Chorgesang kann tödlich sein. Als sich die Berliner Domkantorei am 9. März zu einer letzten Probe vor dem großen Shutdown traf, genügten eine unwissentlich infizierte Teilnehmerin und zwei Stunden Probe, um den Chorleiter und 80 Prozent der anwesenden Sänger*innen erkranken zu lassen – eine von ihnen musste auf der Intensivstation beatmet werden. Einen Tag später fanden sich in Mount Vernon im Nordwesten der USA sechzig Chorist*innen zum Singen zusammen. 45 von ihnen erkrankten an Covid-19, zwei verstarben.
Das „Aerosol“, also das Gemisch aus Atemluft und Schwebeteilchen, das bei jedem Atemzug ausgestoßen wird, scheint sich beim Singen in geschlossenen Räumen mit besonders heimtückischer Effizienz zu verbreiten: Gemeinschaftliches Singen hat gewissermaßen die umgekehrte Wirkung von Schutzmasken. Bleibt uns Musiker*innen also nur das öffentliche Verstummen und Überwintern im Internet? Wie umgehen mit einer Situation, die gerade das Nahe, Schöne, Zugewandte lebensgefährlich macht?
Jürgen Wiebicke, Redakteur der Sendung „Das philosophische Radio“ auf WDR5, geht die Frage musikalisch an. Um der Coronakrise auf den Grund zu gehen, holt er sich Anfang April keine Medizinethikerin ins Studio und führt auch kein Gespräch über die Verwundbarkeit unserer Gesellschaft, sondern lädt sich einen Jazz-Experten in die Sendung ein. Der Grund für diese überraschende Wahl: Politik und Gesellschaft befänden sich in einem Modus der kollektiven Improvisation – also gelte es, deren Wesen zu ergründen. Dass sich das Improvisieren im Verlauf der Sendung vor allem als eine Kombinatorik von hart Erarbeitetem und lange Geübtem herausschält, mag für praktizierende Jazzer*innen keine große Überraschung sein. Der Anstoß aber, sich für einen Moment auf die innermusikalischen Funktionsweisen der Improvisation zu besinnen, um sie als Vorbild und Erklärung für gesellschaftliches Handeln in Krisenzeiten fruchtbar zu machen, könnte auch für das Kulturleben selbst hilfreich sein. Denn auch, wenn die Kontaktregeln sich in einigen Gesellschaftsbereichen allmählich zu lockern beginnen, werden gerade wir Kulturschaffenden in den kommenden Monaten noch reichlich Gelegenheit haben, unter Beweis zu stellen, ob wir die Kunst der kontextbezogenen Improvisation beherrschen.
Ausblicke in die nähere Zukunft
Um kollektiv improvisieren zu können, bedarf es eines mehr oder minder klaren Referenzrahmens. Was für Dixiland-Jazz oder intuitive Musik gilt, das gilt erst recht, wenn ganze Institutionen und Gesellschaften zum Improvisieren gezwungen sind. Der fiese, kleine Cantus firmus mit dem sperrigen Namen „SARS-CoV-2“, der unser Handeln derzeit grundiert, ist besonders dominant und hartnäckig. Gerade in den Kulturbetrieb wird er noch lange hineintönen.
