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Wolfgang Lessing bei der Hauptarbeitstagung des VdM in Regensburg. Foto: Juan Martin Koch
Wolfgang Lessing bei der Hauptarbeitstagung des VdM in Regensburg. Foto: Juan Martin Koch
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Musikpädagogisches Handeln als Sinnangebot

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Die ALMS feiert 50. Geburtstag: Wolfgang Lessing im Gespräch über Studienbedingungen und Inhalte
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Mit einem Symposium vom 16. bis 17. September an der Freiburger Musikhochschule feiert die Arbeitsgemeinschaft der Leitenden musikpädagogischer Studiengänge (ALMS) in diesem Jahr ihren 50. Geburtstag. Aus diesem Anlass sprach Juan Martin Koch mit ihrem Sprecher Prof. Dr. Wolfgang Lessing.

neue musikzeitung: Die offizielle Gründung der ALMS fand 1972 statt. Aus welcher Motivation heraus, und was hat sich seitdem verändert?

Wolfgang Lessing: Es gab schon in den 1960er Jahren einen losen Zusammenschluss der Studiengangsleiter, aber erst 1972 hat sich die ALMS dann eine Satzung gegeben, und von diesem Zeitpunkt an gab es die regelmäßigen Jahrestreffen. Das Anliegen war damals wie heute, die Rolle der musikpädagogischen Studiengänge – womit alles außer Schulmusik gemeint ist – an den Hochschulen, an den Konservatorien und Akademien zu stärken. Es ging und geht darum, für Studienbedingungen zu werben, die dem Berufsfeld angemessen sind. In der Gründungszeit war es ja noch so, dass es das Seminar für Musiklehrerausbildung gab, das im Gegensatz zur künstlerischen Ausbildung nur sechssemestrig und eine Art Stiefkind war. Seitdem hat sich viel getan. Angefangen mit Ulrich Mahlert in Berlin oder Anselm Ernst in Freiburg wurden immer mehr Studiengänge aufgebaut, die sowohl den wissenschaftlichen Kontext als auch die Fachdidaktik im Blick hatten, Studiengänge also, die gegenüber den rein künstlerischen Studiengängen nicht minderwertig sind, sondern den Begriff des Künstlerischen immer zusammen mit der Vermittlungssituation denken. Heute gibt es erfreulicherweise immer mehr Hochschulen, an denen das Fach künstlerisch und wissenschaftlich vertreten wird.

nmz: Die ALMS erarbeitet regelmäßig Empfehlungen zu verschiedenen Themenfeldern. Wie allgemeingültig können die sein angesichts unterschiedlicher Strukturen an den Hochschulen und wie bringt die ALMS diese in die Diskussion ein?

Lessing: Es ist bei unserer föderalen Ordnung in der Tat nicht leicht, weil die Rahmenbedingungen unterschiedlich sind. Hinzu kommt, dass wir eine Doppelstruktur haben: 2016 wurde der Ausschuss künstlerisch-pädagogische Studiengänge (KPS) innerhalb der Rektorenkonferenz der Musikhochschulen (RKM) gegründet. Im Gegensatz zur ALMS kann dieser direkt Empfehlungen unterbreiten und mit den Rektoraten diskutieren. Wir haben das so gelöst, dass die beiden Gremien sehr nahe nebeneinander arbeiten, auch was die personelle Besetzung betrifft. In der ALMS diskutieren wir stark inhaltlich, der Ausschuss formt das zu Ergebnissen, die dann in die RKM eingebracht werden können.

nmz: Was waren wichtige Diskussionspunkte in den letzten Jahren?

Lessing: Wichtige Themen waren zum Beispiel die Weiterbildung und die Ausgestaltung von Masterstudiengängen. Letztere unterscheiden sich zum Teil sehr stark, abhängig davon, welche Bachelorausbildung an den jeweiligen Hochschulen stattfindet. Da müssen wir zu einer einheitlicheren Auffassung darüber kommen, was einen musikpädagogischen Master eigentlich ausmacht.

nmz: Bei der Hauptarbeitstagung (HAT) des VdM stand vor allem das Thema musikpädagogischer Nachwuchs auf der Agenda. Was läuft da falsch?

