„Klangraum, Rang-kaum“ – ein Auditorium neben einem Gefreiten? „Klapperschlang, Schlapper Klang“ – ein Reptil neben einer Playbackanlage? „Metaphysik, Feta-Musik“ – Platon neben Sirtaki? – Das „Gemischte Doppel“ im Magazin der Süddeutschen Zeitung erfreut seine Leser schon lange mit gewagten Wortkombinationen. Und auch an der Spitze der Münchener Biennale für neues Musiktheater erwartet das Publikum ab diesem Jahr ein Gemischtes Doppel: Mit Manos Tsangaris und Daniel Ott stehen erstmals gleich zwei künstlerische Leiter vor ihrem Debut, wobei diese Formation aus je zwei Komponisten, Interpreten und Kuratoren weit über eine dialektische Konstellation hinausweist; vielmehr deutet sich im Gespräch mit den neuen Machern des weltweit einzigen Musiktheater-Festivals, das ausschließlich Uraufführungen zeigt, ein diskursiver Freistil an …
Produktive Dissonanzen
„Doppelt gemoppelt“, so weiß es der Volksmund, „hält besser“. So banal diese Weisheit ist, trifft sie doch einen programmatischen Kern der neuen Konstellation an der Spitze der Münchener Biennale. Weniger, weil Manos Tsangaris „ungern allein“ arbeitet und Daniel Ott in seinem Schaffen bereits mehrfach einen „fatalen Hang zu Kollektivkompositionen“ gezeigt hat: „Zu zweit können wir zweifeln und Dinge beschließen, zu zweit können wir uns ins Wort fallen, uns widersprechen. Wir können uns streiten und wir können diskutieren.“
Beide interessieren sich für den Diskurs, also die ästhetische Kraft von Widersprüchen und Interferenzen, von Störungen und Dissonanzen, welche die zeitgenössische Musik- und Theaterkultur oft genug befruchtet haben. Dabei betont Daniel Ott den „diskursiven Stil“, der die Programmentwicklung prozesshaft durchzogen habe; von der ersten Idee bis zur Produktion: „Vielsprachigkeit und Heterogenität sind paradigmatische Merkmale der Gattung Musiktheater, das nehmen wir ernst und heben es hervor.“ Mangos Tsangaris dagegen rekurriert auf den etymologischen Wortstamm: „Discurrere bedeutet Auseinanderlaufen, sich Zerstreuen, was für die künstlerische Produktivität ebenso notwendig ist wie das Gegenteil: concurrere, also die Konkurrenz.“
Im Gespräch vermittelt die neue Doppelspitze der Münchener Biennale die Vorteile gesunden Konkurrenzdenkens: Die künstlerische Kraft des agonalen Wettbewerbs, dem es nicht ums Gewinnen, sondern ums Darstellen und um interventionistische Performativität geht: „Kriterium, Krise und Kritik“, Tsangaris weist auf eine weitere Urbedeutung kulturproduktiver Reibungen hin, „sie alle kommen vom altgriechischen ,krinein‘: also dem Unterscheiden und Beurteilen.“ Dem Gemischten Doppel der Biennale geht es um das Hinterfragen festgefahrener Rollenmechanismen, Hierarchien und Dogmen: Musiktheater ist immer auch sozioästhetische Kommunikation – und diese pflegen Daniel Ott und Manos Tsangaris in einem diskursiven Freistil, mit dem sie „die außergewöhnlich erfolgreiche Geschichte zu neuen inhaltlichen und formalen Dimensionen“ weiterführen wollen.
Rites de Passage
Sprechen Daniel Ott und Manos Tsangaris von neuen Dimensionen, deuten sie darin auch einen Wendepunkt der Festivalgeschichte an. Denkt man etwa an die multimediale Anlage des Musiktheaters, dann kann man kaum über die Veränderungen infolge der „digitalen Revolution“ hinwegblicken – und diese auch nicht überhören. „Die kompositorischen Probleme bleiben dieselben“, meint zwar Tsangaris: „Nach wie vor geht es darum, einen werkhaltigen Korpus zu schaffen.“ Aber natürlich sei die Demokratisierung der Mittel durch die Digitalisierung eminent. Sie reichen von der künstlerischen Produktion bis zu ihrer Distribution und führen zu Hybridisierung, Pluralisierung und Globalisierung – auch der Künste: „Hier findet ein eklatanter Wandel statt.“
Kann man also, in Anlehnung an Hans Heinz Stuckenschmidts medientechnisch induzierte These von den „Drei Epochen“ der Musikgeschichte – vokal, instrumental, elektronisch – heute von einer „vierten“ sprechen: einer „Digitalen Ära“? Tatsächlich, so formuliert es Manos Tsangaris, sind unter digitalen Vorzeichen neue Strategien künstlerischen Innovationsstrebens gefragt, die sich „in den medialen Tentakeln der Öffentlichkeit zurechtfinden und den diskursiven Stil beherrschen“. Mit konkretem Blick auf die Biennale will Daniel Ott nicht von einem Bruch sprechen, „sondern lieber von einer Weiterentwicklung und Fortsetzung vorhandener Linien.“ Das zeigt sich etwa in der Förderung des Nachwuchses auf der Münchener Biennale, die bereits Hans Werner Henze zu einem Ort machte, „an dem theaterinteressierte Komponisten der jungen Generation ihre Ideen in die Wirklichkeit umsetzen können.“ Tsangaris und Ott legen einen Schwerpunkt auf die um 1980 herum geborene Komponistengeneration. Einige aus dieser Generation zeichnet eine besondere Medienkompetenz aus, die der multimedialen Anlage des Musiktheaters erneuernd beispringen kann, indem audiovisuelle Kommunikationsprozesse in den Blick und ins Gehör gestellt werden. Aber natürlich geht es – wie stets in der Musikgeschichte – auch bei der Biennale um eine Verortung in der Tradition.
