Selbst Marcel Reich-Ranicki ist inzwischen der Meinung, dass der große Roman der Gegenwart Woche für Woche im „Spiegel“ steht: Fakten, Statements, Reportagen hart montiert – nichts kann einen so schwindlig machen wie die pure Oberfläche der „Welt“. Jürgen Teipel, als szenekundiger Hardcore-Selbsterfahrungsjournalist immer schon ein Maniac, geht in seinem Punk-Doku-Roman noch einen Schritt weiter: wo der „Spiegel“ Wirklichkeit durch „Analyse“, Zynismus, Meinung wattiert, kommt bei ihm die Geschichte einer Generation vollkommen ungeschönt daher: als Theater der hundert Stimmen, als unaufhörlich-mäandernde Gedanken- und Gefühls-Collage all derer, die dabei gewesen sind.
Selbst Marcel Reich-Ranicki ist inzwischen der Meinung, dass der große Roman der Gegenwart Woche für Woche im „Spiegel“ steht: Fakten, Statements, Reportagen hart montiert – nichts kann einen so schwindlig machen wie die pure Oberfläche der „Welt“. Jürgen Teipel, als szenekundiger Hardcore-Selbsterfahrungsjournalist immer schon ein Maniac, geht in seinem Punk-Doku-Roman noch einen Schritt weiter: wo der „Spiegel“ Wirklichkeit durch „Analyse“, Zynismus, Meinung wattiert, kommt bei ihm die Geschichte einer Generation vollkommen ungeschönt daher: als Theater der hundert Stimmen, als unaufhörlich-mäandernde Gedanken- und Gefühls-Collage all derer, die dabei gewesen sind.Teipels methodischer Ausgangspunkt sind die beiden Grund-Wahrheiten des „New Journalism“: Man muss erfahren haben, worüber man berichten möchte. Die Welt ist nicht im Kopf, sondern eine Wildnis, die man durchqueren muss. Und: Die Wirklichkeit ist nicht einfach nur die Fülle der Eindrücke. Sie muss erst die Subjektivität „passieren“, bevor sie sichtbar wird. Haltung und Stil sind nicht entbehrliche Zutaten, sondern Mittel der Erkenntnis.Deshalb hat Teipel zuerst mit (fast) allen wichtigen Protagonisten des Punk in Deutschland gesprochen. Mehr als 1.000 Interview-Stunden kamen auf diese Weise zu Stande; das einzigartige Archiv einer Ära, die beides ist: nach wie vor vital/virulent und verschollen. Teipel wollte sich aber nicht mit einer schlichten Dokumentation begnügen. Seine Grundidee war anspruchsvoller und persönlicher. Die Erinnerungen, die er sammelte, wurden unter seiner ordnenden, montierenden Hand zum Material eines großen Zeit- und Gesellschafts-„Romans“, der zu Recht seinen Namen trägt. Denn „Verschwende Deine Jugend“ ist nicht nur das faszinierende Porträt des „Untergrunds“ der späten 70er- und frühen 80er-Jahre, sondern auch die Initiations-Geschichte des Autors Jürgen Teipel, für den Punk die role-models zur Verfügung stellte, an denen er seine eigene, unverwechselbare Subjektivität ausbilden konnte.
Punk begann Mitte der 70er-Jahre als doppelte Revolte: gegen die graue Welt der Erwachsenen, in deren Wünschen und Sekundärtugenden der verdrängte oder nur halb und falsch „bewältigte“ Faschismus fortlebte; und gegen die bunte Anti-Welt der Hippies, dieses rousseauistische Häkel-Idyll aus selbstgerechtem Anderssein und Aussteigertum, aus Sex und Stövchen, Drugs und Selbststrick-Pullover.
Punk begann nicht als Musik-Genre, nicht einmal als halbwegs klar definierter Lebensstil, sondern als Provokation und Verweigerung. Rückblickend erscheinen die Punks als Avantgardisten einer Medien- und Öffentlichkeits-Guerilla, die virtuos mit Symbolen spielten und mit Haltungen experimentierten. Wenn Moritz Reichelt, Maler und Frontmann des PLAN, heute sagt: „So ein Typ wie Harald Schmidt, das ist letztlich auch ein Produkt von Punk“, dann formuliert er eine fatale Dialektik des Fortschritts: wie die 68er-, so scheiterte auch die 77er-Generation gemessen an ihren ursprünglichen existenziellen, politischen und ästhetischen Ansprüchen. Sie war aber durchaus folgenreich. Sie veränderte die Mode, die Kodes der Werbeagenturen und die Dramaturgie der Medien.
