In seinem Aufsatz „Der kreative Interpret“ (1976) beleuchtet Vinko Globokar die Beziehung zwischen Komponist und Interpret und deren Auswirkung auf das auf der Bühne spürbare Geschehen. So sei beispielsweise das Improvisieren des Interpreten keine eigenständige gestalterische Leistung, schließlich gehe es um das Erfinden von Klängen auf Befehl. Von dieser Diskussion ausgehend, gelangt er zu einer Darstellung des Beziehungsgeflechts auf der Konzertbühne. Interpreten seien dabei sowohl in ihrer Beziehung zur Musik zu erleben, als auch zum Komponisten und zum Publikum. Wird diesen Beziehungsaspekten gleichermaßen Rechnung getragen, könne sich, so Globokar eine „Vermenschlichung der Musik“1 einstellen. An dieser Stelle erfolgt die Darstellung einer möglichen Reaktion aus der Perspektive einer Interpretin, Instrumentalpädagogin und Musikvermittlerin im 21. Jahrhundert, die geprägt ist von den vielfältigen Anforderungen und Erwartungen, die an diese Rollen geknüpft sind.
Kreative Hierarchien
In der westlichen Musik gelten sogenannte kreative Handlungen, gemeint sind in diesem Zusammenhang eigenschöpferische Aktionen, als Privileg. Dieses Privileg zeigt sich zugleich in einer Hierarchisierung, die festlegt, wer, wann und in welchem Rahmen kreativ sein darf.2 Von der im 19. Jahrhundert etablierten Konzertform weitgehend bestimmt, sieht Interpretation zwar einen gewissen künstlerischen Spielraum vor, der jedoch im Zeitalter der Tonaufnahmen sehr eng gesteckt zu sein scheint. Der eigentliche kreative Akt hingegen, so die verbreitete Meinung, sei der Komposition vorbehalten. Globokar weist in seinem Aufsatz darauf hin, dass Interpreten durch ihre Beziehung zum Werk, zum Komponisten und auch zum Publikum eine für die Musik selbst bedeutsame und wertzuschätzende Schnittstelle sind. Aus seiner Sicht ist die Hinwendung zu den Interpreten der „wichtigste Faktor“ einer notwendigen Entwicklung, die zur „Vermenschlichung“ der Musik beiträgt.3 Unter dem Begriff Vermenschlichung, wie er von Globokar gebraucht wird, könnte eine Humanisierung der Musikpraxis zu verstehen sein, die sich bewusst von einer auf getreueste Wiedergabe eines Notentextes beschränkten Form der Interpretation distanziert. Eine „vermenschlichte“ Form der Interpretation könnte sich beispielsweise in einer erweiterten, buchstäblichen Verkörperung von Musik äußern. Auf die Bedeutung des Körper-Habens und Leiblich-Seins4 für das Musizieren als Ausdruck menschlicher und körperlicher Bedürfnisse und Gegebenheiten ist schon vielfach hingewiesen worden. Im Rahmen kreativer Erweiterung von Instrumentalspiel und -lehre besteht an diesem Punkt meines Erachtens einiger, bisher noch wenig berücksichtigter Spiel-, Handlungs- und Erlebnisraum.
Der Akt des Musizierens als Ausdruck einer „Wechselbeziehung von Körper, Wahrnehmung und Bewegung“,5 könnte als körperlich-geistige Aktivität des Spielenden in seiner Gesamtheit von bewussten und unbewussten Vorgängen als Ausgangspunkt einer erweiterten kreativen Form der Interpretation verstanden werden, die eine Humanisierung der interpretatorischen Musikpraxis zur Folge hat, etwa im Sinne von „before you know it, your body makes you human (...)“.6
Dies korrespondiert mit der aktuellen Diskussion um Ästhetische Bildung, in der überwiegend Konsens darüber herrscht, dass Zugänge zu kulturellem Gut durch eigenes Gestalten begünstigt, wenn nicht sogar erst ermöglicht werden. Darüber hinaus könnte es zu selbstbestimmten Bildungsprozessen beitragen, wenn ein Mensch sich selbst und die „Welt als gestaltbar“ erführe,7 sich seiner Ideen bewusst würde und sich dazu befähigt erlebte, diese umzusetzen.8
Das eigenschöpferische Mitgestalten der Interpretinnen und Interpreten wird sich zweifelsohne auch auf Inhalte und Art der Rezeption eines Werkes auswirken und womöglich dazu beitragen, dass durch eine originelle und „humanisierte“ Interpretation ein erweiterter Personenkreis Anknüpfungspunkte darin findet. Wie können solche Schritte in das kreative Terrain aussehen?
