Anlass, die Notation auf einen aktuellen Stand zu heben und auch Stücke zu verwerfen. Die endgültige Drucklegung konnte kriegsbedingt erst nach dem Tod Bartóks erfolgen.
Im vorliegenden Band 37 der Kritischen Gesamtausgabe werden nun die Erstausgabe und die revidierte Fassung in synoptischer Form zur Ansicht gebracht. Diese Vorgehensweise erleichtert den Vergleich enorm. Zwischen beiden Ausgaben liegen mehr als dreißig Jahre und es ist anzunehmen, dass auch die in dieser Zeit gewonnenen pädagogischen Erfahrungen ihren Niederschlag in der revidierten Fassung finden. Wie ernsthaft sich Bartók immer wieder mit seinen Stücken „Für Kinder“ auseinandersetzte, zeigt auch die Tatsache, dass er diese für das zweibändige Unterrichtswerk „Jugend am Klavier“ (1938) nicht unbesehen weitergab, sondern einer Überarbeitung unterzog, die einen weiteren Vergleich zulässt. Aus diesem Grund wurde dieses Werk in die Ausgabe mit integriert.
Rätselhafte Entstehung
Der Herausgeber László Vikárius näherte sich diesem umfangreichen Projekt mit größter Sorgfalt. Der wissenschaftliche Textteil umfasst je 38 Seiten und steht in englischer, ungarischer und deutscher Sprache zur Verfügung. Wer noch tiefer in die Materie eindringen will, kann sich in den „Critical Notes“ informieren (nur in englischer Sprache). Die Komplexität des Zyklus mit seinen unzähligen Änderungen, Transkriptionen für andere Instrumente, Chor oder auch für Orchester, verschiedener Copyrights und Fassungen erforderte eine aufwändige Recherche. Vikárius hat wohl alle zur Verfügung stehenden Quellen eingesehen und eine sehr ins Detail gehende Edition vorgelegt. Die Entstehungsgeschichte scheint hierbei die meisten Rätsel aufzugeben, so dass sich der Leser fragt, warum die Verlage Rozsnyai oder Rózsavölgyi & Co. nicht über ein eigenes Archiv verfügten, das die Erstausgaben der einzelnen Bände verwahrte. Neuauflagen nach 1945 in Ungarn orientierten sich immer an der Erstausgabe bis Ende der 1960er Jahre, erst dann wurde die revidierte Fassung in Umlauf gebracht – eine ausschlaggebende Rolle dürften urheberrechtliche und Devisenfragen gewesen sein. In seinem Buch „Béla Bartók“ (erschienen 1961) geht Lajos Lesznai nur auf die Erstausgabe des Zyklus „Für Kinder“ ein und erwähnt die Existenz einer revidierten Fassung gar nicht – welche Fassungen wo und wann gedruckt wurden, konnte auch Vikárius nicht zweifelsfrei eruieren.
Vikárius stellt „Für Kinder“ in einen Kontext zu Bartóks kompositorischem Schaffen im Umfeld der Entstehung, zu seinen Konzertreisen, der Lehrtätigkeit, dem Sammeln von Volksliedern, politischen Umbrüchen und auch privaten Ereignissen. Diese Betrachtung erlaubt einen Einblick in Bartóks Arbeitsweise und gibt Auskunft darüber, wer ihm fachlichen Rat gab und Hilfestellung beim Notenkopieren leistete. Das konsequente Einbinden der Kinderstücke in seine Konzertprogramme war nicht zuletzt auch eine Reminiszenz an seine Landsleute. Vikárius liefert eine umfassende Dokumentation dieser Programme, die die Auswahl und Konstellation sichtbar macht. Weiterhin sei darauf hingewiesen, dass zahlreiche Tonaufnahmen der Kinderstücke existieren, teils im Studio eingespielt oder als Konzertmitschnitte. Sie legen hörbar Zeugnis darüber ab, wie penibel Bartók die Konzentration auf die spektralen Quellen des einzelnen Tones richtet. Er war der Meinung, dass „den Maschinen eine große Bedeutung zukommt“, weil sich mit ihrer Hilfe alle Intensionen und Ideen eines Komponisten (sofern er das Instrument meisterlich beherrscht) exakt festhalten lassen. Bartók wollte also nichts dem Zufall überlassen.
Bartóks Geburtsort Nagyszentmiklós war ein Sammelbecken von Völkern, ein Schmelztiegel musikalischer Einflüsse, die vielleicht die Sammelleidenschaft des Komponisten geweckt haben. Bartóks und Kodálys Forschungsergebnisse belegen, dass es eine Bauernmusik gibt, die sich zahlenmäßig und ästhetisch von der volkstümlichen Kunstmusik abhebt: „Unsere Bauernmusik besteht aus Tausenden von Melodien, deren Mehrzahl von einer klassischen, prägnanten Einfachheit des Ausdrucks, von einer Objektivität der Gestaltung ist, die niemals ermüdet“. Die Bauernmelodie schien ihm für sein Vorhaben, also den Einsatz im Unterricht, besonders geeignet. Bartók zog aber auch andere Sammlungen, zum Beispiel von Áron Kiss, Zoltan Kodaly und Béla Vikár heran, wenn er das geeignete Material in seiner eigenen nicht verfügbar hatte. Ungarische und slowakische Melodien hatten sicher Schnittpunkte und waren oft nicht eindeutig zuzuordnen. Trotzdem ist es Vikárius gelungen, die Quellen soweit als möglich zu finden und auch tabellarisch darzustellen.
