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Enjott Schneider erklärt Tenor Peter Lodahl seine Partie als Marco Polo. Foto: Opera House Guangzhou
Enjott Schneider erklärt Tenor Peter Lodahl seine Partie als Marco Polo. Foto: Opera House Guangzhou
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Kompositionsauftrag aus höchsten Regierungskreisen

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Ein Gespräch mit dem Komponisten Enjott Schneider über dessen Oper „Marco Polo“ und das chinesische Musikleben
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Mitte Mai vor einem Jahr lud der chinesische Staatschef Xi Jinping Vertreter von mehr als hundert Ländern nach Peking. Aus Berlin kam die damalige deutsche Wirtschaftsministerin Brigitte Zypries. Die Kommunistische Partei feierte damit den Entwicklungsplan „Neue Seidenstraße“, eine von Xi Jinping ausgerufene Initiative, welche die Staaten entlang Chinas alter Handelsrouten zu Lande und zur See enger an das Reich der Mitte binden soll. Kulturell fand dieser Entwicklungsplan „Neue Seidenstraße“ unter anderem in einem Auftrag an den deutschen Komponisten Enjott Schneider Ausdruck. Ziemlich genau ein Jahr nach dem Seidenstraßen-Gipfel fand in Guangzhou und anschließend in Peking die Uraufführung seiner Oper „Marco Polo“ statt. Schneider vertonte ein chinesisches Libretto des Stoffs und stellte dem abendländisch-klassischen Orchester ein chinesisches Ensemble zur Seite. Andreas Kolb stellte ihm einige Fragen zum neuen Reich der Musik.

neue musikzeitung: Enjott Schneider, um was geht es Ihnen bei Ihrer neuen Oper „Marco Polo“?

Enjott Schneider: Oh je! Eine dreistündige Oper mal kurz auf den Punkt zu bringen ist nicht einfach. Zumal ich das Original in chinesischer Sprache vertonte und auch alles in Mandarin gesungen wurde. Das Werk war ein Kompositionsauftrag aus höchsten Regierungskreisen und sollte mit der populären Wucht von Opernvorbildern wie „Tosca“, „Aida“ oder „Turandot“ die integrative Figur des Marco Polo – sozusagen das europäische „Gesicht“ der Silk Road – in China erlebbar machen. Dazu hat man eine spektakulär opulente Produktion avisiert und mit dem dänischen Regisseur Kasper Holten (damals noch Chef der Royal Opera Covent Garden, London) eine stupende kreative Intelligenz eingekauft. Kostüme, Choreographie, Licht und Set Design/Video kamen alle aus dem Londoner Dunstkreis, – etwa Luke Halls (Set Design), der auch für die einzigartige Abschluss-Zeremonie der Olympiade 2012 in London mit verantwortlich zeichnete. Marco Polos Reisebericht „Il Millione“ hat das europäische Chinabild entscheidend geprägt. Bei allen Unklarheiten en detail war die Rezeptionsgeschichte ein Faktum: Es war (mit der Quellenlage von 150 Abschriften) seit dem 12. Jahrhundert das – neben der Bibel – am weitesten verbreitete Buch des Mittelalters.

nmz: Wie ist dieser großflächige Stoff denn umgesetzt worden?

