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Singularität im Kontext von Diversität. Foto: Martin Hufner
Singularität im Kontext von Diversität. Foto: Martin Hufner
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Nur die glänzende Vorderseite der Medaille?

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Eine Umfrage zur Bedeutung von Festivals der neuen Musik · Von Rainer Nonnenmann
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Es gibt große und kleine, lange und kurze, alte, junge, gewichtige, leichte, teure, kostengünstige, staatstragende, anarchische… Musikfestivals gibt es in verschiedenen Spielarten nahezu überall und das gesamte Jahr hindurch, in Groß- und Kleinstädten oder auf dem Land. In den vergangenen Jahren wurden es immer mehr, auch im Bereich der neuen Musik. Manche sind Mustermessen für ein Fachpublikum aus Journalisten, Redakteuren, Verlegern, Intendanten, Funktionären. Andere erreichen ein breites, urbanes, heterogenes Publikum. Manche gehen im Überangebot der Metropolen unter, andere sind in ihrer Region Leuchttürme, die Image, Fremdenverkehr, Einzelhandel, Gastronomie befördern. Festivals sind Schaufenster aktueller Interpretationen und Neuproduktionen wahlweise internationaler, regionaler oder lokaler Szenen, die größere Publikums- und Presseresonanz erreichen als Einzelveranstaltungen. Nur hier erzielen Werke, Themen, Diskurse und Akteure größere gesellschaftliche Aufmerksamkeit, wird jemand oder etwas „entdeckt“, besprochen, gesendet, verlegt, weiterempfohlen. Nicht zuletzt dieser „Mehrwert“ macht Feste zu musikalischen Hochzeiten.

Oder ist das schöngeredet? Fordert die grassierende „Festivalitis“ nicht ein Umdenken, zumal angesichts von Corona? Binden Festivals nicht zu viele Ressourcen an Zeit, Geld, Personal, Technik, Werbung, die dann an anderen Stellen fehlen? Profitieren lokale und nationale Szenen nicht eher von festen eigenen Konzertreihen, kleinen Clubs, Studios und Off-Orten? Bilden Festivals nur die glänzende Vorderseite der Medaille, deren trübe Kehrseite darin besteht, dass zahllose über das Jahr auf verschiedene Orte verteilte Einzelkonzerte weniger Förderung, Zulauf und Resonanz in Medien und Bericht­erstattung erfahren? Sind Festivals überhaupt noch die spannenden Foren, an denen sich Aufregendes, Bewegendes, Bedeutendes ereignet, wo neue Strömungen und Impulse aufgegriffen oder gar selbst gesetzt werden? Gibt es hier kritische Selbstbefragungen, Neuerfindungen und Experimente, oder dominiert eher Betriebsamkeit, die sich im routinierten Marathonlauf von immer mehr Konzerten, Uraufführungen, Beiprogrammen, Vorträgen, Filmen, Gesprächsrunden, Ausstellungen totzulaufen beginnt? Haben sich überladene Festivalprogramme angesichts von Corona und auf Dauer überlebt?

Mit den gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Rahmenbedingungen verändert sich auch die Bedeutung, Finanzierung und Struktur von Festivals. Wie offen sind diese heute für alternative Produktions-, Präsentations- und Rezeptionsweisen sowie für neue Talente, auch solche aus anderen Ländern? Oder werden eher dieselben gerade „angesagten“ Ensembles, Komponistinnen und Komponisten von hier nach dort weitergereicht? Wie stark nehmen die Leiterinnen und Leiter Einfluss auf die Musikproduktion, ästhetisch, konzeptionell, materiell? Wie haben sich die Honorare der Musikschaffenden angesichts von immer mehr konkurrierenden Ensembles entwickelt? Wie wirkt sich die stärkere Beteiligung von Finanziers und Stiftungen aus? Sind Festivals für Musik und Gesellschaft „systemrelevant“ und – falls ja – dann auch Teil der Probleme von Musik und Gesellschaft?

Knapp 20 Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Funktionen wurden eingeladen, auf eine beliebige Auswahl der hier angerissenen Themen und Fragen mit kurzen Stellungnahmen (800 Zeichen) aus jeweils eigener Perspektive zu reagieren. Die Summe aller Zuschriften (siehe die Seiten 15 und 16 dieser Ausgabe) bildet eine facettenreiche Momentaufnahme der Möglichkeiten und Schwierigkeiten von Festivals neuer Musik.

Weithin Einigkeit besteht über deren Wichtigkeit, gerade für die Nischensparte neue Musik. Nur mit Hilfe vereinter Kräfte und Kooperationen lassen sich manche aufwändigen Produktionen realisieren, neue Formate entwickeln, Experimente wagen. Der Geschäftsführer des Netzwerks ON – Neue Musik Köln, Daniel Mennicken, verweist jedoch auch auf teils zu enge Vorgaben (Zeit, Ort, Besetzung, Technik, Thema…), die mehr beschränken als Spielräume für Individuelles schaffen. Unterbelichtet ließen die Antworten den Einfluss der Festivalmacherinnen und -macher auf die Programme sowie die Finanzierung von Festivals und die stagnierenden, tendenziell eher sinkenden Honorare für Kompositionsaufträge, Musikerinnen und Musiker. Neben Qualität und Renommee der Ensembles sind auch deren staatliche Unterstützungen, Reise- und Gastspielförderungen entscheidend, da sie Veranstalter weniger kosten, aber häufig auch die Programmierung von Komponistinnen und Komponisten der jeweiligen Förderländer aufdrängen. Mangelnde Finanzierung deutet auch die Composer-Performerin Julia Mihály an, weil bei performativen Arbeiten anfallende Produktionskosten oft über das Kompositionshonorar mitfinanziert werden müssen.

Dem Anspruch der Fachwelt an internationalem Austausch steht die Verankerung von Festivals in der jeweils lokalen Szene und Gesellschaft entgegen. Der Artistic Manager des Freiburger ensemble recherche, Clemens K. Thomas, wünscht sich anstelle des Drop down des vorherrschenden Intendantenprinzips daher „mehr Bottom-up-Festival-making”. Unterschiedliche Ansichten gibt es über die fortschreitende Digitalisierung. Die junge Komponistin Lucia Kilger sieht in neuen digitalen Plattformen und virtuellen Formaten die Möglichkeit, zusätzliche künstlerische Treffpunkte zu schaffen. Umgekehrt droht durch vermehrtes Streamen von Musikaufzeichnungen und Live-Konzerten im Internet – durch Corona forciert – die sowohl soziale als auch künstlerische Funktion von Festivals als Treffpunkte für Begegnung, Erfahrung, Diskurs, An- und Aufregung verloren zu gehen. An die Stelle des Anspruchs, die gegenwärtige musikalische Wirklichkeit zumindest ausschnittsweise abzubilden, treten dann Selbstdarstellung und Selbstverwirklichung. Totaler Pluralismus mündet in Egotismus. Man kommt dann nicht mehr zur gleichen Zeit am selben Ort zusammen, um gemeinsam Musik zu machen und zu erleben, sondern – so der düstere Ausblick von Nikolaus Brass – „jeder macht dann sein eigenes Festival“.

Die kompletten Antworten auf die Umfrage finden Sie auf den Seiten 15 und 16 dieser Ausgabe.

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