Zu seinem Stück „Adhan“ schreibt Maximilian Marcoll: „Pfingsten ist ein ursprünglich jüdisches Fest (Shavuot), das – laut Bibel – gerade von den Aposteln gefeiert wurde, als der Heilige Geist in sie fuhr und sie befähigte, in allen Sprachen zu sprechen, die damals in Jerusalem vertreten waren. Das Pfingstfest wurde einem bereits bestehenden jüdischen Feiertag also quasi aufmoduliert und markiert einerseits die ‚Geburt der Kirche‘, andererseits aber auch ein Gegenbild zu Babel: Die Verständigung zwischen unterschiedlichen Kulturen.
Das ursprünglich für Konzerte an Pfingsten 2015 entstandene Stück besteht aus einer Aufnahme eines Muezzins und einer Dopplung seines Gesangs durch die Glocken des Carillons und durch eine Aufnahme des jüdischen Shofar. Ausgehend von der durch religiöse Kontexte aufgeladenen Aufführungssituation (Glockenturm, jüdisch-christlicher Feiertag mit Völkerverständigungskontext) werden die drei großen monotheistischen Religionen symbolisch in einer Geste verwoben.“
Aiman Mazyek, der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland (ZMD) wurde im Vorfeld der geplanten Uraufführung 2015 angeschrieben und um eine Stellungnahme zu diesem Projekt gebeten. Er schrieb: „Kunst ist eine internationale Sprache. Je nach der Melodie ihrer Sätze kann sie anecken, kann sie beleidigen, aber sie kann auch versöhnen und Verständnis stiften. Mit großem Wohlwollen und Dank sehe ich dem Stück ‚Adhan‘ entgegen. Ich hoffe, es bringt Juden, Christen und Muslime in dieser stürmischen und gewaltvollen Zeit wieder näher zueinander.“
Nachdem die Uraufführung seines Carillon-Stücks „Adhan“ 2015 nicht stattfinden konnte, hat Marcoll versucht, für Pfingsten 2017 Aufführungen an Caril-lons im gesamten europäischen Raum zu organisieren. Zunächst gab es auch Zusagen einiger Carillons in verschiedenen europäischen Ländern. Teilnehmen wird aber nun kein einziges. „Es stellt sich heraus, dass man selbst mit der Unterstützung durch zwei große Rundfunkanstalten (Deutschlandradio Kultur, SWR) und einer Stiftung, ideeller Unterstützung durch einen Neue-Musik-Veranstalter, die INM Berlin (die die Uraufführungskonzerte damals finanziert hätte) und der Akademie der Künste und mit theologisch-philosophischem Backup im Rücken hier nicht weiterkommt. Anscheinend traut sich niemand, im öffentlichen Raum künstlerisch ganz deutlich zu werden“, schreibt Marcoll.
Am Pfingstsonntag wird es nun in der Kirche zum Heilsbronnen in Berlin-Schöneberg ein installatives Konzert geben, in dem das Stück in einer speziell eingerichteten Innenraumfassung mit Orgelglockenspiel von 18 bis 22 Uhr alle zwanzig Minuten zu Gehör gebracht wird.
Martin Hufner sprach mit Maximilian Marcoll über Engagement, Feigheit und die Bedeutung von Klängen.
neue musikzeitung: Ihr Stück „Adhan“ scheint „aus Gründen“ unaufführbar: 2015 wurde das Stück das erste Mal nicht gespielt. Im Vorwort zu Ihrer Partitur schreiben Sie: „The concert was cancelled by the organizer out of fear of possible attacks“ (Die Aufführung wurde aus Furcht vor möglichen Angriffen von den Organisatoren abgesagt). Die Anstrengung, das Stück europaweit zur Aufführung zu bringen, ist fehlgeschlagen. Wo ist das Problem?
