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Hybride Generation

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Die musica viva fahndet nach der Klangkultur der 40-Jährigen
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Was hat die Veröffentlichung von Pink Floyds „Wish You Were Here“ mit den Toden von Boris Blacher und Pier Paolo Pasolini zu tun? Und was der Filmstart von Stephen Spielbergs „Der weiße Hai“ mit der Geburt des kanadischen Dirigenten Yannick Nézet-Séguin? Nicht viel, außer das sich all diese Ereignisse 1975 abspielten. Dem Jahr also, in dem auch Oscar Bianchi und Hans Thomalla geboren sind – jene zwei Komponisten, die am 2. Juni mit Uraufführungen im Münchner Herkulessaal zu Gast waren.

Die Programmierung des Orchesterkonzerts der musica viva des Bayerischen Rundfunks erlaubte eine spannende Fragestellung: Gibt es so etwas wie eine Leitästhetik der Komponistengeneration um die Vierzig – dem Alter also, in dem man nicht mehr zu den Jungen gehört und im besten Falle selbst stilprägend wirkt? So viel sei vorweggenommen: nein.

Aber gehen wir zunächst einen Schritt zurück – denn eine Konzertansetzung um 17.00 Uhr, noch dazu bei hochsommerlichen Temperaturen, ist nicht nur ungewöhnlich, sondern auch riskant. In diesem Fall aber machte diese­ Maßnahme der Verantwortlichen Sinn – fand doch am selben Abend auch die Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises statt.

München war also für einen Tag ein Zentrum der zeitgenössischen Musikkultur und viele nutzten die doppelte Gelegenheit. Im Herkulessaal machte Oscar Bianchi den Anfang mit „Inventio“ für Orchester, was bekanntlich Erfindung bedeutet. Und um nichts anderes als das Entdecken neuer Klangwelten geht es dem Italiener: Der schnarrend-knatternde Beginn, würde man ihn nur akusmatisch verfolgen, könnte ebenso von elektronischen oder digitalen Gerätschaften stammen. Und doch sind es profane Gegenstände, die das spielfreudig aufgelegte Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der hochpräzisen und zugleich sinnlichen Leitung Johannes Kalitzkes bedient: Gefrierbeutel erzeugen rauschhafte, Alufolie knisternde Impressionen. Aus dem archaischen Klangmeer schälen sich einzelne Töne heraus, bleiben stehen, bevor sie von Ausbrüchen tremolierender Glissandi abgefangen werden. Bianchi versteht es, einen energetischen Sog zu entwerfen, auch weil sein Stück kurzweiligen Humor zeigt: Im Dialog der Brummfrösche oder schiffshupenartigen Posaunenfanfaren, während die Perkussionisten im Hintergrund tönende Propeller kreisen lassen.

Hans Thomalla folgt mit seiner „Ballade“ für Klavier und Orchester anderen Prämissen und einem Klavierstück mit dem Namen „Ballade.Rauschen“, das er 2015 für Nicolas Hodges schrieb, der nun auch die orchestral erweiterte Fassung mit der ihm eigenen entspann­ten Schärfe uraufführte. Sein Klavierpart ist eine liedhafte Erzählung, die sich in klaren Skalen über einem orchestralen, von hellen Glockenschlägen übermalten Klangbett erhebt. Mit seinen lichtkonzentrierten Höhen und den verschattet rauschenden Tiefen fließt Thomallas Stück mit Anmut dahin, allerdings ohne die energetische Dichte von Bianchis „Inventio“ zu erreichen.

Und, gibt es sie nun, die Generationen-Ästhetik der Komponisten um die 40? Wie schon gesagt: nein. Vielmehr gab es zwei eigenständige Klangsprachen zu hören, die gerade deshalb die Ästhetik ihrer Zeit repräsentieren, eben weil sie hybrid klingen wie unsere Gegenwart. Und das gilt für jede Musik, spätestens seit dem Jahr 1975, das als Geburtsstunde der Postmoderne gilt: jene Ära also, die sich jeglichen Festschreibungen widersetzt und den Pluralismus feiert.

In diese Ära gehört auch der eine Generation früher geborene Gérard Grisey. Sein spektrales „L’Icône paradoxale“ (1994) ist klanggewordene Doppelbelichtung. Zwei mal zwei Orchestergruppen bilden einen symmetrischen Kreis um zwei Sängerinnen – Anja Petersen und Donatienne Michel-Dansac –, die sich nicht nur in ihren wunderbaren Stimmen gleichen und so ein flirrendes Duplikat erzeugen. Verwirrt steht der Hörer vor diesem paradoxalen Klangbild und kann sich freuen, dass das Zeitalter der Leitkulturen vorbei ist und die hybride Generation das Zepter übernommen hat.

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