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Ein „Fenster“, das zugleich nach außen wie nach innen aufzugehen scheint, hat die Berliner Pianistin Fidan Aghayeva-Edler hier aufgemacht,
Ein „Fenster“, das zugleich nach außen wie nach innen aufzugehen scheint, hat die Berliner Pianistin Fidan Aghayeva-Edler hier aufgemacht,
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Finden und Erfinden

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Neue CDs neuer Musik, vorgestellt von Dirk Wieschollek
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Heiner Goebbels und das Ensemble Modern verbindet eine jahrzehntelange Zusammenarbeit. +++ Johannes Schöllhorns Komponieren bewegt sich zwischen den Polen eigener und bereits bestehender Musik: „Finden und Erfinden“. +++ Ein „Fenster“, das zugleich nach außen wie nach innen aufzugehen scheint, hat die Berliner Pianistin Fidan Aghayeva-Edler hier aufgemacht, die im Lockdown des Jahres 2020 zu den unermüdlichsten Live-Streamerinnen zählte.

Ein „Fenster“, das zugleich nach außen wie nach innen aufzugehen scheint, hat die Berliner Pianistin Fidan Aghayeva-Edler hier aufgemacht, die im Lockdown des Jahres 2020 zu den unermüdlichsten Live-Streamerinnen zählte. Lauter Ersteinspielungen von Stücken, die in ihrer Melancholie, aber auch ihrem Trotz Befindlichkeiten der Pandemie konserviert haben und doch auf der anderen Seite von bemerkenswerter Energie und Klangsinnlichkeit getragen werden. Aghayeva-Edler versteht es hier, beide Ebenen mit großer Prägnanz auszuformen, eine Klangbildhauerin am Klavier. Dabei gilt es der Sprunghaftigkeit diverser Miniaturzyklen ein vielgestaltiges Gesicht zu verleihen: Jeanne Artemis hat im titelgebenden „Fenster“ abgründige Traurigkeit ebenso eingefangen wie den Widerstand der Verzweiflung. Auch Helen Grimes „10 Miniaturen“ schwanken unstet zwischen markanter Attacke, zerbrechlichen Klanggespinsten und glitzernden Arabesken. Die Körperlichkeit der Klanggebung wird bei Aghayeva-Edler ganz unmittelbar spürbar, egal ob in den unbarmherzigen Akkord-Repetitionen von Chaya Czernowins „fardance­CLOSE“ oder den Aphorismen von „Kurze Blitze, Donner, Sonne, Wind und Regen“ Margarete Hubers, deren Gestaltreichtum und Dynamik der Natur abgelauscht ist. Furioser Kehraus dieser Kompilation aber ist Olga Neuwirths „Trurl-Tichy-Tinkle“, dessen scharfkantige Perkussivität und bizarre Zuspitzungen die Pianistin wie mit dem Meißel herausschlägt. (Genuin)

Johannes Schöllhorns Komponieren bewegt sich zwischen den Polen eigener und bereits bestehender Musik: „Finden und Erfinden“. Die Zugriffe auf Bestehendes finden in ganz unterschiedlichen Ausprägungen von Instrumentation, Bearbeitung, Re- und Transkomposition statt: Die „sérigraphies“ (2007-16) beispielsweise entwickeln in einer vielfarbigen Kammermusikbesetzung aus wenig bekannten Klavierstücken Gabriel Faurés eine ganz eigene Klangpoesie, die vom Zafraan Ensemble mit ganz feiner Nadel gestrickt wird. Freunde origineller Orchestration kommen in „Uspud“  (1892/2017) auf ihre Kosten: Schöllhorn hat Saties kaum geläufige Ballettmusik einfallsreich zum Leben erweckt und dabei die geheimnisvolle Schrägheit des Stoffes erst zum Leuchten gebracht. Eine kaum geringere Vielgestaltigkeit offenbaren Schöllhorns „Originalkompositionen“ und haben doch oft eines gemeinsam: die Flüchtigkeit und Brüchigkeit ihrer Artikulationen. Dennoch sind es die groß besetzten Stücke, die hier am meisten beeindrucken: „à Moscou“ (2018) ist eine in melancholisch schimmernden Farben gemalte Ensemblemeditation, in der Morton Feldman um die Ecke schaut; „èste que ves“ verkörpert eine kraftvolle, für Schöllhorns Verhältnisse geradezu wuchtige Orchesterpartitur, deren Rastlosigkeit vom WDR Sinfonieorchester mit markigem Blech und kantigem Schlagzeug vorangetrieben wird. (bastille musique)

Heiner Goebbels und das Ensemble Modern verbindet eine jahrzehntelange Zusammenarbeit. Trat der Komponist in den letzten Jahren vor allem als Theatermacher in Erscheinung, ist 2021 nach langer Zeit wieder ein größerer Instrumentalzyklus entstanden: „A House of Call“. Das ästhetische Gravitationszentrum dieser groß angelegten Orchester-Dramaturgie in vier Abteilungen aber ist die menschliche Stimme. Nicht als komponierter Gesang, sondern in Gestalt akusmatischer Fundstücke unterschiedlichster Herkunft: seltsame Rufe und rituelle Beschwörungen, Gebete, Gedichte, Klagelieder und Feldaufnahmen zwischen Heiner Müller und der eigenen Mutter, kaukasischen Dörfern und Berliner Großbaustelle. Verwitterte Dokumente historischer Phonographen und Wachsmatrizen musik­ethnologischer, sprachwissenschaftlicher oder soziologischer Forschung reißen hier koloniale Abgründe auf, treten akustisch und inhaltlich mit ungeschminkter Rauheit auf den Plan. Deren starke Wirkung liegt häufig in der Ungreifbarkeit ihrer Kontexte begründet. All das  bewegt die Orches­terstimmen zu energetischen Loops und dramatischen Verdichtungen, pulsierenden Tänzen auf dem Vulkan oder melancholisch schillernder Nachdenklichkeit. Letztlich undefinierbar bleibende Erfahrungsräume, die am Ende dann, wen wunderts, in der Abstraktion von Samuel Beckett landen („What When Words Gone“). (ECM)

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