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João Ricardo de Barros Oliveira, geboren 1958 im nordportugiesischen Viana de Castelo, ist ein Künstler ohne Gebrauchsanleitung. Er bezeichnet sich als Klangpionier und Musik-Skulptor, er lebt in Berlin-Kreuzberg, er sucht die Arbeit mit Kindern und in der Psychiatrie. Seine Instrumente sind meist objets trouvées – gefundene Gegenstände wie verwitterte Holzstücke, Metallteile, alte Staubsauger, mechanische Puppen. Sie zu finden, ist bereits ein Artefact: de Barros Oliveira erblickt sie und schon hört er den ihnen innewohnenden Klang, den er aus ihnen herauslocken wird.Die „Europäischen Grillen“ sind für den jungen Performer, der in der Regel Augenblickskunst kreiert, die erste konzipierte Dauer-Aktion. 800 asiatische Spielzeug-Insekten bestreiten sie: batteriebetrieben, ausgerüstet mit kleinen Foto-Sensoren, zu Paaren in Kästchen gesteckt, und diese in eigenartiger Geometrie in einem künstlich verdunkelten Raum so sortiert, daß sie auf den Einzelbesucher sensibel mit Geräusch reagieren.
Diese ästhetisch durchaus streitbare Präsentation eröffnete am 19. Juni die nunmehr zweite Saison eines Klangkunstprojekts, das in der Stadt gewiß seinesgleichen sucht. Sein zur Sommerzeit fester Ort ist der Glockenturm einer evangelischen Kirche im Zentrum Berlins, die seit dem Brandbombentreffer im vorletzten Kriegsjahr noch immer der Restauration und der Wiederbelebung harrt. Als Lagerraum einer Möbelfabrik überstand sie die letzten Jahrzehnte der DDR – seit knapp fünt Jahren beherbergt sie spek-takuläre Kunst – und Musik-Events. Diese letztendlich haben die anno 1703 geweihte „Stadt- und Parochialkirche“ in der Klosterstraße in Berlin-Mitte wieder zurück ins städtische Bewußtsein geholt.
Susanne Binas und Carsten Seiffahrt, die jungen Initiatoren holten Tänzer der Staatsoper Unter den Linden hierher mit deren „Wozzeck-Reflexionen“, Diplomaufführungen junger Opernregisseure, freie Gruppen - zunehmend aber auch Akteure der internationalen Avantgarde wie Bob Rutman, Gordan Monahan oder die „Trommeln von teagk“.
Die von Binas und Seiffahrt geführte „Gesellschaft zur Förderung von Kultur“ an der Parochialkirche Berlin e.V. (kurz „kunst in parochial“), die den lukrativen Kirchenraum kostenfrei nutzt, steht auch für die im Vorjahr initiierte, zur Sommerzeit ständige Hör-Galerie. Deren Name DIE SINGUHR verweist auf berühmte Historie: Singuhr-Kirche nämlich hieß „Parochial“ im Volksmund - ob ihres 1715 eingeweihten Glockenspiels, welches der Stadt bis in die Anfangszeit des Rundfunks Tag und Nacht die Uhrzeit mitteilte. In der multimedialen Gegenwart versteht sich das SINGUHR-Projekt in der Öffentlichkeit als eindeutig alternativ: als Insel der Ruhe mitten im ohrenbetäubenden Baulärm der Metropole.
Im vergangenen Jahr gastierten Erwin Staches „Klang-Kästen“, Jutta Ravenna’s „Datenklangfenster“, im Rahmen des „Sonambiente-Festivals“, Arbeiten von Gordan Monaham, sowie Franz Martin Olbrischs „Akustisches Wegeleitsystem“. In diesem Jahr sind - jeweils für drei bis vier Wochen öffentlich - nach de Barros Olivieras „Europäischen Grillen“ eine Glas-Installation des Berliners Dirk Schwibbert, Klangplastiken von Inge Morgenroth und Erika Stürmer-Alex sowie das Medienprojekt „Die Bibliothek von Babel“ vorgesehen.
Die unreglementierte Vielfalt ist es nach Susanne Binas’ Konzept, die unterschiedlichste Interessenten bewegt, die akustische Kapsel des Glockenturms zu besteigen. Die Ernsthaftigkeit und nicht zuletzt die weiterreichende Publikumswirkung der Projekte wiederum haben die Gemeinde von Parochial überzeugt, die beiderseits sinnträchtige Symbiose von Kirche und Kunst zu etablieren.
In unmittelbarer Nähe zur wohlsubventionierten Berliner Musik- und Theaterkultur Unter den Linden lebt „kunst in parochial“ vom „Ausfinanziertsein“ all seiner Projekte. Die Mittel von Kommune und Land sind extrem minimal - nur wenig liefe ohne Partner wie den DAAD, die Akademie der Künste oder die Studios von Musikhochschule und Technischer Universität. In diesem Kontext beharrt das Team der SINGUHR auf eigenständiger Auswahl der Künstler. Am Rande des Markts sieht es eine Chance für das das gedachte Konzept: „auszuloten und zu befördern“, was Klangkunst zu leisten vermag.