Fritz Büchtger, gebürtiger Münchner, könnte am 14. Februar seinen 100. Geburtstag feiern. Er gehörte zu den prägenden Persönlichkeiten des musikalischen Lebens im Nachkriegsdeutschland. Nicht nur als Komponist wirkte er weit über München hinaus. Seine wichtigen Impulse als Organisator, Verbands- und Kulturpolitiker und weitsichtiger Pädagoge werden hier nachgezeichnet. Er kommt hier selbst authentisch zu Wort, gestützt auf ein Interview, das Klaus Bernbacher, vormals Musikchef bei Radio Bremen und zugleich Büchtgers Nachfolger als Vorsitzender der Musikalischen Jugend Deutschlands, ein Jahr vor dessen Unfalltod 1978, mit ihm geführt und aufgezeichnet hat.
Neue Musik in München – eine Selbstverständlichkeit, vielleicht die Stadt mit dem vielfältigsten und dauerhaftesten Angebot, oder wie es Milko Kelemen aus dem Blickwinkel 1956 einschätzte: München – „eines der wichtigsten Weltzentren der Neuen Musik“. „Musica Viva“ steht für die großen, orchestralen Formen der Musik. Kammermusik im Konzertsaal, im Kirchenraum hatte und hat ihren Platz in dem 25 Jahre lang von Fritz Büchtger gestalteten Studio für Neue Musik, in den Konzertreihen der Avantgardisten Josef Anton Riedl „Neue Musik“, Wilfried Hiller „musik unserer zeit“ und bei weiteren mutigen und munteren Initiatoren.
Die um 1900 Geborenen waren nach dem 1. Weltkrieg neugierig, ja unruhig geworden, etwas zu verpassen. Das Abwenden von akademischen Gesetzlichkeiten machte Schule. Man hörte Mitte der zwanziger Jahre von den künstlerischen Ideen und Experimenten der Wiener Neutöner und wollte mitbekommen, was in den damaligen Zentren Wien, Paris, London und Berlin an neu entstandener Musik Tagesgespräch war. Oder was sich bei den Musikfesten für zeitgenössische Tonkunst in Donaueschingen und Baden-Baden seit 1921 abspielte.
In München wurde einer von ihnen, von der Neugierde gepackt, initiativ: Fritz Büchtger. Er drängte darauf, teilzuhaben an den Hörerlebnissen und -erfahrungen und sich an der Diskussion zu beteiligen, vor allem aber selbst daraus zu lernen für seinen eigenen kompositorischen Weg. Das machte ihn zum Wegbereiter neuer Musik in München: „1927 habe ich mit einer Gruppe von jungen Leuten, teils Studierenden, teils jungen Lehrern, die Vereinigung für zeitgenössische Musik gegründet, und – offen gestanden – eigentlich aus Egoismus, weil ich nämlich als Kompositionsschüler der Hochschule endlich mal die Neue Musik kennen lernen wollte, die es damals eben gab.“
Mutig wandte er sich an Musiker wie Hermann Scherchen, Paul Hindemith und andere, von deren Musik er in Frankfurt gehört hatte. Geld hätten sie keines, aber sie kamen und fanden sich bereit. So kam der junge Büchtger als Vorsitzender dieser Vereinigung, die 1931 schon 400 Mitglieder registrierte, in beste Beziehungen zu den wenig älteren Komponisten der Zeit. Bei Carl Orff erbat er sich Rat, als es um seine Zulassungsarbeit an der Musikhochschule ging. Daraus wurde eine lebenslang gute Beziehung. Über die Vereinigung für zeitgenössische Musik konnte er eine Vielzahl Komponisten und Musiker ansprechen und einladen: „Schönbergs 3. Streichquartett war eines der Schreckgespenster unserer Konzerte. Bartok hat uns sein viertes Streichquartett gegeben zur Uraufführung durch das Pro Arte Quartett Brüssel.“