Gleichzeitig gewinnt der Referenzrahmen unseres Improvisierens von Woche zu Woche an Kontur. So können auch wir die Überlegungen, die wir Anfang April in unserem ersten „Musik auf Abstand“-Essay skizziert hatten (seit 14.4. nachzulesen auf nmz.de) mittlerweile sehr viel präziser formulieren. Dass wir dabei guten Gewissens auch einige vorsichtige Ausblicke in die Zukunft riskieren können, verdankt sich dem besonderen Umstand, dass Alon Wallach, einer der beiden Autoren dieses Textes, nicht nur Musiker und Komponist ist, sondern auch der Sohn des australischen Parasitologen Michael Wallach, der gegenwärtig intensiv zu Covid-19 forscht. Ihre familiär-interdisziplinären Gespräche bilden die wichtigste Quelle für diejenigen Passagen, in denen wir versuchen werden, einige Leitlinien und Perspektiven für die kommende Programmplanung aufzuzeigen. Dennoch bleibt dieser Text ein Essay. Weder wollen wir uns anmaßen, Handlungsempfehlungen auszusprechen, noch können wir dem weiteren Verlauf der Epidemie oder gar den daraus resultierenden politischen Entscheidungen vorgreifen. Was wir uns aber dank unseres fachkundigen Beraters zutrauen: einige Motive und Anstöße ins Spiel zu bringen, die zum Weiterimprovisieren einladen sollen.
Medizinische Grundlagen
Dass „Raum“, „Zeit“ und „Öffentlichkeit“ in den kommenden Monaten zu den entscheidenden Parametern jeglicher Programmplanung und Veranstaltungsdramaturgie werden, hatten wir bereits in unserem ersten Essay angedeutet. Diesen Gedanken wollen wir nun, basierend auf einem Gespräch mit Michael Wallach am 16. April 2020, vertiefen und erläutern.
Entscheidend für das Verbreitungstempo und eine daraus resultierende Überforderung des Gesundheitssystems ist die Ansteckungsrate: Wie viele weitere Menschen steckt ein infizierter Mensch an? Während Politik und Medizin hier gegenwärtig mit einem bundesweiten Durchschnittswert (der Reproduktionszahl R) operieren, unterliegen die tatsächlichen, örtlichen Infektionsraten starken Schwankungen. Großveranstaltungen können deshalb unterschiedlich riskant sein, je nachdem wann und wo sie stattfinden.
Entscheidend für die Schwere des Krankheitsverlaufs ist die individuelle Viruslast. Ob die Infektion zu grippeähnlichen Symptomen, zu Schädigungen der Lunge oder gar zum Tod führen kann, darüber entscheidet neben Alter und Vorerkrankungen auch die Konzentration des Virus im Blut – und damit auch die Frage, welche Virusladung jemand im Kontakt mit einem Infizierten „abbekommen“ hat.
Entscheidend hierfür wiederum ist unter anderem die Viruskonzentration der Luft. Je länger sich Menschen an einem Ort befinden und je mehr dieser Menschen infiziert sind, umso stärker breitet sich das Virus aus und umso höher sind die individuellen Viruslasten und damit auch die Krankheitssymptome. Dass beim gemeinsamen Singen in einem geschlossenen Raum die Viruskonzentration besonders hoch zu sein scheint, zeigen sowohl die beiden eingangs zitierten Beispiele als auch die ersten, explosionsartigen Ansteckungswellen im Rahmen von Karnevalsfeiern oder Gottesdiensten. Aber auch die Schmierinfektion spielt höchstwahrscheinlich eine Rolle. Sie ist bislang weniger gut erforscht; erste Studien zeigen aber, dass sich das SARS-CoV-2-Virus je nach Untergrund bis zu 72 Stunden auf den Oberflächen von Gegenständen halten kann.
An stark frequentierten Orten erhöht sich diese Gefahr.
Unserem wissenschaftlichen Berater Michael Wallach zufolge ist der baldige Neustart „von null auf hundert“ aus den genannten Gründen ein sehr unwahrscheinliches Szenario. Die vollumfänglich wirksame und flächendeckend verfügbare Therapie oder Impfung, die einen solchen Komplett-Exit ermöglichen würde, ist noch lange nicht in Sicht; baldige Fortschritte sind gegenwärtig am ehesten auf der Ebene der Symptomlinderung zu erwarten. Sehr viel wahrscheinlicher ist es deshalb, dass wir einen längeren Prozess der stufenweisen Rückkehr vor uns haben, der sich über viele Monate hinziehen kann. Und so unbequem dieser Gedanke für ein künstlerisches Selbstverständnis, das Qualität primär an Gehalt und ästhetischem Wert festmacht, auch sein mag: „Gute“ Veranstaltungsplanung und Dramaturgie wird sich für die Dauer der Epidemie klar quantifizieren lassen. Eine Progammpolitik, die Menschenleben gefährdet, kann nicht richtig sein. Um sicherzustellen, dass Kulturveranstaltungen keinen aktiven Beitrag zu einer Steigerung von Infektionsrate, Viruslast und Viruskonzentration leisten, müssen sie deshalb mit eindeutigen Zielgrößen operieren, die im Zweiwochenrhythmus flexibel revidiert und der jeweiligen Risikolage angepasst werden können.