Lessing: Der große Mangel, der sich zur Zeit auftut, betrifft vor allem, allerdings nicht nur, die Elementare Musikpädagogik (EMP). Ein grundsätzliches Problem scheint mir zu sein, dass sich die Musikhochschulen häufig als eher international denn regional verstehen, was ja bezogen auf die künstlerische Ausbildung und die Bereiche Wissenschaft und Forschung durchaus eine Logik hat. Da muss eine neue Balance gefunden werden, denke ich, zwischen einem internationalen Anspruch und einer regionalen Verantwortung und auch einem Eingebundensein der Hochschulen in die jeweilige Region.

nmz: Die Hochschulen müssten also größere Kontingente an Studienplätzen für potenzielle Absolvent*innen reservieren, die dann pädagogisch in der Region wirken?

Lessing: Kontingente sind immer schwierig und können nur eine ultima ratio sein; viel sinnvoller wäre es, wenn sich innerhalb der Hochschulen ein gemeinsames Bewusstsein für die Wichtigkeit dieser Flanke ausbilden könnte. In der Lehramtsausbildung ist das nach meiner Einschätzung ja schon seit langem der Fall; gerade die Instrumental- und Gesangspädagogik mit ihrer großen Nähe zu den künstlerischen Studiengängen läuft hingegen immer wieder Gefahr, aus dem Blick zu geraten. Der Fall EMP zeigt natürlich auch, dass es nicht nur um die Zahl angebotener Studienplätze geht; es fehlen oftmals schlicht die Bewerber*innen, das Problem be­ginnt also schon vorher. Als ALMS sind wir zusammen mit dem Bundesverband Musikunterricht (BMU) und dem VdM gegenwärtig dabei, eine Initiative zu starten: Wir müssen Jugendliche schon vor dem Studium auf unsere Berufsfelder aufmerksam machen.

nmz: Eine solche Imagekampagne wäre vielleicht eine Aufgabe für die Föderation musikpädagogischer Verbände, oder?

Lessing: Ja, unbedingt. Wir hatten kürzlich eine Sitzung, bei der es genau darum ging. Das müsste eine konzertierte Aktion aller musikpädagogischen Verbände sein.

nmz: Bei der HAT des Musikschulverbands ging es auch um Studienstrukturen. Gibt es da einen Konsens in der ALMS, wie diese idealerweise aussehen müssten? Ist es das so genannte Leitermodell?

Lessing: Das Problem ist, dass die Hochschulen zum Teil ganz unterschiedliche Grundmodelle haben, aus denen man schwer herauskommt. Im Zuge der Bolognareform haben sich einige Häuser dafür entschieden, eigenständige musikpädagogische Studiengänge aufzubauen; die laufen dann parallel zu den künstlerischen. Das Leitermodell sieht dann vor, dass man jederzeit mit einer Übertrittsprüfung von der einen zur anderen Seite springen kann. Andere Standorte bieten einen Mono-Bachelor an, nach dem Motto: Musikpädagogik geht doch alle an, also muss jeder auch entsprechende Module machen. Dieser letztere Gedanke klingt zwar logisch, führt aber leider oft zu einem musikpädagogischen Minimalprogramm, das kaum den Anforderungen genügt, denen Absolvent*innen in der Berufs­praxis begegnen. Die Grundsatzentscheidungen, die damals getroffen wurden, sind nur schwer rückgängig zu machen, weil die Gesamttektonik der Studiengänge betroffen wäre. Entscheidend aus unserer Sicht ist, dass Studierende in verschiedenen Phasen ihres Studiums die Möglichkeit haben müssen, eine vollgültige musikpädagogische Qualifikation zu erwerben. Zudem sollten die Studiengänge so offen konzipiert sein, dass ganz individuelle Schwerpunktsetzungen möglich sind. Was das im System der jeweiligen Hochschule bedeutet, kann dann sehr unterschiedlich sein. Was ich an einem grundständigen musikpädagogischen Bachelor interessant finde, ist die Tatsache, dass die Hochschule die Möglichkeit hat, durch die Aufnahmeprüfung Menschen gewinnen zu können, die wirklich für diese Aufgabe brennen. Bei anderen Modellen gehen sie einem möglicherweise durch die Lappen.

nmz: Die ALMS feiert ihren Geburtstag mit einem Symposium an der Freiburger Musikhochschule am 16. und 17. September. Das Thema heißt „Artistic Citizenship“ – was ist damit gemeint?