Der Beginn des Dritten Reiches schränkte die Aktionsfähigkeit ein. Denn unter der zahlreich aufgeführten neuen Musik waren auch uner- wünschte Namen. „So hieß es sofort, ich bin Kulturbolschewist, und ich durfte zunächst nichts mehr machen...“ Mit einem Jahreszuschuss von 500 Mark von Münchens Kulturreferent konnte die mittlerweile in eine harmlosere Bezeichnung umbenannte „Neue musikalische AG München“ mit regelmäßigen Konzerten „aus dem Gesamtgebiet der Musikliteratur“ (so die fingierte Bezeichnung) vorerst weitermachen, „in den Souterrain-Räumen der Tonhalle, im Untergrund halt, und da waren eben nur 20 bis 30 Leute da. Doch alle Musiker haben mitgemacht.“
Nach dem 2. Weltkrieg bekam Fritz Büchtger das 1946 von Wolfgang Jacobi und Hans Mersmann begründete Studio für Neue Musik übertragen, das er von 1948 bis Mitte der siebziger Jahre leitete – „die ganze Epoche der Neuen Musik im Bewusstsein behaltend“, wie er es programmatisch ausdrückte: „Da habe ich mich wieder da hinein gekniet, das Studio als Informationsquelle aufgebaut für Menschen, die Neue Musik während des Dritten Reichs nicht hören konnten. Das Ergebnis ist, dass wir heute ein anständiges Publikum in München haben...“
In diesem dem Münchner Tonkünstlerverband angeschlossenen Studio für Neue Musik haben viele Generationen von Komponisten ihren Namen teilweise zum ersten Mal gedruckt gesehen, zum ersten Male ihre Werke gehört. Besonders bemerkenswert, dass mit Hunderten von Veranstaltungen in all den Jahren, motiviert von Entdeckerfreudigkeit, ein offenes Podium für alle stilistischen Bereiche Neuer Musik gepflegt wurde, offen von der Generation um Karl Marx und Grete von Zieritz bis zu seinen jüngsten kompositorischen Entdeckungen, die er maßgeblich gefördert hat. Dazu gehören Killmayer, Kelterborn, Lachenmann und „ein großer Teil der Schüler, die an der Hochschule bei Bialas waren, die bei mir gearbeitet haben wie Hamel, Stranz, Ronnefeld“.
Der Organisator
Mit den 1928 bis 1932 von Büchtger durchgeführten fünf Festwochen eroberte sich die damals Neue Musik ihr Münchner Terrain. Ähnlich tolerant war sein Konzept für die noch „gesamtdeutsch“ organisierten Musikfeste 1955 in Weimar, 1956 in Coburg sowie bei dem Versuch, „die Deutschen Allgemeinen Musikfeste wieder aufzuleben, die seinerzeit Liszt begründet hatte. Wir haben das erste 1967 in München durchgeführt und das Erstaunliche war, dass es ein merkwürdiger Erfolg war, sogar beim Publikum...“ Ein zweites ebenso erfolgreiches und verbunden mit den von Klaus Bernbacher über Jahrzehnte geführten Tagen der Neuen Musik Hannover folgte und ein drittes Musikfest in Stuttgart, dessen Resonanz allerdings bescheiden blieb.
Das war in jenen Jahren, in denen Büchtger den 1964 von ihm betriebenen, wiederbegründeten Tonkünstlerverband, den Verband deutscher Musikerzieher und konzertierender Künstler, erst als Vizepräsident, ab 1972 als Präsident, musikalisch wie verbands- und kulturpolitisch mit zahlreichen Aktivitäten prägte. Aus den Erfahrungen der Jugendwettbewerbe für Klavier, die in der Obhut der Tonkünstlerverbände standen, kam speziell von ihm die logische Forderung, auch andere Instrumente im Wechsel einzubeziehen. Mit der Erweiterung des Wettbewerbskonzeptes „Jugend musiziert“ ging es ihm auch darum, den Musikerziehern ein wachsendes Aufgaben- und Orientierungsfeld zu geben. Längst bevor die Bundesregierung mit der Künstler-Enquete sich auch der freischaffenden Künstler angenommen hatte, weckte Büchtger in dem neu formierten Berufsverband berufspolitisches Bewusstsein. Er rief zu gemeinsamem kulturpolitischen Handeln auf, gründete 1971 mit den Berufsverbänden und pädagogischen Institutionen die Aktionsgemeinschaft Musik in Bayern. Sie wurde Ausgangspunkt für den sich sechs Jahre später unter Alexander Suders gründenden Bayerischen Musikrat.
