„Wie viele junge Komponisten vor uns wollten wir alles anders machen“, erinnerte sich der Münchner Komponist Moritz Eggert an die Anfänge des aDevantgarde-Festivals. Alles anders machen wollten auch Alexander Strauch und Johannes X. Schachtner, die bei der 12. Auflage des Festivals erstmals am Ruder der aDevantgarde standen. Auf ihrer Suche nach neu-klingenden Welten, steuerte das veranstaltende Komponisten-Duo unsichere aber keineswegs seichte Gewässer mit einem wahren Archipel aus stilistischer Vielfalt, Programmdichte und Veranstaltungsorten an.
Unter der programmatischen Beflaggung „Dogma-Antidogma“ wurde insbesondere der zentrale Festivalsamstag ganz der Balance zwischen ästhetischen Doktrinen und originärer Schöpferkraft gewidmet, aus denen die Musik ihre Spannung bezieht. Jenseits der gängigen Normen, fiel die Wahl auf den Bob Beaman Music Club als Konzertsaal: Wo normalerweise Hipster ihre Hüften schwingen, verband das Hamburger Decoder Ensemble Versatzstücke der Clubkultur mit zeitgenössischer Kammermusik: Sampler, verstärkte Bässe und Zuspiele begegneten vor einem auffällig jungen Publikum klassischem Instrumentarium und kritischer Konzeptmusik. Johannes Kreidlers umstrittenes Stück Fremdarbeit erntete in München begeisterte Reaktionen. Daneben standen die Uraufführungen von Gordon Kampe und Alexander Strauch im Zentrum des Konzerts. Strauch klopfte mit „Non abbiate paura“ den Inaugurationsspruch Papst Johannes Paul II., „Habt keine Angst!“ auf sein Potential für die Krisen der Gegenwart ab. Dagegen machte sich Kampe an eine Nischenmusik mit Klopfgeistern. Mit Blick auf das Spartendasein der Neuen Musik, darf man das Werk auch als kritische Auseinandersetzung mit dem „ästhetischen Absolutismus“ der 1950er-Jahre deuten, deren Dogmen teils bis heute zelebriert werden.
aDevantgarde ist da eine erfreuliche Ausnahme. Auch in der Neuen Musik leistet man sich weiß-blaue Sonderwege „jenseits des Mainstreams in der zeitgenössischen Kammermusik“, wie Strauch und Schachtner die Zielsetzung ihres Engagements formulierten. Dieses Vorhaben gelang über weite Strecken durch ein Programm, das den rhizomatisch wuchernden Verzweigungen der Kunstmusik anno 2013 von der Club- zur Kammermusik und von noise bis zur Klangaskese nachspürte.
Sinnlich, fast trotzig klangschön hatte das Festival mit einem zweiteiligen Programm begonnen. Im Eröffnungskonzert „Ænigma et Stupor“ prallte Vergangenheit und Zukunft der abendländischen Musik in der Allerheiligenhofkirche aufeinander. In der zeitlosen Atmosphäre des betagten Sakralraums mit seinen futuristischen Lichtinstallationen, stellten Iris Lichtinger und Stefan Blum Alte und Neue Musik für Blockflöte und Perkussion in einen Dialog. Auf Hildegard von Bingens rituelle Beschwörung „O quam mirabilis“ folgte das fast 1000 Jahre später komponierte Nirgun Bhajan von aDevantgarde-Mitbegründer Sandeep Bhagwati. Das Werk changiert zwischen ritueller Urkraft, indischen Anklängen und avantgardistischer Würze. Zwar ist die Komposition notiert, wie Bhagwati ausführte, doch „wird jede Einstudierung bestimmt von den Fähigkeiten und Entscheidungen der ausführenden Musiker.“ Und durch seine Interpreten konnte das Werk eine hervorragende Premiere feiern, denn insbesondere mit Iris Lichtinger an den Flöten darf man alle Vorurteile gegen das oft geschmähte Instrument sofort und getrost über Bord werfen.
Am Ende des zweiten Konzerts am Eröffnungsabend tauchten Lichtinger und Stefan Blum noch einmal in Sofia Gubaidulinas „Am Rande des Abgrunds“ auf, wo sie die acht Cellisten des Ensemble CelloPassionato mit den beschwipsten Sphärenklängen aus Aquaphonen flankierten. Im Verlauf des Nachtkonzerts konnten die Zuhörer feststellen, dass Cello-Ensembles nicht nur den Schmuse-Rock zu bereichern vermögen. Dies bewies Julius Berger, der Augsburger Professor für Violoncello, eindrucksvoll mit seinen Meisterschülern. Im Halbdunkel beschwor der schmeichelnde Vielklang der Celli eine Klangsinnlichkeit, der man sich nur schwer verschließen kann. Neben den unverwechselbaren spirituellen Klangsprachen Arvo Pärts und Sofia Gubaidulinas, erzeugte die Neufassung von Wilhelm Killmayer Sostenuto durch Markus Schmitt ein mikrotonales Flimmern, das unter die Haut ging. Giovanni Bonato gruppierte die Cellisten um das Publikum und erzeugte so einen quasi sakralen Dolby-Surround-Klang. Neue Musik im strengeren Sinn konnte man im Auftragswerk Vague-Requiem von Oscar Strasnoy hören; er schaffte es, dem wohlig-süßen Gesang der Celli mit expressiven Glissandi und Geräusch-splittern zu widerstehen.
Zu Ende ging das 12. Münchner aDevantgarde-Festival mit der titelgebenden und von mehreren Komponisten realisierten Neuvertonung der Messliturgie „Missa est“! Mit dem Verweis auf die Ursprünge der abendländischen Kunst in der Kirchenmusik, verband sich gleichermaßen ein Motto zum Aufbruch in neue klingende Welten: „Seid ausgesandt!“