Lessing: Das ist natürlich ein Schlagwort. Es kommt aus den Vereinigten Staaten, bringt aber viele Tendenzen, die in der Musikpädagogik immer wieder diskutiert werden, ganz gut auf den Punkt, nämlich die Frage nach der Verantwortung: Welche Rolle kann Musik, kann Musizieren in Gesellschaften haben, die in extremen krisenhaften Transformationsprozessen stehen? Wie kann man diese Rolle begründen, ohne dass man auf Transfereffekte verweisen muss, ohne sich komplizierte Legitimationsstrategien ausdenken zu müssen? Der Begriff Artistic Citizenship steht für ein Selbstverständnis des Faches, das davon ausgeht, dass Musik etwas kann, was andere Bereiche so nicht können: Musik kann inkludieren, Musik ist ein Medium, das Menschen zusammenführen kann. Ich sage bewusst „kann“, denn Musik kann auch exkludieren. Aber sie hat ein inklusives Potenzial, und die Frage ist: Wie kann ein musikpädagogisches Handeln aussehen, das diese Kraft der Musik wirklich aufgreifen und dieses Potenzial zur Entfaltung bringen kann. Ich formuliere es mal ein wenig pathetisch: Das ist ein echtes Sinnangebot, das wir machen können und an Sinnangeboten ist unsere Gesellschaft nicht so wahnsinnig reich …

nmz: Auf welchen Feldern, in welchen Bereichen könnten solche Angebote gemacht werden und was würde das für das Studium bedeuten?

Lessing: Es beginnt mit der Frage: Wie kann Musikschule ein offener Ort für alle sein? Es gibt schon einige Modelle, die das ausprobieren, zum Beispiel in Köln „EMSA – Eine (Musik)Schule für alle“ oder das Konzept „Musizierlernhaus“ meines Freiburger Kollegen Andreas Doerne oder das Musaik-Projekt in einem Dresdner Stadtteil, bei dem mit Kindern und Jugendlichen aller Herkunftsschichten auf elementare Art Streicherklassenarbeit gemacht wird. Die Fachdidaktik muss stärker von solchen Modellen ausgehen; den Studierenden muss gezeigt werden, dass musikpädagogische Arbeit mehr ist als der Einzelunterricht mit Schüler*innen, die aus Elternhäusern kommen, in denen das schon vorgezeichnet ist.

nmz: Glauben Sie, dass solche Perspektiven ein Anreiz für Studierende sein könnten, oder schreckt dieser Anspruch vielleicht auch ab, nach dem Motto: Jetzt soll ich auch noch die Welt retten?

Lessing: Ersteres hoffe ich! Es geht ja nicht um etwas Programmatisches wie „die Welt retten“, sondern darum, erst einmal zu lernen, was mit Musik alles bewirkt werden kann. Das ist erstmal ein fachimmanenter Anspruch; dass sich aus ihm dann Verantwortlichkeiten ableiten lassen, die gesamtgesellschaftlich von hoher Relevanz sind, ist der nächste Schritt – und hierfür braucht es auf unserer Seite eindeutig noch mehr Bewusstsein und auch Selbstbewusstsein. 

nmz: In dem Vortrag, den Sie zusammen mit Andreas Doerne in Freiburg halten werden, geht es um „Spiel, social composing und Gamification“. Was kann man sich darunter vorstellen?

Lessing: Es geht zentral um den Begriff des Spiels. Der ist ja in der Pädagogik schon lange diskutiert worden, wobei es meist darum geht, das spielerische Lernen als Verpackung des ernsthaften Lernens zu begreifen. Damit ist das Potenzial des Spiels noch gar nicht ausgeschöpft. Spielsituationen sind aus sich heraus unglaublich interessante Lernsituationen, die mit ganz eigenen Motivations- und Intensitätserlebnissen einhergehen. In New York gibt es zum Beispiel die Schule „Quest to Learn“, die eine rein spielebasierte Pädagogik macht. Das Spiel als Grundlage des Lernens aufzufassen, das ist gerade beim Instrumental-„Spiel“ ganz faszinierend. Vielleicht ist das Spiel gerade in seiner Zweckfreiheit und seinen gleichzeitig sehr strengen Regeln, eine Gegenposition zur Alltagswelt, eine Rahmung, die man stärken kann.

nmz: Wie wird das Symposium ablaufen?

Lessing: Das wird eine Präsenzveranstaltung. Wir kombinieren es mit dem hochschulübergreifenden Seminar Musikpädagogik. Schon vom 13. September an werden 30 Studierende von allen Hochschulen in Freiburg sein, die sich mit der Thematik beschäftigen und dann auch einen eigenen Beitrag bei der Tagung vorstellen werden. Außerdem kommen viele Kolleg*innen mit ihren Studierenden. Trotzdem werden wir es gleichzeitig als Hybridveranstaltung machen für jene, die nicht kommen können. Das Ganze verbinden wir natürlich mit einer kleinen Geburtstagsfeier für die ALMS, unter anderem mit einer Podiumsdiskussion über all das, worüber wir gerade gesprochen haben …

 

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