„Christliche Popsongs und ausdrucksstarke Acrylgemälde“: Wer sich von Titeln wie diesen im 620 Seiten starken Programmbuch nicht abschrecken ließ, konnte beim 99. Deutschen Katholikentag so manche lohnende musikalische Erfahrung machen. Ob Regensburg Anfang des 21. Jahrhunderts weiterhin die von Franz Liszt apostrophierte „kirchenmusikalische Hauptstadt der katholischen Welt“ ist, mag dahingestellt bleiben, mit den selbst verantworteten Veranstaltungen erwies sie sich jedenfalls als guter musikalischer Gastgeber.
Die größte Ausstrahlung entfaltete hierbei naturgemäß die traditionsreiche Hochschule für Katholische Kirchenmusik und Musikpädagogik (HfKM), die an vielen Konzerten und Gottesdiensten maßgeblich beteiligt war. So gestaltete der Neue Kammerchor der Hochschule in vielversprechender Ökumene mit dem Raselius-Chor der Regensburger Kantorei ein Programm mit Pater-noster-Vertonungen von Heinrich Schütz bis Enjott Schneider – letztere als wirkungssichere, mit Gebetsglocke und Chimes-Flirren gegliederte Uraufführung.
Solide liturgische Gebrauchsmusik gab es mit Wolfram Buchenbergs Messe aus dem Jahr 2000, wobei Blechbläserquartett und Orgel den akustischen Rahmen des Konzertsaals der HfKM fast sprengten. Steve Dobrogosz’ nur im einleitenden Kyrie überzeugende jazzige „Mass“ von 1992 war beim leider unterforderten Jazzpianisten, dem wunderbaren Lorenz Kellhuber, und den zu Soßenbindern degradierten Hochschulstreichern in besten Händen. Christoph Schäfer (Buchenberg) und Mario Pfister (Dobrogosz) durften zeigen, was sie in der Dirigierklasse von Kunibert Schäfer gelernt hatten.
Schäfer selbst war der souveräne Koordinator für Georg Muffats prachtvolle, den Kirchenraum mit einfachen Mitteln herrlich in Schwingung versetzende Mehrchörigkeit. Seine von den im Raum verteilten Hochschulchören glänzend bewältigte „Missa in labore requies“ bot dabei überdies Mitgliedern der Vokalensembles „Singer pur“ und „Singphoniker“ Gelegenheit zu einem höchst erbaulichen Sängerwettstreit.
Natürlich war, nicht zuletzt auf diversen Freilichtbühnen, auch viel Beliebiges im Dunstkreis des Neuen Geistlichen Liedes zu vernehmen. Wo dieses von Laien mit Engagement und auf vernünftigem Niveau gepflegt wird, relativieren sich ästhetische Bedenken und persönliche Geschmacksbefindlichkeiten. Was in diesem Bereich allerdings an religiös verbrämtem Kommerz angeboten wird, spottet jeder Beschreibung.
Wohltuend, wenn da jemand eine markante Gegenstimme zum spirituellen Heidschibumbeidschi erhebt – Steven Heelein zum Beispiel. Der Kirchenmusiker, Komponist und Dozent an der Regensburger HfKM hat 2012 die Kammeroper „Die Lieder der Müllbergkinder“ geschrieben. Das Libretto von Benigno Beltran und Engelbert Groß umreißt in seinen dem kirchlichen Jahreskreis angelehnten Stationen das Schicksal von Kindern, die weltweit auf und von Müllbergen leben. Nicht szenische Aktion steht im Mittelpunkt – die Kinder sind als Tänzer präsent –, vielmehr erzählen und reflektieren die von drei Vokalisten und einer Sprecherin gesungenen und vorgetragenen Texte die desolaten Lebenssituationen und die dahinterstehenden Mechanismen von Armut, Gewalt und Unterdrückung. So wie die Texte weitgehend frei sind von Mitleidslyrik und beschwichtigenden Gemeinplätzen, so verweigert auch Heelein den effektheischenden Soundtrack oder das konsensfähige Lamento.
Das kleine Regensburger Kammerensemble „UnternehmenGegenwart“ lässt unter Leitung des Komponisten den Wind erbarmungslos über die Müllhalden pfeifen. Fahle, ausgebleichte Choräle oder ein desolates Krippenlied setzen Fragezeichen, statt es sich in Betroffenheitsbetulichkeit bequem zu machen. Aufkeimender Reduktionismus à la Pärt zerbröselt unter Blechattacken, in mehr oder weniger freien, undirigierten Passagen treibt die Musik zusammen mit den Kindern ins Ungewisse.
Auch wenn diese Mittel nach einer gewissen Zeit vorhersehbar werden und man sich anstelle der vielen Sprechpassagen durchaus eine stärkere musikdramatische Durchgestaltung vorstellen könnte, gelingt es Heelein mit dieser Freiluftaufführung, ein mit Neuer Musik wohl wenig vertrautes Publikum eine Stunde lang zu fesseln. Respekt.
Eine weitere wohltuende Gegenstimme war die gemeinsame Aufführung von Hans Krásas Kinderoper „Brundibár“ durch die Musikschulen Regensburg und Pilsen. Eine Produktion, die schon im vergangenen Jahr als herausragendes Erinnerungs- und Begegnungsprojekt über die Bühne gegangen war (siehe nmz 12-2013).
Als geeigneter Rückzugsort erwies sich außerdem der Dom St. Peter, wo unter anderem die Schola Gregoriana Monacensis unter der Leitung von Johannes Berchmans Göschl mit ihrem lebendig pulsierenden Choralgesang in einen spannungsvollen Dialog mit Olivier Messiaens „L’Ascension“ trat, beeindruckend gestaltet vom Domorganisten Franz Josef Stoiber.
Die insgesamt durchaus erfreuliche musikalische Ausbeute konnte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es dem Katholikentag gut angestanden hätte, über die von Enjott Schneider für den Abschlussgottesdienst komponierten wenigen Messteile hinaus einen größeren Kompositionsauftrag zu vergeben. Die Chance, auf diese Weise ein Signal zur kirchenmusikalischen Erneuerung oder wenigstens Erfrischung zu geben, wurde verpasst.