Schneider: Es ist ein episches Musikdrama über den monumentalen Konflikt, wie die Mongolen um Kublai Khan die Song-Dynastie blutig beendeten, China eroberten und die Yuan Dynastie etablierten – das war die politische Situation, in welche Marco Polo hineingeriet. Zwangsläufig gibt es große Tableaus am mongolischen Hof und in Chinas Zentren, militärische Situationen, Hinrichtungen, traditionelle Feste, Verschwörungen, die ganze Palette. Kasper Holten und ich mussten das (wagnerianisch auf 20 Stunden angelegte) Libretto kürzen. Der dramaturgische Trick dabei war, dass wir analog zu „Aida“ mit ihrem Liebespaar Aida/Radamès vor dem Hintergrund des Krieges von Ägypten und Äthiopien ebenfalls ein Paar einführten: Marco Polo (Freund der mongolischen Seite) und Chuan Yun, eine Spionin der Chinesen. Mit dieser tristanesken Beziehung konnten wir alles historisch-politische erzählen – selbst die Seeschlacht von Yamen von 1279. Diese größte Seeschlacht aller Zeiten, wo das Blut von vielen Hunderttausenden die See rot färbte, ist ein Herzstück der Oper. Am Ende „überleben“ eigentlich nur Marco Polo und sein Buch, dessen literarisch fortlebende Protagonisten mit ihm zusammen ein sehnsuchtsvoll leises „Dongfang“ ... „Osten“ als Resümee repetieren.

nmz: Alle reden vom Technologietransfer. Könnte man diese Prozesse mit den altmodischen Worten „Kulturaustausch“ überhaupt noch erfassen?

Schneider: Mir fällt es in einer total ökonomisierten Welt des Profit-Terrors generell schwer, den hier schwer missbrauchten Begriff „Kultur“ noch in den Mund zu nehmen! Schaue ich einmal nach Mittelamerika, wo derzeit vor unseren Augen die Mayas und indigenen Völker in Massen ausge­rottet (gefoltert, verschleppt, getötet) werden und mit Abholzung des Regenwaldes sowie Verwüstung des dann ausgetrockneten Landes durch gigantische Goldminen die Erde geschunden wird ... dann wird einem die brutale multinationale Dominanz des Geldes und die Hilflosigkeit eines Glaubens an „Kultur“ schockierend bewusst. Wie könnte ich hier noch eine „Völkerfreundschaft“ im Osten erwarten, wenn wir im Westen so zynisch Zusammenhänge ignorieren? Über Monsanto –  jetzt Teil des deutschen Bayer-Konzerns – , die den Mayas den „heiligen reinen Mais“ rauben und Genmais aufzwängen, sind wir Teil dieser Vernichtung von Völkern ... Im Vergleich zu diesem Genozid mit brutalen Baggern und Hochtechnologie läuft die „Augenhöhe“ mit China noch erstaunlich zivilisiert und nicht zu 200 Prozent von Kapital dominiert ab.

nmz: Sie wären sicher zurecht empört, wenn man Ihre Oper „Marco Polo“ als Staatskunst oder Repräsentationskultur bezeichnen würde. Existiert ein Begriff von der Freiheit der Kunst wie wir ihn kennen?

Schneider: Da muss ich nochmals aus derselben Ecke kontern. Kann denn die in Europa und Amerika mit dem Deckmäntelchen „Freiheit“ und „Demokratie“ propagierte Kunst überhaupt noch frei sein, wenn alles dem Kapital und den Scheuklappen der sturen Ökonomie untergeordnet ist? „Freiheit der Kunst“ ist im westlichen Kapitalismus Augenwischerei geworden, denn auch zum Beispiel das TV-Programm ist längst Profit- und Quoten-Entertainment geworden, der Abbau musischen Unterrichts hin zum totalen Analphabetismus in Sachen Kunst ist System geworden, das Ideal unserer Politik ist der überwachte und mit zig Programmen normierte stromlinienförmige Bürger.

Wo ist in dieser künstlichen Matrix noch ein Rest von „Freiheit“? – In China , so mein Eindruck, kann ich freier arbeiten, weil hier noch gigantisch in Konzertsäle, Opernhäuser, Orchester, Musikausbildung und „Kultur“ investiert wird.

nmz: Klassische Musik besitzt in China eine ganz andere Popularität als in ihrer Herkunftsregion Europa. Das Publikum sei jung und offen, die gro­ßen Säle voll, berichten Künstler wie der Bratscher Nils Mönkemeyer nach ihren Fernosttourneen. Können Sie diese Wahrnehmung bestätigen?