Dies macht es erforderlich, über die Tellerränder der verschiedenen Spezialisierungen hinauszudenken und den Kulturbetrieb als systemisches Ganzes zu betrachten. Das schönste Konzert und die umsichtigste Programmplanung werden wertlos, wenn sich an der Publikumsgarderobe oder im Aufzug des Parkhauses unkontrollierte Menschentrauben bilden. Ungewohnt ist dabei, dass auf quantitativer Ebene in exakt umgekehrte Richtung gedacht werden muss, als es im Veranstaltungsbetrieb sonst üblich ist: Auslastungszahlen müssen künstlich gering gehalten, der Wirkungsradius begrenzt werden. Die radikalste Ausprägung dieses reduktiven Denkens haben wir in den strengen Kontaktregeln der letzten Wochen erlebt. Doch es ist damit zu rechnen, dass „Begrenzung“ und „Verlangsamung“ noch bis weit in die nächste Spielzeit hinein den Referenzrahmen für jegliche kulturelle Aktivität bilden werden. Ihn zu ignorieren, kann Menschenleben gefährden. Die Möglichkeiten aber, diesen Rahmen zu bespielen und aktiv mitzugestalten, sind so mannigfaltig wie die Kultur selbst.
In unserem ersten Essay hatten wir an den Kulturbetrieb appelliert, den gesellschaftlichen Stillstand während der Zeit der Kontaktsperre als kulturelle Gestaltungsaufgabe zu verstehen. Dies gilt erst recht für die schrittweise Rückkehr ins normale Leben. Große Teile des institutionalisierten Kulturbetriebs scheinen im Moment der Strategie zu folgen, Notquartier im Internet zu beziehen und auf politische Ansagen zu warten, um dann so bald wie möglich zum business as usual zurückzukehren. Gesellschaftliche Verantwortung als Kulturschaffende zu übernehmen, könnte aber auch das genaue Gegenteil bedeuten: Kultur als eine flexible und achtsam gestaltende Kraft zu verstehen und sich als proaktive Unterstützer*innen des vor uns liegenden Prozesses anzubieten. Dem ungeduldigen Drängen der Wirtschaft nach „klaren Perspektiven“ und „Exit-Strategien“ eine Haltung der konsequenten Behutsamkeit entgegenzusetzen. Die eigenen Ressourcen zu nutzen, um Verlangsamung zu gestalten und den zerbrechlichen Ist-Zustand abzusichern.
Rückkehr in kleinen Schritten
Wie viel bereits unter den Bedingungen der Kontaktsperre möglich war, haben die zahllosen nachbarschaftlichen Netzwerke, musikalischen Laienorganisationen und privaten Einzelakteure bewiesen, die in den letzten Wochen mit mobiler Straßenmusik, Balkonsingen oder Fensterkonzerten gegen die Isolation anmusizierten und für Resonanz auf Distanz sorgten (vgl. https://trimum.de/start/musik-auf-abstand/berichte/). Gemeinsam war all diesen Aktivitäten, dass sie mit großen Abständen, unter freiem Himmel und ohne aktive Publikumsmobilisierung stattfanden, so dass von ihnen keine Infektionsgefahr ausging.
