Versucht man, sich den kompositorischen Werdegang von Sarah Nemtsov anhand ihres Werkverzeichnisses, also gleichsam aus der Vogelperspektive, zu vergegenwärtigen, sieht man sich einem imposanten Katalog gegenüber. Weit über 100 Kompositionen stehen der 34-jährigen Berliner Komponistin zu Buche, frühe Werke vor Nemtsovs Kompositionsstudien bei Johannes Schöllhorn (ab 2000) und Walter Zimmermann (ab 2005) gar nicht mitgerechnet.
Sie decken alle erdenklichen Besetzungsformen ab: Solo- und Or-chesterkomposition, Klavierstück und Elektronik, reines Instrumentalstück, (halb-)szenische Musik mit oder ohne Vokalbeteiligung, „große Oper“, vielfältige Ensembleformate, darunter so entzückende Kombinationen wie Gamben mit mp3-Playern, Sopran und Ukulele oder Präparierte Harfe, Klavier, Schlagzeug und Brummkreisel. Der Schaffensrausch hatte seinen Preis. Um sich ganz aufs Komponieren konzentrieren zu können, hing die ausgebildete Oboistin eine hoffnungsvolle Solistenkarriere an den Nagel. Eine künstlerische Doppelexistenz wie sie beispielsweise Jörg Widmann prominent gemacht hat, wäre für sie auf Dauer nicht praktikabel gewesen. In „Wolves“ (2012) hat Nemtsov diesen Zwiespalt auch kompositorisch verarbeitet: das Klavier ist durchweg mit Rohrbau-Utensilien präpariert und der Oboist schneidet mitten im Stück das Rohr so kurz, dass kein Ton mehr möglich ist. Solistische Generalpause.
Bei aller Vielfalt der kompositorischen Formate und stilistischen Wendungen gibt es einige rote Fäden, die Nemtsovs nach vielen Seiten hin offene, aber keineswegs beliebige Ästhetik zusammenhalten. Ein ganz wesentlicher Aspekt findet sich gleich im Titel eines sehr frühen Klavierstücks angedeutet, das die Komponistin mit 14 Jahren schrieb: „Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“, angelehnt an die gleichnamige Veröffentlichung von Peter Handke. Die verworrenen, widersprüchlichen und letztlich untrennbaren Beziehungen von Innen und Außen, Individuum und Kollektiv oder einfach Mensch und Lebenswirklichkeit tangieren Sarah Nemtsov existentiell und spiegeln sich in immer neuen kompositorischen Perspektiven. Es liegt auf der Hand, dass dabei Probleme der Sprach- und Strukturfindung tief ins Wesen der Stücke getragen werden, zunächst in ausgeprägt fragmentarischen Formen. Bei den Instrumentalstücken kann man dies oft schon an Titeln wie „deconstructions“ (2003), „…beredtes Schweigen“ (2005) „communication – lost – found“ (2006) oder „Ver-Suche“ (2006) ablesen, in Stücken mit Vokalbeteiligung geschieht dies in Auseinandersetzung mit Literatur, die ihrerseits um die potentielle Vergeblichkeit des Sprechens kreist. Paul Celan, Edmond Jabès und immer wieder Emily Dickinson lauten die wichtigsten dichterischen Bezugspunkte. Nemtsovs Faszination für hermetische Sprachwelten am Rande semantischer Eindeutigkeit fand ihren ersten Kulminationspunkt in der Oper „L’Absence“ (2006/09) nach Texten von Jabès, die 2012 bei der Münchener Biennale uraufgeführt wurde.