Punk-Accessoires sind heute fast schon der Normalfall jugendlicher Selbstinszenierung: blaue Haare oder Piercings schocken keinen mehr, den Müll-Chic haben längst die teuren Boutiquen übernommen. Am Ursprung von Punk aber stand das pure Entsetzen: der „Spiegel“ verbreitete mit einer frühen Punk-Reportage den reinen Horror. Die linke Öffentlichkeit vermutete in den Kurzhaar-Teens neue Nazis, weil diese in Hakenkreuzen und Uniformen wunderbare Mittel entdeckten, endlich Differenz zu den „liberalen“ Eltern und Lehrern herzustellen. Die staatstreue Rechte sah in den missratenen Kindern dagegen RAF-Sympathisanten, weil der rote Stern und die Kalaschnikow zu ihrem Ausdrucks-Repertoire gehörten. Punk war aber nicht politisch in einem vordergründigen Sinn. In Andreas Baader sahen sie vor allem den coolen Dandy, in Christian Klar den virtuosen Stadtindianer, der immer wieder durch die Netze der Ordnungs-Sheriffs schlüpfte.
Punk war Protest gegen die wohlgeordnete Welt mit ihren Zustimmungszwängen und die planen Karrieren mit ihrem voraussehbaren Ende. Punk war aber auch eine Bewegung, die Metaphern genauso ernst und wörtlich nahm wie Vorwürfe. Aus dem „Anrotzen“ wurde plötzlich eine massenhafte Praxis. Und der Erwachsenen-Einwand, dass gewisse Rock-Bands nur drei Akkorde beherrschten, wurde durch konsequente Überbietung (nur ein Akkord!) ad absurdum geführt.
Was an Teipels Buch frappiert: wie kollektiv doch Erinnerung funktioniert, wie sehr man sich, im Rückblick, auf ein Muster einigt. Nur deshalb kann er die persönlichen Geschichten so virtuos ineinander schneiden und übereinander blenden: sie ergänzen und verdeutlichen; wirklich widersprechen tun sie sich nur selten.
Teipel begann als Fan. Sein Buch ist aber alles andere als beschönigend. In Punk-Bohemia kann es ganz schön kalt und grausam zugehen. Solidarität ist oft nur Hohn angesichts einer (selbst-)ausbeuterischen Geschäfts- und Lebensform. Das Streetfightertum ist meist nur Pose; Orientierungslosigkeit und Verzweiflung ihr Grund.
Die Männer und Frauen der ersten Stunde waren in fast allen Fällen die Verlierer der Bewegung. Sie sind im Niemandsland verschwunden und haben bezahlt. Peter Hein, Frontmann und Texter fast aller frühen Punk-Bands („Charley’s Girls“, „Mittagspause“, „Fehlfarben“, „Family 5“), schuftet heute noch, wie Jürgen Teipel formuliert, „in undurchsichtiger Position“, im Lager von Rank Xerox. Campino, sein treuester Fan, wurde später mit dem Fun-„Punk“ der Toten Hosen zum Multi-Millionär. Alfred Hilsberg, „Sounds“-Autor und Label-Chef, der mit seiner Devise „Lieber zu viel als zu wenig“ zum wichtigsten Promoter des deutschen Punk wurde, bezahlte Enthusiasmus und geschäftlichen Leichtsinn mit lebenslangen Schulden. Während ein blass-melancholischer Poser wie Blixa Bargeld zum wohlsituierten Darling der Feuilletons, Goethe-Institute und Subventions-Theater avancierte: ein wohl gelittener und gut verdienender Jetset-Bohemien.
Jürgen Teipel: Verschwende Deine Jugend. Ein Doku-Roman über den deutschen Punk und New Wave. Suhrkamp 2001