Eines langen Tages Reise in die Nacht endete am 22. September im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle: Ein neues Orchester wurde geboren. Ob eine Morgenröte folgt? Anfang Februar 2012 waren Pläne des Intendanten des Südwestrundfunks, Peter Boudgoust, bekannt geworden, wonach bei den Etats der beiden großen Orchester des Senders gespart werden sollte.
Das Ergebnis ist bekannt: In beinahe vierjährigem Kampf war es trotz Widerstand und vieler Initiativen – insbesondere im äußersten Süden – nicht gelungen, die Fusion des Stuttgarter Radio-Sinfonieorchesters und des SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg zu verhindern. Die Geburt des SWR Symphonieorchesters an diesem September-Donnerstag markierte den Tod zweier Traditionsensembles, den Abbruch zweier Orchesterhistorien – das machte auch die deutlich über dem Üblichen liegende Erregungsstimmung im Foyer der Liederhalle, Dienstsitz des Megaorchesters auf Zeit (bis es in ferner Zukunft auf seine Sollstärke von 119 Musikern abgeschmolzen sein wird), nicht völlig vergessen.
Auf Reden im Saal wurde verzichtet, wie auf Werke von feierlicher Repräsentanz. Doch die Komponistennamen beim Gründungsakt sollten Hinweise auf eine der künftigen Profilierungen des SWR Symphonieorchesters geben: Gustav Mahler (Anbruch der Moderne), Béla Bartók (Klassische Moderne) Kaija Saariaho und Péter Eötvös (jüngere und aktuelle Zeitgenossenschaft) – in dieser Zusammenstellung ein nicht gerade süffiger Beginn, zumal drei Werke durch ihre Sujets reichlich Todesassoziationen boten …
Entschieden das Gegenteil solcher Seriosität fand sich im Drumherum des live im Fernsehen und als Stream im Internet übertragenen Konzerts. Der falsche, joviale Zungenschlag begann auf der Webseite SWR Classics, der neuen Dachmarke des Senders für seine Klassik-Aktivitäten und seine Klangkörper. „Ein flotter Mahler und Neue Musik, die alle angeht: Das SWR Symphonieorchester feierte einen fulminanten Einstand …“, lobte der Sender sich und sein Orchester selbst kurz nach Ende des Konzerts. Mahlers Adagio aus der Zehnten Sinfonie, komponiert in einem Zustand tiefster Verzweiflung, schwärzester Verfassung, „flott“ zu nennen, grenzt an Sabotage. Ähnlich munter moderierte der mittlerweile zum Kultur-TV-Callboy herabgesunkene Denis Scheck in der Pause über solche profunden Inhalte hinweg, interviewte liebedienerisch den Intendanten (begrüßt als „der Mann, der das alles ermöglicht hat“) und quasselte über die ersten Takte von Bartóks „Wunderbarem Mandarin“ hinweg, um noch seine Adenauer-Anekdote von der Uraufführung loszuwerden. Das alles vor einer penetranten Stimmungslicht-Orgelei, von keuschblau für die Troubadour-Liebe bei Saahiaro bis aggressivsexrot bei der Bartók-Suite. Wenn der SWR dieses kaum von Echo-Klassik-Preisverleihungen zu unterscheidende Laber- und Lichterniveau als ernsthafte Klassikoffensive betrachtet, dann wird es nichts mit der Morgenröte. Solchen Budenzauber hat das neue Orchester nicht nötig, wie es am ersten Abend bewies.
Den leitete Peter Eötvös, der einst Protestnoten von Komponisten und Dirigenten gegen die Fusion unterzeichnet hatte. Mit beiden Ur-Orchestern jahrzehntelang verbunden, sah er nun keinen Widerspruch darin, für diesen Neuanfang zur Verfügung zu stehen. In seiner sachlichen, werkbezogenen Herangehensweise, der präzisen Schlagmanier à la Boulez sicherlich ein Nenner für die vereinten Orchesterkulturen.
Das schwächste Werk stand am Anfang, Kaija Saariahos „Cinq Reflets“ aus ihrer Oper „L’amour de loin“, eine schon bei der Uraufführung 2000 in Salzburg blässlich-sensualistische Klangfarben-Musik, unoriginell in der Post-Debussy’schen Sprachbehandlung; die mittelmäßigen Solisten Pia Freund (Sopran) und Russell Braun (Bariton) verstärkten den Eindruck eines verschenkten Programmpunkts.
Es folgte der erste Satz aus Mahlers Sinfonie Nr. 10, bei der eklatant wurde, dass hier eine künstlerisch weiter ausholende, gestaltende Hand fehlte, zu wenige Impulse setzte Eötvös; dabei hatte er in Christian Ostertag einen überragenden Konzertmeister, der die Streicher auf Linie brachte, selbst idiomatische austriakische Soli beisteuerte. Aus dem Adagio wurde ein Adagietto, bei dem der Höhepunkt, der schockierende Neunton-Akkord nicht als Erschütterung wirksam wurde, sondern lediglich als Strukturpunkt. Ähnlich unterbelichtet in den Charakteren Bartóks Ballett-Suite, obwohl sehr spielstark dargeboten, lediglich in der Austarierung des Blechs noch etwas inhomogen. Herzblut, Lebendigkeit stellten sich allein in Péter Eötvös’ eigenem Werk ein, dem Violinkonzert Nr. 2, „DoReMi“, einer aperçuhaften Comic-Musik mit viel Witz und wenig Tiefgang, die aber der fabelhaften, blitzblank intonierenden Patricia Kopatchinskaja Gelegenheit für prägnantes Sprechen in Tönen gab und damit das Publikum hinriss. Genau und gespannt dialogisierten das Orchester und der prominent geforderte Solobratscher Jean-Eric Soucy mit der Temperamentssolistin.
Bedauerlich, dass gleich am Anfang gespart wurde: In der Bassresonanzen schwach abstrahlenden Liederhalle hätte bei Mahler und Bartók eine große Streicher-Besetzung (also mit zehn statt acht Kontrabässen) gut getan. Musiker sind ja genug vorhanden. Eine vielversprechende, engagierte Orchesterleistung. Jetzt fehlen am Dirigentenpult lediglich formende Persönlichkeiten. Einige sind fest gebucht: Philippe Herreweghe, Ingo Metzmacher, Cornelius Meister, Ilan Volkov, David Zinman. Und dann wird ja noch ein Chefdirigent gesucht.