Schneider: Ja. Die Wertschätzung von klassischer Musik, hinter der in der Regel ein entsagungsvolles „Leis­tungsleben“ mit Üben seit Kindesbeinen und langdauerndes (nie endendes) Studieren steht, ist ungeheuer: Die Konzertsäle, die momentan wie Pilze aus dem Boden wuchern, sind immer voll, das Publikum sehr offen gerade für Neues und im Unterschied zu der ‚Seniorentendenz‘ im deutschen Konzertleben extrem jung: in der Hauptsache mutmaßt man 16–40 Jahre.

nmz: Welche Erfahrungen haben Sie im chinesischen Musikbetrieb gemacht?

Schneider: Beeindruckend ist der Respekt, den man der Musik entgegenbringt: auf der handwerklichen Seite dem Können und der Leistung als Eigenwert; auf der künstlerischen Seite der Konzentriertheit und der Spiritualität als dem inneren Wert von Musik. So wie in TCM – der Traditionellen Chinesischen Medizin –  die geistige Dimension über dem Körperlichen und der sichtbaren Außenfläche steht, so sucht man auch in der Musik eine unsichtbare Innerlichkeit ohne distanzierende Intellektualität.

nmz: Was können wir von China lernen?

Schneider: Hierzulande stehen im Vordergrund das Ego und ein aggressiver Hyperindividualismus, dem längst die Dimension des Altruismus und der Solidarität abhanden gekommen ist. „Demut“ wäre ein altmodisches Wort für das, was ich in China lernen konnte: auch stupende Könner stehen eher bescheiden im Hintergrund. Nicht Starkult oder Bemessen der ‚Wertigkeit‘ an ökonomischen Prinzipien und Honoraren stehen im Vordergrund, sondern die Bereitschaft, mit jeder Lebensfaser und hoher Eigenverantwortung einer Sache oder künstlerischen Idee „an sich“ zu dienen. Proben bis zum Umfallen oder Zuverlässigkeit sind Aspekte einer hohen Professionalität, in der „Fehler machen“ nahezu ein Gesichtsverlust ist. – Was mich ganz persönlich beeindruckt hat, ist der hohe Wert der Tradition auch im Sinne eines „historischen Bewusstseins“. Schon als Professor an der Münchner Musikhochschule ist mir aufgefallen, wie beliebt gerade bei chinesischen Studierenden das Fach Musikgeschichte ist und wie sehr das Unterfüttern von Interpretation mit his­torischem Background (Mozartbriefe lesen, Brahmsbriefe lesen...) gepflegt wird. Jeder Chinese weiß zum Beispiel aus welcher historischen Dynastie sein Familienname stammt, - etwa die Shangs von 1700–1100 v.Chr., die Zhous 1100–256 v.Chr., die Wei-Dynastie 220–265, die Wu-Dynastie 222–280, die Yan-Dynastie 337–370, Tang-Dynastie 923–936 und so weiter. Bei dem Nationalfeiertag „Ahnentag“ treffen sich dann alle Shangs, Weis, Wus, Tangs ... und man erinnert so jährlich diese komplexe historische Matrix ... wo alle Kunststile, Musikinstrumente oder Keramikgegenstände als Allgemeinwissen genau verortet werden können. Faszinierend!

nmz: Was lernt China von uns?

Schneider: China lernt von uns viel Fachwissen, das bei uns eher parzelliert ist und dort sehr holistisch zusammengeführt wird. Und man übernimmt Erfolgsstrukturen, wie etwa aus Deutschland „Jugend musiziert“ und aus Ungarn (seit 2012) die Kodaly-Methode zum Blattsingen ... Millionen Kinder können das dort!

nmz: Sie sind neben Ihrer Kompositionstätigkeit für Oper, Konzert, Kirche und Film zudem Präsident des Deutschen Komponistenverbands und seit 2003 Aufsichtsrat der GEMA. Warum geht der Respekt vor der klassischen Musik nicht auch einher mit Respekt für den Urheber?