Maximilian Marcoll: Mir scheint es daran zu liegen, dass hier Neue Musik mit einem gesellschaftlichen Anspruch eben nicht im Konzertsaal bleiben, sondern ganz bewusst und mit einer nicht zu vernachlässigenden Öffentlichkeitswirkung nach außen treten will – nämlich wie in der ursprünglich geplanten Situation am Carillon im Berliner Tiergarten, in der unmittelbaren Nähe von Kanzleramt, Hauptbahnhof und Bundestag. Vielleicht können viele Veranstalter mit der Situation deshalb nicht umgehen, weil sie sich politisch bekennen müssen.
Was mir einleuchtet, ist, dass man dieses Stück nicht aufführen mag, wenn man grundsätzlich nicht mit der Message einverstanden ist. Und zwar gerade, weil es eine so große Öffentlichkeitswirksamkeit hat. Wenn man in einem Konzertsaal sitzt, dann ist die Rollenverteilung ganz klar: Man hat den Komponisten oder die Komponistin, der/die ist für das Stück verantwortlich; dann hat man die Interpreten, die ausführen; das Publikum ist freiwillig hingegangen; es wird mit den üblichen Informationsmitteln dafür gesorgt, dass alle wissen, was passiert – das ist ein gesicherter Rahmen. In dem Moment aber, wo man den verlässt, muss man all diese Dinge neu verhandeln. Was tatsächlich oft kam, war der Hinweis darauf, dass man den Hintergrund bei einer Aufführung ja sehr, sehr gut kommunizieren müsse. Natürlich hätte ich Spaß daran gehabt, das Stück ohne große Erklärungen aufzuführen, aber es war klar, dass man das nicht so einfach tun kann. Man muss darauf vorbereitet sein, dass Menschen, die aus irgendwelchen Gründen aufgeschreckt werden, aufgefangen werden müssen.
nmz: Wie sahen denn die Gründe für die Absagen aus?
Marcoll: Zum Beispiel erreichte mich aus einer Stadt, die eigentlich unbedingt mitmachen wollte, die Nachricht, dass ein dort ansässiger islamischer Kulturverband sich dagegen ausgesprochen hatte, weil man Bedenken habe, dass es so aufgenommen werden könnte, „als wäre der Islam jetzt schon in der Kirche“. Andernorts hieß es, man müsste das wahnsinnig gut kommunizieren, weil man auch viele Touristen hätte, das könne man gar nicht leisten und man würde andere Kirchengemeinden in Mitleidenschaft ziehen, weil diese sich dann auch zu dem Stück verhalten müssten: In dem Moment, wo man das in der Kirche hier mache, verhalte man sich unfair gegenüber anderen Gemeinden, weil man sie in das Projekt mit hineinziehen würde. Aus einem Rathaus zum Beispiel hieß es, man sei der falsche Ort, weil das Carillon ja im Rathaus und nicht in einer Kirche sei. Dabei müsste man genau umgekehrt argumentieren: Dann ist es ja genau der richtige Ort, da es nämlich ein politisches Stück ist. Es geht darum, die Gesellschaft in eurer Stadt hier mit einer symbolisch friedfertigen Botschaft zu versorgen; warum wollt ihr das den Kirchen überlassen? Das ist ja eben gerade kein religiöses Thema.
nmz: Sie haben keine Angst, selbst zur Zielscheibe von „Gegnern“ des Stücks zu werden?
Marcoll: Nein, die habe ich nicht. Die meisten Personen, mit denen ich über dieses Projekt sprach, die keine Carilloneure und keine potenziellen Veranstalter sind, waren der Ansicht, dass dies ein wunderbares Projekt ist. Sobald es aber darum ging, konkret etwas zu tun, schwand vielerorts der Enthusiasmus. Selbst wenn sie sagten, das ist ein schönes Projekt, das finden sie toll, kam am Ende: „Wir können es leider nicht machen, weil …“ Und nein, ich habe keine Angst, in die Luft gejagt zu werden.
nmz: Ich kenne es so, dass Stücke, nachdem sie realisiert wurden, zum Skandal werden, aber nicht davor. Gehört es nicht sogar zum Stück dazu, es scheitern zu lassen?