Der Pädagoge
Büchtger interessierte nicht nur das Schöpferische, nicht nur das Management, sondern gerade auch die dritte, die pädagogische Dimension. „Auch das kam wieder ganz von selbst an mich heran“, ist seine wiederholte Redensart, und so war es auch mit der Musikalischen Jugend, den 1950 in Bayreuth gegründeten Jeunesses Musicales in Deutschland, die gewisse Schwierigkeiten in ihrer Weiterführung sahen. Da wichtige Impulse immer wieder aus München von Fritz Büchtger kamen, hatte eine bayerische Initiative vorgeschlagen, ihn für diese junge Organisation Musikalische Jugend 1953 zu ihrem Vorsitzenden zu wählen, den Sitz nach München zu holen. Das von ihm damals eingebrachte Kitzinger Manifest mit seiner Hinwendung zur alten wie zur neuen Musik hat auf die jungen Menschen einen starken und nachhaltigen Eindruck gemacht und von da an Weg und Ziel der Musikalischen Jugend richtungsweisend bestimmt.
Als zeitweiser Präsident der internationalen Föderation und als Gastgeber hat er den Jeunesse-Kongressen in Hannover und Berlin mit seinen jüngeren Mitstreitern – dafür stehen Namen wie Bernbacher, Hashagen, Bieringer, Rohlfs, Busemann – Profil verliehen. „Neue Laienmusik“, wie er das neue Aufgabenfeld nannte, wurde einwichtiges Stichwort für ihn, nämlich auch für Laien technisch und musikalisch zu bewältigende Musik zu realisieren und die Amateurspieler, die auf alte Musik fixiert waren, dafür zu motivieren. Zunächst bekamen die in Bayreuth fortgeführten Fest- und Arbeitswochen der Jeunesses Musicales in Bayreuth einen der aktuellen Musik gewidmeten Akzent.
1956 wurde er Initiator des Zentrums der Musikalischen Jugend auf Schloss Weikersheim, wo er die Möglichkeit sah, eine ruhige, einzigartige Arbeitsstätte mit Inhalt zu füllen. Die Konzeption der Orchester-, Kammermusik- und Opernkurse in Weikersheim ging auf ihn zurück, nämlich dem Defizit an Ensemblespiel an den Musikhochschulen etwas entgegen zu setzen. Dieses Weikersheim, das war das „Dritte Semester“, das praktische Semester. Es stand unter Büchtgers Leitung bis es 1963 von Klaus Bernbacher, der ihm als Vorsitzender der Musikalischen Jugend gefolgt war, in diesem Sinne weitergeführt und weiter entwickelt wurde.