Ging es schon in der Kammeroper „Herzland“ (2005) am Beispiel der Beziehung von Paul Celan und Gisèle Lestrange um das Nicht-zueinander-finden-können zweier Menschen, verdichtete „L’Absence“ die Themen von Einsamkeit, Nicht-verstehen, Verlust und Trauer in einem vielschichtigen Musiktheater, wo Erinnerung und Gegenwart, Traum und Wirklichkeit in nichtlinearer Gleichzeitigkeit des Erzählens zerflossen und die weibliche Protagonistin als Sängerin und Tänzerin in Melancholie (Erinnerung) und Wahnsinn (Gegenwart) gespalten war. In „L’Absence“ offenbart sich aber noch etwas anderes, was in Nemtsovs Arbeit immer wieder an die Oberfläche gelangt: die Affinität zur jüdischen Kultur. So begegnen in der Oper wie schon in einigen früheren Instrumentalstücken deutliche Einflüsse traditioneller jüdischer Musik. Aktuell konzipiert Nemtsov unter dem Titel „Chanukka“ mit jungen Komponisten ein Konzertprojekt, das alte liturgische und zeitgenössische Musik an vergessenen Stätten jüdischer Kultur in Thüringen zusammenbringen soll. Doch genauso wenig wie „L’Absence“ eine Oper über die Shoa ist, will Nemtsov ihr Interesse für das Judentum ästhetisch überbewertet wissen. Es ist eine Facette im vielgestaltigen Werkganzen, das sich Kategorisierungen schon deshalb verweigert, weil Nemtsov bewusst immer wieder neue Grenzen und Möglichkeitsfelder aufsucht, damit das einmal Gesagte nicht zum Klischee gerinnt.
Waren Nemtsovs Kompositionen bis Ende der Nuller-Jahre häufig nach innen lauschende Stücke im traditionellen Instrumentarium, sind in den letzten Jahren ausgefeilt chaotische Strukturen und Klangverläufe zu beobachten. Eine ästhetische Wende, die aber keineswegs über Nacht kam. Zentrale Schaltstellen dieser jüngsten kompositorischen Entwicklung waren der „Briefe“-Zyklus (2012) und die „Zimmer“-Serie (2013), deren Stücke sowohl einzeln wie simultan übereinandergeschichtet aufführbar sind. Nemtsovs gegenwärtiges Interesse an komplexen Schichtungen manifestiert sich jedoch nicht allein strukturell, sondern in der experimentellen Eroberung erweiterter klangfarblicher Mittel und der verstärkten Einbeziehung von Elektronik. Eines ihrer momentanen Lieblings-„Instrumente“ ist das Kaoss Pad, eine Art analoges Multi-Effektgerät, das aus der DJ-Szene stammt und ein unerschöpfliches Arsenal spontaner Echtzeit-Manipulationen ermöglicht.
Einen vorläufigen Höhepunkt von Nemtsovs „neuer Komplexität“ markiert „white wide eyes“ für vier Ensembles, Elektronik und Video, das beim Berliner Ultraschall-Festival im Januar eine der spektakulärsten Uraufführungen darstellte (siehe auch Titelfoto und Bericht nmz 2/2015). Nemtsov ließ dort mit gnadenloser Laustärke einen wahren Klang-Tsunami auf den Zuhörer los und vier autarke Klangkörper aufeinander reagieren, miteinander kollidieren, ineinander verschmelzen. Man hätte das Stück auch „Distortion“ nennen können: Alles war verstärkt, verzerrt und verfremdet in dieser Musik, deren logistisches Zentrum ein Keyboard bildete, das Material aus Cages „Sonatas and Interludes“, Stücke von Nemtsov Lieblingsband „Animal Collective“, Synthesizersounds und diverse andere Samples durcheinanderwirbelte. Die Keyboard-Tasten waren aber nicht nur mit Klängen, sondern auch mit Fotos verknüpft, die von den Ensemblemitgliedern frei ausgewählt werden konnten. Sie flankierten die akustische Attacke mit einem stroboskophaften Bild-Gewitter, in dem vor allem die Ölgemälde von Elisabeth Naomi Reuter mitten im Überangebot des Sinnlichen Vereinzelung und Sprachlosigkeit thematisierten. Als „Reaktion auf unsere Wirklichkeit (dieses komplexe Gefüge, innen und außen) – außerdem als Chiffre für Urbanität“ (Nemtsov) verkörperte „white wide eyes“ in der Entfesselung kollektiver Musik-Energie elementare Kraft und bedrohliche Härte in einem.