Handlungs- und Erlebnisräume in Interpretationen
Gehen wir zunächst vom Körper des Spielenden mit seiner Präsenz, Gestik und Mimik aus, die sich nicht nur auf das klangliche Ereignis beziehen müssen, und lockern wir die bestehenden Konzertkonventionen auf eine Weise, die es zulässt, dass die gesamte Person des Interpretierenden in ihrem individuellen Ausdruck zu einem stärkeren Grad spürbar wird. Ausgehend von dieser Akzentuierung der Körperlichkeit und Individualität könnte die agierende Person über Ausdruckswege wie Atmosphäre, Szenographie und Kontext persönliche und eigenschöpferische Ideen in die Interpretation einfließen lassen.
Anstelle einer theoretischen Ausführung ein Praxisbeispiel zur Veranschaulichung: Im Rahmen einer Forschungsarbeit entstand an der Guildhall School of Music and Drama in London unter dem Titel „Sleeping Beauty’s last three days“ (2003) ein „Musik-Dramatisches Konzert“, in welchem Triowerke von Johannes Brahms, Jacques Ibert und György Ligeti nebst Improvisationen von Fugen und Menuetten zur Aufführung kamen.9 An dieser Interpretation waren insgesamt zwölf kostümierte Darstellerinnen und Darsteller beteiligt. Die Darbietung fand zwar auf einer traditionellen Konzertbühne statt, die Organisation des Raumes wurde aber verändert, sodass es drei Bühnen gab, eine Hauptbühne mit mehreren Requisiten, auf welcher Improvisationen und Texte präsentiert wurden, eine Nebenbühne mit Flügel für die Kompositionen als geschlossene Episoden, und einen bespielbaren Raum dazwischen. Die Bestuhlung wurde so eingerichtet, dass das Publikum den Raum zwischen den Bühnen direkt fokussierte.
Die Atmosphäre wurde ausgehend von den musikalischen Werken, welche gewisse Bezüge zu Abschied und Rebellion aufweisen, durch einen thematischen Rahmen bestimmt. Das Horntrio von Johannes Brahms entstand in Zusammenhang mit dem Tod seiner Mutter. Ligetis Komposition war ein Kompositionsauftrag in Anlehnung an Brahms’ Werk. Doch anstelle des Brahms’schen Stückes zitierte Ligeti mehrfach Beethovens „Les Adieux“-Sonate. Das Trio von Ibert vermittelt als „Interlude“ zwischen den beiden Werken durch seine ruhigen und beschwingten Teile. Der Rahmen, in den die Musiken eingebettet wurden, bestand aus einer abgewandelten Form des Märchens Dornröschen (Sleeping Beauty). Insbesondere wurden die drei letzten Tage dargestellt, bevor Dornröschen in den hundertjährigen Schlaf fällt. Mit dieser Figur wurde eine Art bevorstehender Abschied assoziiert in Kombination mit zu erwartender Rebellion, die sich aus tiefenpsychologischer Sicht auf das Märchen Dornröschen mit seiner Version des Erwachsenwerdens ergeben könnte.
Hinter der Wahl des Märchens als Bezugsrahmen stand die Idee, dass der Stoff im kollektiven Gedächtnis weitgehend bekannt und auf diese Weise eine Gemeinsamkeit fast aller Anwesenden ist. Dahinter steht die Idee des Philosophen Homi Bhabhas, dass jede Darstellung einer Art Übersetzung in die jeweiligen und persönlichen Zusammenhänge bedarf (cultural translation),10 dass also eine Kommunikation zwischen Performern und Publikum gelänge, wenn es jedem Beteiligten möglich werde, einen eigenen vertrauten Bezugspunkt zu finden und im Verlauf der Aktion und Reaktion einen gewissen „Dritten Raum“ zu erfinden, der verhandelbar ist.