Im Appendix sind alle Texte der im Zyklus verwendeten Melodien mehrsprachig in singbarer Versform deponiert und dienen als Quellennachweis. Weil Melodie und Text „ganz organisch zusammengehören“, wurden den meisten Ausgaben diese Liedtexte angefügt, um über ein Mitsingen die syllabische Verteilung des Textes kenntlich machen zu können. Leider fehlt den Notenbänden HN 1225 und 1226 dieser Anhang mit Verweis auf die Kritische Gesamtausgabe. In den nach 1945 von EMB veröffentlichten Ausgaben wurden beständig für Band 1 und 2 die ungarischen Liedtexte und für Band 3 und 4 die Verse in ungarischer, deutscher (Übersetzung Emma Kodály) und tschechischer Sprache zumeist ohne Kommentar angefügt. Da die aktuellen Notenbände, die die revidierte Fassung wiedergeben, losgelöst von der wissenschaftlichen Ausgabe zu verwenden sein sollten, stellt sich die Frage nach dem Grund dieser Entscheidung.
Erstausgabe und Revision
Wie schon erwähnt, erscheinen Erstausgabe und Revision in synoptischer Form. Für einen Vergleich mit der Ausgabe „Jugend am Klavier“ muss man etwas blättern (zum Notentext oder zu den Ausführungen dazu im wissenschaftlichen Teil). Es ist äußerst aufschlussreich, welcher Art die Änderungen sind, die Bartók vornahm. Zunächst löste er sechs Stücke aus dem Zyklus heraus, weil entweder die Quelle nicht authentisch war, das Stück „nichts taugte“ oder nicht von ihm, sondern Emma Kodály stammte. Mehrere Sätze wurden so grundlegend geändert, dass sie neu geschrieben werden mussten. Für einen Eingriff in das thematische Material gab es nur wenig Spielraum. Bartók verdoppelte in mehreren Fällen die Notenwerte oder das Metrum, wobei die Tonfolge stets unberührt blieb (zum Beispiel 2/4 auf 4/4-Takt, oder 3/8|3/8|3/8 auf 3/8|3/8|2/8). Die Tempoangaben wurden mehrheitlich beibehalten, aber nun konsequent und zweifelsfrei mit Metronom-Angaben und Spieldauer präzisiert (minimale Abweichungen in „Jugend am Klavier“).
Ein weiteres Merkmal betrifft die Vorzeichensetzung. Wie auch später im „Mikrokosmos“ teilweise praktiziert, wurden in der Erstausgabe die Vorzeichen in das Stück integriert. Die Revision setzt die Vorzeichen wie gewohnt an den Anfang, allerdings, wie von Bartók häufig gehandhabt, oktavversetzt. In der Tat ist die Revision oft schwerer zu lesen und es kann vermutet werden, dass hier erzieherische Gründe eine Rolle spielten. Die meisten Veränderungen betreffen allerdings die Fingersätze. Als Beispiel soll die bekannte Studie für die linke Hand dienen: Die vier repetierenden Eingangsachtel der Melodie sind in der Erstausgabe mit 2121, in „Jugend am Klavier“ mit 3333 (Viertel = 160) und in der Revision mit 4321 (Viertel = 144) bezeichnet. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Metronom-Angabe, die für das schnellste Tempo die Repetition mit einem Finger vorsieht.
Während im ungarischen Teil der Erstausgabe die Stücke nur römisch durchnummeriert waren, bekamen die slowakischen Bände Titel in ungarischer, französischer und tschechischer Sprache. Der revidierten Ausgabe fügte Bartók nun auch für die ersten zwei Bände Titel in englischer Sprache hinzu, mit dem Anspruch auf größtmögliche Authentizität. Die nach 1945 in Osteuropa vertriebenen Bände lassen hier anhand der Überschriften auch die Ausgabe erkennen; spätere Auflagen der Revision erhielten nun anstelle der französischen Überschrift die deutsche oder nur die ungarische plus deutscher Übersetzung. In den Notenausgaben HN 1225 und 1226 gibt es eine neue Konstellation, nämlich deutsch-englisch-französisch. Da die Kinderstücke ja auch in zahlreiche Klaviersammlungen integriert sind, die teilweise wieder andere Titel verwenden, könnte es deshalb zu Irritationen kommen.
Bartóks Harmonik zeigt sich in diesen Kleinodien erstmals in vollkommener Gestalt. Durchgangs- und Wechseltöne werden nicht als Ziertöne benutzt, sondern sowohl in den Melodien als auch in den Klängen als Haupttöne aufgefasst. Modale Reihen lassen wegen des Fehlens des Leittones die Kadenzen ungewohnt erscheinen. Wird die Melodie wiederholt, dann wendet Bartók in der Begleitung das Prinzip der unterschiedlichen Tonalitäten an. Wichtige harmonische Mittel sind dabei der Orgelpunkt oder der Basso ostinato. Einleitende und abschließende Phrasen sind von zweitranginger Bedeutung, „sie dienen nur als Fassung für den Edelstein: die Bauernmelodie“.
Volksmusik kann für die Musik eines Landes nur dann Inspirationsquelle sein, wenn die Transplantation ihres Motivmaterials das Werk eines schöpferischen Ingeniums ist. Die Chance der Befruchtung der musikalischen Sprachmittel durch ursprüngliche Erfahrungen hat Bartók erkannt. Er vertraute rückhaltlos der Melodie und verband seinen Zyklus „Für Kinder“ mit einem immer mehr in den Vordergrund tretenden pädagogischen Auftrag.