Sehr viel vorsichtiger wird man hingegen bei einer Rückkehr zu geschlossenen Spielstätten und öffentlich angekündigten Veranstaltungen vorgehen müssen. Gemeinsam mit Michael Wallach haben wir einen Fahrplan entworfen, wie ein solcher Prozess aussehen könnte. So sollte, um Infektionsketten verfolgen und eindämmen zu können, die Personenzahl pro Veranstaltung bei etwa zwanzig Besucher*innen beginnen und dann sehr behutsam gesteigert werden. Die Auslastung ließe sich, ausgehend von der normalen Konzertbestuhlung, bis auf ein Maximum von etwa 15 Prozent der Normalkapazität steigern: Um den Mindestabstand von zwei Metern einzuhalten, dürfte in einem Saal nur jede zweite Reihe und dort wiederum nur jeder dritte Platz besetzt werden. Ein philharmonischer Konzertsaal von 2.000 Plätzen böte damit etwa 330 Zuschauer*innen Platz. Die Konzertbesucher sollten Masken tragen, der Ein- und Auslass müsste zeitlich gestreckt, auf Besuchergarderoben vollständig verzichtet werden.
Auch auf der Bühne sollte zunächst von kleinen Besetzungen ausgegangen werden. Um eine Ansteckung der Akteur*innen untereinander zu verhindern, dürften Backstage-Garderoben nur von jeweils einer Person genutzt werden. Bei Gesang und Blasinstrumenten wäre der Abstand der Musizierenden erheblich zu vergrößern. Täglich wechselnde Ensemble-Konstellationen und Konzertreisen sollten vermieden werden.
In unserem ersten Essay hatten wir das Modell eines Stationen-Parcours oder eines fließenden Kommens und Gehens bei langen Öffnungszeiten vorgeschlagen. Diese Idee stellt aus Sicht von Michael Wallach aber keine gute und sichere Lösung dar. Stattdessen sollte sich die Veranstaltungsdauer und -frequenz in einer ersten Testphase auf eine einzige Veranstaltung von etwa 30 bis 45 Minuten Dauer pro Tag beschränken. Auf diese Weise ließen sich die gesundheitlichen Auswirkungen beobachten, eventuelle Infektionsketten nachvollziehen, große Virenkonzentrationen vermeiden und alle genutzten Räumlichkeiten gründlich belüften und desinfizieren.
Eine weitere wichtige Größe ist der Wirkungsradius einer Veranstaltung. Um die Ansteckungsverläufe überblicken zu können und der Ungleichzeitigkeit regionaler Infektionswellen Rechnung zu tragen, sollte größere Publikumsmobilität in der Anfangszeit vermieden werden. Kulturveranstaltungen sollten sich deshalb in den ersten Monaten ausschließlich an das regionale Publikum des jeweiligen Nahbereichs richten. Je genauer sich durch Tests die örtliche Infektionsrate bestimmen lässt, umso zuverlässiger ließe sich auf diese Weise das Risiko eines Veranstaltungsbesuchs einschätzen.
Manche Maßnahme, die aus einer rein medizinischen Sicht vernünftig erscheint, wirft ungewohnte ethische Fragen und Wertekonflikte auf und bedarf deshalb einer gründlichen Abwägung. So schlägt Michael Wallach beispielsweise vor, beim Einlass routinemäßige Temperaturmessungen vorzunehmen und Besucher*innen mit Covid-19-Symptomen keinen Zutritt zu gewähren. Doch selbst wenn eine solche Vorgehensweise den willkommenen ästhetischen Nebeneffekt hätte, dass erstmals in der Geschichte des bürgerlichen Konzertsaals das Problem des hustenden Publikums gelöst wäre – will man eine Selektion nach Symptomen, die ganz unterschiedliche Gründe haben können, wirklich zur Eintritts- und Partizipationsvoraussetzung machen?