Marcoll: Ich habe es nicht scheitern lassen. Ich habe viel dafür getan, dass es nicht scheitert. Vor Kurzem sagte mir jemand, dass sich das Konzept durch das Scheitern eigentlich erst eingelöst hätte. Vielleicht ist das so. Wobei das Stück selbst eben gerade nicht scheitert, sondern die Versuche es mit Carillons aufzuführen. Für mich persönlich ist es sehr schade. Aber nicht, weil ich viel daran gearbeitet habe und weil dieses Stück mir als Stück so wichtig ist, sondern weil der Grund, weswegen es geschrieben worden ist, zu dem Grund wird, warum es nicht aufgeführt wird: Nämlich diese blöde, diffuse Angst. Schade ist die Feigheit der meisten potenziellen Aufführungsorte, mit denen ich zu tun hatte. Dass niemand sagt: Wir machen das jetzt! Und zwar, weil es ein wichtiges Symbol ist. Die einen Carillons machen nicht mit, weil sie an einer Kirche sind, die anderen Carillons machen nicht mit, weil sie nicht an einer Kirche sind. Es ist recht absurd. Andererseits sind im Hintergrund viele Dinge geschehen. Bischöfe kommen zusammen, um zu beraten, Stadtverwaltungen und Kulturbeauftragte diskutieren mit Religionsvertretern und Rechtsberatungen. Eine große Kirchengemeinde in Hamburg zum Beispiel nimmt zum allerers-ten Mal Kontakt mit dem islamischen Kulturverein in der Nachbarschaft auf. Da wird plötzlich miteinander geredet. Es bewegt sich ja durchaus etwas und das gehört eben auch zu diesem Projekt.
nmz: Wenn Sie das Stück schon 1995 geschrieben hätten, meinen Sie, die Sache wäre dann anders ausgegangen?
Marcoll: Ich weiß nicht, ob ich das Stück überhaupt geschrieben hätte. Aber nein, ich glaube nicht, dass es ein so großes Problem gewesen wäre. Es hätte sicherlich auch Diskussionen gegeben, aber ich glaube, dass sie viel sachlicher abgelaufen wären und nicht so emotional. Da hätte man sich mehr über das Stück unterhalten und sich vielleicht auch noch etwas besser zugehört.
nmz: Wie kam es eigentlich bei Ihnen zur politischen Beschäftigung mit Musik und wie stellt sie sich bei ihrer kompositorischen Arbeitsweise dar?
Marcoll: Bei mir hat sich das Politische in die Kunst eher eingeschlichen. Es fing ungefähr 2006 an, als ich begann, mich mit Transkription zu beschäftigen. Der entscheidende Punkt war, dass ich das Gefühl hatte, feige zu sein. Ich habe daran gearbeitet, schöne Stücke zu bauen und interessante Materialien zu finden und das alles irgendwie gut zu machen. Es war eine persönliche Einsicht: Ich mochte das nicht so weitermachen, ich musste andocken an das, was da draußen ist. Das ging zunächst über eine ganz einfache musikalisch-materielle Ebene. Ich habe mir gesagt: ich reiße jetzt das Fenster auf und gucke, was da ist. Dann kamen Experimente mit so genanntem Alltagsmaterial und daraus entwickelte sich ein Interesse an Klängen, die mich umgeben. Nicht, weil mein Alltag so spannend oder weil mein Privatleben so glamourös ist, sondern weil es die direkteste und unmittelbarste Erfahrung von dem ist, was schon da ist. Da kamen dann profane Klänge vor, da kam Musik vor, da kamen Dinge vor, die ich mit vielen anderen Menschen teile: „Compound No.1“, der Autokorso mit den Fans der türkischen Nationalmannschaft zum Beispiel, Geräusche von Nachbarn, Renovierungsarbeiten und solche Dinge. Das sind Sachen, die sind nie nur subjektiv, sie sind auch intersubjektiv. Damit ging es los, das war der Sprung über meine kleine Welt hinaus in einen gesellschaftlichen Anspruch. Es ging bei den „Compounds“ [Werkreihe für Instrumente und Elektronik, 2008–2014, basierend auf Transkriptionen von vorgefundenem Material, Anm.d.R] auch darum, eine Musik zu schreiben, die möglichst viele Eingänge hat, wo viele Menschen relativ einfach anknüpfen können. Was klingt da, wo ich bin, was hat das mit mir zu tun und was interessiert mich daran? Diese Fragen bildeten den Kern, aus dem dann eine politische Beschäftigung wurde. Wobei mir klar war: Ja, ich lege ein Archiv von aufgenommenen Klängen an, laufe aber jetzt nicht durch die Gegend und suche nach schönen Klängen. Darum ging es genau nicht. Es ging nicht um den schönen Klang, sondern um die spezifische Situation.