„Entprofessionalisierung“ klanglicher Oberflächen
Nichts ist Sarah Nemtsov so unwichtig wie ein glatter, perfektionistischer Klang. Zur absichtlichen „Entprofessionalisierung“ klanglicher Oberflächen werden nicht nur alle erdenklichen Mittel der Klangmanipulation eingesetzt: Die Musiker müssen gelegentlich auch Instrumente spielen, die ihnen eigentlich fremd sind. In „Hoqueti“ (2011), das sich mit der Vokalpolyphonie Guillaume de Machauts auseinandersetzt, haben die sechs Sänger auch Schlaginstrumente und Kontrabässe (!) zu bedienen. [im nmzMedia Video zu den Donaueschinger Musiktagen 2011 ab 1.'02''] Der Zustand latenter Überforderung ist gewollt und soll ganz eigene Spannungen im Modus Interpretation mit sich bringen. Es ist aber keinesfalls so, dass Nemtsov das Klangresultat praktisch egal ist. Die Dosis des „Schrägen“ ist genau austariert und in der Dramaturgie eines Stückes selten dem Zufall überlassen. Die aus solchen Praktiken resultierende „Verschmutzung“ des akademischen Klanges geht einher mit einem ganzen Arsenal von instrumentalem und elektronischem Low Tec (Diktiergeräte, Casio-Synthesizer, Melodica, Musikspieldosen etc.). Auch der damit verbundene szenische Aspekt ist wichtig. Der Zeitschrift Seiltanz verriet sie: „Was mich da interessiert, ist unter anderem der Aspekt der Skurrilität: Das Skurrile oder Absurde ist Teil unserer Wirklichkeit, es hat für mich eine komische Wahrheit. Vielleicht gibt es auch daher viele szenische Elemente in meinen Stücken, an der Grenze zum Musiktheater. Aber ursprünglich denke ich immer von den Klängen aus und dass von dort aus alles seine Notwendigkeit haben muss.“ Diese Doppelung von spezifischem Klangereignis und theatraler Situation war auch für Nemtsovs zweite Uraufführung beim Berliner Ultraschall wesentlich: In „Orpheus falling“ für acht Musiker und Sänger, das in einer Arie Purcells seinen Ausgang nimmt, müssen alle Beteiligten während des Spiels Gegenstände auf den Boden fallen lassen, deren Klangspuren zum integralen Bestandteil des Stückes werden.
Auch Nemtsovs neuestes Stück, das im Mai im Rahmen ihrer Funktion als Composer in Residence in Erfurt Premiere haben wird, wird die Grenzen konventioneller Aufführungsmodi wieder ein Stück verrücken und dabei elementare Aspekte musikalischer Aufführung thematisieren. Im Orchesterstück „Scattered Ways“ wird die Dirigentin zur Mit- und zugleich Gegenspielerin ihres eigenen Orchesters und muss am Pult ein Toy Piano, einen Mini-Synthesizer und einen mp3-Player bedienen. Auf dem mp3-Player befinden sich verfremdete O-Töne von Carlos Kleiber aus einer Orchesterprobe aus dem Jahr 1970, die übereinandergelagert und beschleunigt werden, wodurch die einzelnen Äußerungen verunklart werden. Das Keyboard hingegen ist mit synthetischen Instrumentalsounds belegt, die sozusagen das Orchester mit ihrer eigenen Imitation und Automatisierung konfrontieren. Für die Komponistin durchaus ein ironischer Kommentar zur derzeitigen, von Ignoranz und Spar-Wahn benebelten Kulturpolitik, die hilflos am Funktionalen festhält und kein Risiko eingehen will.
„Das Paradoxe ist wichtig“
Sarah Nemtsov möchte das Gegenteil: Komposition als bewusstes Aufsuchen von unwirtlichen Zonen im Augenblick des persönlichen Machens und kollektiven sich Ereignens. Musik als Begegnung, möglicherweise auch Befremdung. Insofern gilt ihr Kommentar zu „white wide eyes“ eigentlich für ihr ganzes Werk: „Das Paradoxe ist wichtig. Verwundbarkeit als Stärke. Sich in die Augen zu schauen – Wagnis und Aufgabe in der virtuellen Realität und geschichteten Gegenwart.“ Der „Schönklang“ spielt dabei keine Rolle mehr. Und trotzdem gilt das, was Nemtsov über den Charakter der Texte von Edmond Jabès gesagt hat, letztlich auch für ihre eigenen Klänge: „Sie sind kryptisch, aber nicht distanziert oder abstrakt, sondern in ihrer Poesie zutiefst menschlich.“