Zurück in die Zukunft: Tradition versus Innovation
1988 wurde die Münchener Biennale für neues Musiktheater von Hans Werner Henze begründet – also einer prägenden Gestalt der Nachkriegsmusik. Pflegte Henze im Anschluss an die Traditionen das textbasierte Musiktheater, wurde er dafür von seinen experimenteller agierenden Kollegen Pierre Boulez, Luigi Nono oder Karlheinz Stockhausen boykottiert. Sie alle aber bereiteten den Humus, auf dem das zeitgenössische Musiktheater gedeiht. Nachdem nun fast alle prägenden Protagonisten der Nachkriegsavantgarde gestorben sind – Tsan-garis und Ott protestieren: „Schnebel lebt noch! Und wo sind Cage und Kagel?“ –, sollten die Maxime der Vordenker doch einer Prüfung unterzogen und die neue Münchener Biennale in ihrem Spannungsverhältnis zu den Traditionen ausgelotet werden. Schließlich hat jede Zeit ihre charakteristische Grammatik, sind „Komponisten wie eine Horde Wale, die das sozioästhetische Plankton nach dem Goldwäscherprinzip ernten.“
Forderte Pierre Boulez noch: „Sprengt die Opernhäuser in die Luft“, wird der Ansatz von der Münchener Biennale ungleich weniger martialisch eingelöst. Der ehemalige Kampf gegen das Establishment ist einer postmodernen Pluralität gewichen und äußert sich etwa in einer Dezentralisierung der Veranstaltungsorte, die sich vom Festivalzentrum an der Muffathalle über den Gasteig, alternative Räumlichkeiten wie das Ampere, Lothringer13 oder das Müller’sche Volksbad, bis hin zu Interventionen im öffentlichen Raum erstrecken: „Oper kann längst überall stattfinden“, betonen Daniel Ott wie Mangos Tsangaris und fügen hinzu: „Bei der Biennale passiert die Streuung durch die Ansätze der Komponisten wie von selbst.“
Luigi Nono steht für das gesellschaftliche Engagement der Neuen Musik und des zeitgenössischen Musiktheaters. Und auch Manos Tsangaris und Daniel Ott betonen: „Musiktheater ist für uns mehr als nur ein genrebezogenes, sinnliches Vergnügen“ – das fange bei „ästhetischen und formalen Rahmensetzungen“ an und reiche bis zu den „gravierenden politischen Veränderungen“, auf welche die Künste (re-)agieren: „Neues Musiktheater ist ein offenes Feld geworden, das auch gesellschaftliche Dissonanzen ausleuchten kann.“ Neben dem musikalischen Klassenkampf eines Nono, zeigt sich dieses in den 1960er- und 70er-Jahren insbesondere in den performativen Aktionskünsten im Umfeld der Fluxus-Bewegung: John Cage etwa habe „die Frage nach dem Originalitätsprinzip neu gestellt, indem er als Autor-Subjekt radikal zugunsten der Methode zurücktrat.“ Gewinnt diese Konzepthaftigkeit aktuell wieder enorm an Bedeutung, so weisen Dieter Schnebels performative Ausstellung von Geste und Sprache auf die diskursive Kraft des Musiktheaters und Mauricio Kagels Anwendung kompositorischer Kriterien auf theatrale Vorgänge zugleich auf die „Performativität als Teil des kompositorischen Denkens.“ Karlheinz Stockhausen schließlich hat mit LICHT gezeigt, dass monumentale Werke auch in der Moderne möglich sind und zugleich mit ORIGINALE die Happenings des New Theatre aufgegriffen. Auf dem Plakat des musikalischen Theaters stand 1961 zu lesen: „täglich uraufführungen“, und auf diese Betonung der Ereignishaftigkeit jeder Aufführung weist auch das Motto der Münchener Biennale 2016.
OmU – Original mit Untertiteln
Manos Tsangaris und Daniel Ott stellen ihrer ersten gemeinsamen Ausgabe der Münchener Biennale einen Begriff aus der Kino-Terminologie voran, den sie plurivokal ausleuchten: „Was heißt Originalität, was ist Übersetzung innerhalb des Musik-Theaters, seiner Vorlagen, Libretti, Partituren, Aufführungen, Traditionen, Dokumentationen und Rezeptionsgeschichten?“ Das Originalitätsprinzip verweist in Anlehnung an Walter Benjamin nicht nur auf die Authentizität und Übersetzbarkeit des „Kunstwerks in Zeiten seiner technischen Reproduzierbarkeit“, sondern auch seiner digitalen Produktion und Distribution; der Zusatz „mit Untertiteln“ deutet auf den diskursiven Freistil, den das Gemischte Doppel der Münchener Biennale pflegt. Weil Manos Tsangaris weiß: „Ohne Theorie ist kein Komponieren möglich“, wird nicht nur kompositorische Praxis, sondern etwa in einem Symposium auch kritische Praxis geübt.
Die Annäherungen der Komponisten an das Motto OmU freilich sind so vielgestaltig wie die moderne Lebenswelt: Die Werkansätze reichen von eher textbasierten Bühnenwerken und Opern, über Clubkultur und komponierte Installationen bis hin zu Performances im öffentlichen Raum und inszenierten Labyrinthen. Das Programm der Münchener Biennale weist so mit Daniel Ott und Manos Tsangaris an der Spitze auf die „Vielstimmigkeit unserer Lebenswelten, die den einzelnen Menschen als Schnittstelle gesellschaftlicher und medialer Kommunikation wieder in den Mittelpunkt rückt.“
Münchener Biennale für neues Musiktheater (28. Mai bis 9. Juni): www.muenchenerbiennale.de