Noch problematischer ist die Vorstellung, der Kulturbetrieb würde langsam wieder anlaufen und die Teilhabe daran bliebe aus Gründen des Selbstschutzes ausgerechnet jenem Teil der Gesellschaft verwehrt, der normalerweise das treueste Publikum darstellt, sich nun aber unter dem Label „Risikogruppe“ wiederfindet: der Generation „sechzig plus“, zu der ja als potentielle Überträger*innen noch die unmittelbaren Angehörigen sowie die derzeit besonders beanspruchten Menschen aus „systemrelevanten“ Dienstleistungs-, Pflege- und Gesundheitsberufen hinzukommen. Soll ihnen allen kulturelle Partizipation vorenthalten bleiben? Soll der Besuch einer Großveranstaltung für die Ärztin oder den Krankenpfleger an eine Verpflichtung zur anschließenden Quarantäne geknüpft werden? Oder hat das Hochfahren des Kulturbetriebs gerechterweise so lange zu warten, bis es keine Risikogruppe mehr gibt?
Doch genau an dieser Stelle liegt in einer verlangsamten Rückkehr zum Normalbetrieb auch eine besondere Chance. Sich anfangs auf wenige, kleine Konzerte mit einem geringen Radius zu beschränken, bedeutet ja zugleich auch, dass viele Ressourcen ungenutzt bleiben. Diese brachliegenden Kapazitäten können genutzt werden, um gesamtgesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen und Solidarität zu zeigen. Einige Beispiele mögen illustrieren, was dies bedeuten könnte.
Sich nützlich machen
Die großen Kulturinstitutionen und die freie Kulturszene sind hierzulande auch wichtige Bildungsträger. Museums-, Tanz-, Theater-, und Konzertpädagog*innen arbeiten schulübergreifend und sind häufig gut vernetzt. Vor allem aber verfügen sie über ein methodisches Handwerkszeug, das in der normalen Lehrerausbildung nicht vorkommt und das gerade jetzt zum zentralen Baustein schulischer Exitstrategien gemacht werden sollte. Denn konsequentes Abstandhalten muss und kann eingeübt werden – auch und gerade mit Kindern. Wer je ein größeres kulturpädagogisches Projekt mit Schulklassen angeleitet hat, weiß aus eigener Anschauung, dass sich soziale Interaktion, Achtsamkeit gegenüber Schwächeren und ein Gespür für die Position des eigenen Körpers im Raum hervorragend trainieren lassen. Diese besondere Expertise der Kulturvermittler*innen könnte genutzt werden, um eine gravierende Lücke in den gegenwärtig diskutierten Konzepten für eine Rückkehr zum schulischen Regelbetrieb zu schließen und auf die verzweifelten Warnungen der betroffenen Lehrer*innen zu reagieren. Schule ist nicht nur dort „systemrelevant“, wo es darum geht, Prüflinge auf das Abitur oder die mittlere Reife vorzubereiten. Sie ist auch ein Ort des sozialen Lernens. Kinder entweder in heimischer Quarantäne festzuhalten oder ihre schulische Unterstützung auf das sitzende Büffeln von Prüfungsstoff zu reduzieren, verschenkt die große Chance einer spielerischen und körperorientierten „Didaktik des social distancing“. Viele Kulturschaffende und -vermittler*innen, denen gegenwärtig sämtliche Aufträge weggebrochen sind, wären problemlos in der Lage, kurzfristig entsprechende Übungen zu konzipieren und umzusetzen.
Ein zweites Betätigungsfeld für ungenutzte kulturelle Ressourcen ist der temporäre Umbau des Kulturbetriebs in eine dezentrale Bring-Struktur. Die sicherste Partizipationsmöglichkeit für Angehörige der Risikogruppen wird in den kommenden Monaten darin bestehen, ihnen das Aufsuchen großer Veranstaltungsorte zu ersparen und Kultur stattdessen zu ihnen zu bringen. Die wachsende Zahl an Fenster- und Balkonkonzerten vor Altenheimen ist nur eines von vielen denkbaren Beispielen. Je kleinteiliger und regionaler Kultur organisiert wird, umso weniger Infektionsgefahr geht von ihr aus: Straßenmusik vor dem Supermarkt; Konzerte „auf Abstand“ in Dorfkirchen und Stadtteilzentren; Kammerkonzerte, die man sich zum Geburtstag in den heimischen Vorgarten bestellen kann.
