Soviel Zeit wie mit diesen Aufnahmen haben sich Nicol Matt und seine Mitstreiter bei den Einspielungen der Mozart-Messen und -Chorwerke (siehe nmz 10/02, Seite 20 und 5/03 Seite 18) und des geistlichen Chorwerks von Mendelssohn Bartholdy (siehe nmz 9/03 Seite 18) nicht nehmen können. Auf die Aufnahme des Chorwerks von Johannes Brahms – soweit es nicht mit Orchester begleitet ist – verwendeten sie ein ganzes Jahr intensiven Studiums und gewannen für viele Stücke eine ganz neue Sicht: Aus der Erkenntnis, dass Brahms viele von ihnen wie instrumentale Kammermusik konzipierte und erst danach zu Gesangstücken formte, ergaben sich für etliche dieser Werke neue und ungewohnte Zeitmaße und damit überraschende Effekte.
Das gilt schon für die Stücke der ersten CD aus dem Achterpack: Brahms notiert beim ersten der Liebeslieder-Walzer op. 52 „im Ländlertempo“, aber diese Angabe kann, so meint Nicol Matt, auf keinen Fall für alle achtzehn Stücke der Sammlung gelten; da gibt es langsame Walzer und Wiener Walzer und andere Tanzformen und jede verlangt ein eigenes Zeitmaß – und in solch unterschiedlicher Agogik läßt er die Stücke dann auch singen: Nr. 10 („Oh wie sanft die Quelle“) etwa wiegt sich mild, Nr. 11 („Nein, es ist nicht auszukommen“) bricht gleich vehement los. Wer nur diese CD mit den vielen Konkurrenzaufnahmen vergleicht, hört sofort den Unterschied, wenn so überlegt dem „angemessenen“ Zeitmaß nachgefühlt wird – es entsteht ein neuer facettenreicher „Walzer“-Kosmos.
Matts Überzeugung, dass Brahms’ musikalische Einfälle vor allem mit Instrumentalmusik zu tun haben, lässt sich auch auf die vier Motetten der zweiten CD zunächst als vom Komponisten mehrstimmig empfundene Klaviermusik begreifen und deshalb die Stimmen unterschiedlich besetzen. Mit den 26 deutschen Volksliedern der vierten CD betraute Nicol Matt seinen „zweiten Chor“ aus Neuendettelsau in Mittelfranken, den Amadeus-Chor, in dem auch viele ehemaligen Windsbacher Sängerknaben eine neue Sängerheimat fanden. Die großartige sängerische Leistung dieses mit 45 Mitgliedern – gegenüber den 24 Chamber-Choir-Mitgliedern – stärker besetzten Chors zeigt sich in der Akkuratesse und Homogenität, mit der die oft ganz schlichten Lieder – „Wach auf, meins Herzens Schöne“ wurde zum heute noch gern gesungenen Schlager – herzergreifend und fern aller Schwülstigkeit dargeboten werden.
Die fünfte CD beginnt mit gepfeffertem Puszta-Schwung der Zigeunerlieder op. 103 und 112 a, aber auch hier wird sorgfältig auf dynamisch und agogisch abgestufte Stimmungen geachtet – so entsteht etwa ein Wechselbad der Gefühle bei den drei aufeinanderfolgenden Liedern Nr. 8 („Horch, der Wind klagt“), Nr. 9 („Weit und breit schaut niemand mich an“) und Nr. 10 („Mond verhüllt sein Angesicht“). Besonders ergreifend dann die sieben Volkslieder für Vorsänger, Chor und Klavier op. 33, eine Ersteinspielung: die Schlichtheit der einfachen Melodien kontrastiert höchst kunstvoll mit den wiederum nur solistisch besetzten Chorstimmen, das Klavier legt mit sparsamen Mitteln einen filigranen Klangteppich darunter. Drei Seltenheiten ergänzen diese CD: das Tafellied op. 93 b nach einem Eichendorff-Text „Dank der Damen“ als strophigen Wechselgesang zwischen Frauen- und Männerchor und einer letzten Strophe der vereinten Stimmen, die „Kleine Hochzeitskantate“ als Gelegenheitsarbeit für eine Freundeshochzeit mit einem kapriziös lustigen Text von Gottfried Keller und das nicht ganz als Brahms-Werk gesicherte, aber als reine Chorkomposition ergreifend attraktive „Dem dunklen Schoß der heilgen Erde“.
Mit den geistlichen Gesängen auf den letzten drei CDs – sie wurden nicht wie alles andere im Kloster Bronnbach im Taubertal aufgenommen, sondern in der Schloßkirche in Bad Dürkheim/Pfalz – beteiligte sich Brahms an der protestantischen Kirchenmusik seiner Zeit, oft auch in Wiederbelebung alter sakraler Chormusik. Die vier Motettengruppen der sechsten CD stammen aus verschiedenen Schaffensepochen: In op. 29 (a cappella) wird mit überkommenen Kanon- und Fugentechniken gearbeitet; op. 74 (orgelbegleitet) enthält mit „Warum ist das Licht gegeben“ und den herzbewegend wiederholten „Warum“-Rufen eine der bekanntesten geistlichen Werke Brahms, „O Heiland reiß die Himmel auf“ ist eines der ergreifendsten Stücke dieser Art, das in alter Kontrapunkttechnik wie eine Orgelpartita strophische Variationen imitiert; in den drei Stücken des op. 110 wechseln vier- und achtstimmige Chorsätze wirkungsvoll miteinander ab. In schlichter Polyphonie vertonte Brahms eine teilweise orgelbegleitete kanonische Messe; erhalten blieben die lateinischen Texte von Kyrie, Sanctus, Benedictus und Agnus Dei; wegen der in ungewöhnlicher Spannweite von sehr tief bis recht hoch eingesetzten Altstimmen sind diese Stücke ungemein schwierig zu singen - wohl noch erste Versuche des jungen und wenig chorerfahrenen Komponisten.
Johannes Brahms: alle A-capella-Chorwerke; Gabriele Hierdeis (Sopran), Eibe Möhlmann (Alt), Daniel Sans (Tenor), Ken Gould (Baß), Friederike Haug, Jürgen Kruse (Klavier) unter anderem, Amadeus-Chor, Chamber Choir of Europe, Ltg. Nicol Matt (2003)
Brillant Classics 92179 (7 Std. 38 Min.)