Schneider: Kaum in Kürze jetzt darstellbar! Ich empfehle ein deutsch geschriebenes Büchlein „Shanzhai“ von Byung-Chul Han: Der Deutsche denkt im festgeschriebenen „Original“, philosophiert über das „Sein oder Ding an sich“. Der Chinese empfindet taoistisch: Alles hat einen bestimmten „Weg – das Tao“, ist aber ständig wandel- und erneuerbar, niemals festgefahren. Die Kopie ist so wichtig wie das Original. Wird dieses kopiert, so ist das kein Raub, sondern Verehrung als eine respektable Traditionslinie ...

nmz: Die Marco Polos von heute sind Dozenten, Interpreten und Komponisten. Bringen uns die Chinesen eines Tages die Klassik wieder zurück (ähnlich wie die irischen Mönche das Chris­tentum erneut in Mitteleuropa etablierten)?

Schneider: Unterschreibe ich sofort! Ich glaube, dass dort sogar Traditionen der Klassikpflege archiviert werden, die man bei unserem zu Pop und Entertainment tendierenden Musikmarkt zunehmend über Bord wirft.

nmz: Sie haben gesagt, Ihre Arbeit an der Marco-Polo-Oper sei „nicht mit Geld aufzuwiegen“ – dennoch haben Sie mit Leidenschaft mehrere Wochen 24/7 dafür geschuftet. Was fasziniert Sie als Künstler an diesem Projekt? Und was an der chinesischen Musik- und Kulturwelt?

Schneider: Zum einen hatte ich traumhafte Produktionsbedingungen, weil in Kultur absolut generös investiert wird. Zum anderen konnte ich im Kontext und vielwöchigen Zusammenleben mit über 200 Mitschaffenden den chinesischen „Spirit“ einatmen wie noch nie zuvor. Faszinierend dieser Fleiß und die Intelligenz, die direkt mit dem Spracherwerb zusammenhängt: Kinder lernen schon im Kindergarten 5.000 Schriftzeichen ... und dann in der Schule nochmals 50.000 komplexe Ikons ... Die Synapsen sind da blitzblank geschult ... eine unschlagbare Intelligenz – auch beim kleinsten Job – der eine so immense wie kreative Herausforderung darstellt.

nmz: Eben erschien jetzt eine weitere Folge Ihres symphonischen Oeuvres auf CD unter dem Titel „Magic of Irreality“. Das Siberian State Symphony Orchestra unter Vladimir Lande spielt zwei Werke, die auch stark von der Begegnung Ost und West geprägt sind: Das Doppelkonzert „Isolde & Tristan“ für chinesische Erhu und Violoncello sowie „Dreamdancers“ für Piccolotrompete, Flügelhorn und Orchester. Was dürfen wir hier noch erwarten?

Schneider: Für China ist ein Orches­terwerk Hongkong Februar 2019, ein Viola-Konzert und wahrscheinlich eine chinesisch-sprachige Oper über„Porzellan“ programmiert. Eben schreibe ich aber für das Trans-Siberian Art Festival 2019 von Vadim Repin ein Doppelkonzert „Leporello & Giovanni“ (u.a. mit der riesenhaften Kontrabass-Balalaika & Orchester) und für das Festival Europe–Siberia–Asia ein Solokonzert „Spirits of Siberia“ für Reinhold Friedrich: Ich werde demnächst fünfmal im fernen Krasnoyarsk sein: Sibirien mit der unendlichen Natur und ihrer Spiritualität ist gerade mein neues Sehnsuchtsland geworden. Ich bin gerne radikal Fremder – das erweitert die Sinne. Insofern kann ich jedem angehenden Komponisten nur empfehlen, den Euro-Zentrismus von Darmstadt und Donaueschingen hinter sich zu lassen und fremde Geis­tigkeit aufzuspüren. 

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