Ein besonderes Augenmerk dieses Projekts lag auf der Erarbeitung der Interpretation mit den einzelnen Mitwirkenden. Während die Aufgaben in den musikalischen Teilen klar verteilt waren, hatten alle Darsteller darüber hinaus Gelegenheit, ihre eigenen Figuren zu erfinden. Die Musiker des improvisierenden Quartetts entwickelten sich zu einem Harlekin, einem Denker, einem Frau-Mädchen und einer Erzählerfigur. Es ergab sich, dass dieser „Hofstaat“ typische Figuren der Commedia dell’arte verkörperte, ein Theaterstil, in dem es selbstverständlich ist, dass Musizierende schauspielerisch agieren und zu dessen Repertoire ein dornröschenähnlicher Märchenstoff gehört. Die Figuren hatten je einen für sie typischen Satz, den sie ausgewählten Personen des Publikums während der Aufführung spontan mitteilten. Auch überreichten sie dem Publikum im weiteren Verlauf des Stücks Rosen, nicht nur, um jeden Hörer und jede Hörerin zu würdigen, sondern auch, um die allmählich wachsende Dornenhecke zu symbolisieren. Auf diese Weise konnte jeder Spieler und jede Spielerin eine deutlich individuelle Rolle und Perspektive auf das Gesamtstück einnehmen und diese in der Aufführung bemerkbar machen.
Spielgefühl und Publikumsreaktion
Aus den Erfahrungsberichten der Ins-trumentalisten ging hervor, dass dies einen beflügelnden Einfluss auf ihr Spiel und ihr Spielgefühl auf der Bühne hatte. Als Spielleiterin hatte ich die Möglichkeit, die Präsenz der beteiligten Musiker zu spüren und ihre hohe Eigenmotivation zu erkennen. Aus den Rückmeldungen aus dem gemischten Publikum ist hervorzuheben, dass gerade die Musik von Ligeti in diesem Rahmen ohne große Vorbehalte gehört und erlebt werden konnte, dass bisher gewohnte Trennungen von Komposition, Improvisation und Gestaltung nicht mehr als solche empfunden wurden, sondern ein Gesamteindruck entstand, den viele als sehr anregend und persönlich empfanden. Damit schließe ich an die eingangs erwähnten Argumente von Globokar wieder an. In diesem Fall schien sich tatsächlich durch die Vielzahl der gepflegten Beziehungen und Verbindungen ein Geschehen und ein Prozess im Sinne einer Humanisierung der Gestaltung einzustellen.
Nicht jede kreative Interpretation wird einen derartigen Aufwand benötigen oder bekommen können, doch dieses Beispiel zeigt begehbare Wege nicht nur für Interpreten und Instrumentalpädagogen auf. Eine auf Körperlichkeit und Eigengestaltung fußende Musikkultur beginnt sicherlich nicht erst im Konzertsaal, sondern kann in vielfältigen Bereichen des öffentlichen Raumes ansetzen und dazu beitragen, sich von überalterten Konzertkonventionen zu verabschieden. Interpretation ist der selbstbestimmte und selbst zu bestimmende Weg, auf dem ein Musikstück zum (Er-)Leben erweckt, zum Klingen und zu Gehör gebracht wird.
Anmerkungen:
1 Globokar, Vinko (1976): Der kreative Interpret. In: Melos. Neue Zeitschrift für Musik Volume 2, 1976, 105–108; 107.
2 Hill, Juniper (2012): Imagining Creativity: An Ethnomusical perspective on how belief systems encourage or inhibit creative activities in music. In: D. Hargreaves: Musical Imaginations. Multidisciplinary Perspectives on Creativity, Performance and Perception. Oxford: Oxford University Press, 87–104; 87.
3 Globokar 1976, ebd., 107.
4 Vgl. Plessner, Helmut (1981): Die Stufen des Organischen und der Mensch. Berlin: Walter de Gruyter.
5 Brüstle, Christa (2012): Bauchmusik – Kopfmusik. Privat – öffentlich. Improvisation, Körper. In Kunsttexte.de/auditive_perspektiven (2). Online unter http://www.kunsttexte.de/index.php?id=711&idartikel=39358&ausgabe=39354… [2. März 2016]; 3.
6 Gallagher, Shaun (2005): How the body shapes the mind. Oxford: University Press; 242.
7 Hentig, Hartmut von (1969): Das Leben mit der Aisthesis. In: G. Otto (1975): Texte zur Ästhetischen Erziehung. Braunschweig: Westermann, 25–26; 26.
8 Fröhlich, Holger (2015): Musikalisches Handeln im Musikunterricht unter Einbeziehung digitaler Medien. Augsburg: Wissner; 85.
9 Hubrich, Sara (2015): The Creative Embodiment of Music – Practise-based Investigations into Staged Interpretations of Instrumental Music. In Vorb.
10 Bhabha, Homi (1994): The location of culture. London: Routledge; 213.