Digitale Werkzeuge können bei der Organisation einer solchen Struktur eine wichtige Rolle spielen – vorausgesetzt, sie werden nicht bloß als Ersatzbühne für das inflationäre Versenden der eigenen Inhalte genutzt. Stattdessen sollten übergreifende Vernetzungsplattformen für die Musiker*innen einer Region geschaffen werden, die sich (ähnlich wie zusätzliche Erntehelferinnen oder Krankenpfleger) zu musikalischen Einsätzen am eigenen Wohnort melden können. Jene Institutionen, die über eine öffentlich-rechtliche Grundfinanzierung und ein professionelles Betriebsbüro verfügen, sollten die Koordination in die Hand nehmen und ihre Ressourcen für die Dauer der Pandemie nicht exklusiv dem eigenen Ensemble oder der eigenen Spielstätte zur Verfügung stellen, sondern dem gesamten Stadtviertel oder der gesamten Region. Sie könnten so ihre Solidarität zur existentiell bedrohten freien Szene unter Beweis stellen, die ja letztlich den Humus für jegliche Kultur bildet.
Transit statt Exit: die Kunst des Übergangs
Diese Beispiele zeigen: Es gibt viele Möglichkeiten, Kultur konstruktiv und unterstützend in die anstehenden Transformationsprozesse einzubringen. Dafür bedarf es zweier grundsätzlicher Voraussetzungen. Zum einen kann und sollte die Kulturszene aktiv Verantwortung übernehmen, indem sie ihren Wirkungsradius klein hält und die eigenen Strukturen regionalisiert. Nicht nur Chorgesang, auch Großveranstaltungen können tödlich sein. Regionale Publikumsbindung hingegen ist in Zeiten der Pandemie förderlich für die kollektive Gesundheit.
Die zweite Voraussetzung lautet „Bereitschaft zur Improvisation“. Es wird wohl noch einige Zeit dauern, bis es wieder möglich und sinnvoll sein wird, kalendarische Spielpläne zu erstellen. Bis dahin braucht es eine „Transit-Strategie“: ein epidemiologisch fundiertes Spiel mit optionalen Bausteinen, die flexibel an die regionalen Infektionsverläufe angepasst werden können. Eine grobe Richtung könnte darin bestehen, diesen Sommer auf Spielzeitpause und Festspieltourismus zu verzichten, stattdessen mit kleinteiligen, phantasievollen Open-Air-Formaten die eigenen heimischen Regionen zu bespielen und erst dann wieder langsam zu Indoor-Veranstaltungen zurückzukehren.
Wir haben uns bewusst darauf beschränkt, für diesen Prozess einen groben Rahmen zu skizzieren, der sich aus den beiden Achsen „gesundheitliche Verantwortung“ und „gesellschaftlicher Bedarf“ zusammensetzt. Damit aus diesem zweidimensionalen Rahmen ein bespielbarer Raum wird, braucht es all die geballte Kreativität, Gestaltungslust und Innovationsfreude, die sich momentan in einem Modus des Abwartens befindet. Die Politik wird uns nicht dazu auffordern, vorausschauende Konzepte für die Kunst des Übergangs zu entwickeln. Aber wir können sie anbieten.
- Der erste Teil dieses Essays über "Spielräume zwischen 1,50 und Hörweite"
- Ein Planungsraster für Kulturveranstalter*innen mit den wichtigsten Leitlinien findet sich unter https://trimum.de/start/musik-auf-abstand/rueckkehr/