Der Komponist
Für Büchtger, der bis zum Kriegsende mit vielfältigen musikalischen Aufgaben als Lehrer, Chor- und Ensembleleiter und auch im Kriegsdienst beschäftigt war, begann 1945 als schaffender Komponist zugleich der eigentlich wichtigste musikalische Abschnitt seines Lebens:
„Als ich diesen Impuls hatte, mich mit der Zwölf zu beschäftigen und zwar nicht so sehr vom Musikalischen aus, sondern vom geistigen Prinzip der Zwölf, vom Zusammenhang der Zwölf im Tierkreiszeichen ... und als ich dann kapiert habe, was es an Möglichkeiten gibt, habe ich es dann selbst übernommen. Aber für mich war das Ausschlaggebende, dass die zwölf Töne der Reihe für mich nicht nur eine Konstruktion irgendwelcher Töne sind, sondern diese zwölf Töne als Reihe müssen ja gehört sein. Das ist allerdings etwas, was im Zusammenhang steht mit der Auffassung der Anthroposophie, der ich ja nahe stehe. Dass der Tierkreis auch wiederum nicht einfach etwas Abstraktes ist, sondern bestimmte Wesen. Und unsere zwölf Töne haben eine Beziehung zu diesen Wesen. Wenn ich also zwölf Töne in einer Reihe abschreite, so mache ich eigentlich einen Gang durch den Tierkreis. Das war es, was mich in erster Linie daran gereizt hat.
Meine Auffassung von Musik über- haupt: Ich glaube, es ist nicht nur etwas, wo man seine Gefühle austobt. Oder seine Leidenschaften. Sondern für mich ist Musik etwa im Sinne der Bach’schen Kanons aus dem Musikalischen Opfer, eine Erinnerung an die sogenannte Sphärenharmonie, also an Musik des Kosmos... Ich versuche eben doch, geistige Dinge darzustellen in Musik. Wie hat Klee gesagt: „Ich male nicht das Sichtbare, sondern ich mache das Unsichtbare sichtbar“. In dem Sinne ist für mich Musik ein Hörbarmachen von geistigen Dingen. Und deshalb war ich von Anfang an in meinem Werk immer auch zu sogenannter religiöser Musik geneigt... Mein ganzes musikalisches Wesen ist eigentlich vom Singen geprägt. Insofern schreibe ich Musik so, dass man sie singen kann.“
Ein reiches Opus an Liedern, an Chorwerken und dann die großen und kleineren Oratorien. So sind seine beiden Oratorien „Der Weiße Reiter“ und „Das Gläserne Meer“ außerordentlich schwer, nur von Berufschören zu singen. – Da wurde mir klar, dass es ganz schön ist, wenn man so schreibt, wie man empfindet. Aber dass man auch so schreiben muss, dass auch Laienchöre so etwas singen können.
Dann habe ich versucht, denselben Stil, nur nicht so kompliziert, zu schreiben. In den instrumentalen Werken bin ich nun doch mehr vom Musikantischen ausgegangen. Ich denke an meine sechs Streichquartette, die alles Musizierstücke sind, an das Violinkonzert, das ein richtiges Konzert ist, das Konzert für Streichorchester, das Konzert für Orchester, von Klaus Bernbacher bei den Tagen Neuer Musik uraufgeführt. Das vorletzte Orchesterwerk „Schichten – Bögen“ halte ich für das wichtigste Orchesterwerk. Das allerletzte ist das „Ascensio“ (Himmelfahrt), das Hans Zender in Saarbrücken im Jahr 1975 uraufgeführt hat. Das ist kein Musizierstück. Das ist eigentlich eine geistliche Musik, aber nur für Orchester.“
Büchtgers eigenes Urteil zu seinem Werk und dessen Einschätzung klang ein Jahr vor seinem überraschenden Unfalltod genügsam, genügsam wie er es auch in seinem ganzen Leben war, umsorgt und liebevoll betreut von seiner Ehefrau Elisabeth.
Es klang vor allem selbstsicher und optimistisch: „Die Oratorien sind etwas, was nur ich geschrieben habe. Insofern sind sie vielleicht einiger- maßen wichtig. Aber für mich sind die Streichquartette wichtig, weil wie immer Streichquartett die Königin der Komposition ist. Und die wenigen Orchesterwerke, die ich geschrieben habe, halte ich – welcher Komponist hält sie nicht für wichtig? Nicht so wichtig, was ich davon halte, wichtiger wäre, was die anderen Menschen für wichtig halten. Ich habe schon die Hoffnung, dass irgendwann einmal die Dinge auch zum allgemeinen Bestand gehören werden.“