Danach hat es sich allmählich zugespitzt. Für mich ist musikalisches Material an sich – egal wie weit man den Begriff nun fasst – niemals an sich das Interessante. Das Interessante ist für mich ein bestimmter Zugriff auf das Material. Das Material kann dabei ein Instrument sein, es kann ein Klang, eine Struktur, es kann alles Mögliche sein. Eine Kompositionstechnik ist dann natürlich auch Material. Ob man einen C-Dur-Dreiklang auf dem Klavier spielt oder serielle Verfahren benutzt: es ist beides nicht deins, es ist beides geklaut, es ist beides benutzt. Und entweder du hast einen guten Grund, es zu tun, oder nicht. So wurde für mich über die Jahre der Zugriff immer wichtiger. Natürlich habe ich auch Ideen für „harmlose“ Stücke, sozusagen, die man mal schreiben könnte, aber tatsächlich reicht mir das nicht mehr. Natürlich bin ich gleichzeitig auch immer noch Klangfetischist. Aber ein schöner Klang, ein schönes Setup, ein schöner Strukturgenerator ist kein Grund, ein Stück zu schreiben. Ich brauche mehr. Ich brauche einen spezifischen Zugriff, da muss es um etwas gehen. Man kann zum Beispiel nur durch Kombination, wie bei dem Carillon-Stück, eine neue Situation erzeugen. Die entsteht nicht, weil ich mir etwas bahnbrechend Neues ausgedacht habe, sondern weil ich Dinge auf eine bestimmte Art und Weise zusammenbringe.
nmz: Im Gegensatz zu Cage hat der Zufall aber gerade keine Bedeutung, oder?
Marcoll: Cage sagt ja explizit: „Let the sounds be themselves“. Ich arbeite in eine ganz andere Richtung. Mir geht es gerade um die Bedeutung der Klänge. Und da kommt der Begriff der Diesseitigkeit ins Spiel: Der Kontext, aus dem ein Klang kommt, ist nicht nur zufällig mit dabei, sondern ist mit hoher Wahrscheinlichkeit der Grund, weshalb dieser Klang im jeweiligen Stück überhaupt vorkommt. Das ist bei „Adhan“ offensichtlich.
nmz: Wäre es für Sie eine denkbare Alternative, dieses Stück unter Polizeischutz zu realisieren?
Marcoll: Das hieße ja trotzdem nicht, dass ich einen Ort und einen Veranstalter fände. Es wäre aber ohnehin nicht meine Entscheidung. Wenn ein Veranstalter derartig die Hummeln kriegt, dass er das Stück nicht ohne entsprechendes Sicherheitskonzept über die Bühne bringen mag, wenn man der Meinung ist, dass dieses Stück wirklich so brisant, dass eine Friedensbotschaft tatsächlich derartig provokativ ist, dass man mit der Polizei für Sicherheit sorgen muss, dann kann man das machen, aber ich fände es sowohl überzogen als auch sehr traurig.