Musik ist ein Vertrauensgut, denn der eigentliche Wert des erworbenen Kulturguts lässt sich weder vor dem Kauf der Eintrittskarte noch nach dem Besuch eines Konzertes genau taxieren. Außerdem kann sich sein Wert auch im Nachhinein ändern, sowohl zum Positiven als auch zum Negativen. Auch das Buch ist ein Vertrauensgut. Man kann es im Gegensatz zur Zeitkunst Musik zwar nach dem Kauf gleich mit nach Hause nehmen. Doch seinen literarischen Wert kann man erst im Nachhinein richtig einschätzen.
Auf der Leipziger Buchmesse 2019 wurde „Vertrauen“ nochmals ganz anders buchstabiert. „Schenken Sie uns Ihr Vertrauen“, warb der Insolvenzverwalter der KNV Gruppe, Tobias Wahl, auf einer Informationsveranstaltung für Mitglieder des Börsenvereins des deutschen Buchhandels. „Bestellen Sie weiterhin Bücher über den Barsortimenter KNV“, beschwor Wahl die Buchhändler und an die Adresse der Verlage richtete er einen Appell: „Liefern Sie weiterhin! Nur so kann die Lieferkette aufrechterhalten werden.“
Die Nachricht vom Insolvenzantrag der KNV Gruppe am 14. Februar 2019 löste im deutschen Buchmarkt eine Erschütterung aus, deren Nachbeben einen Monat später in Leipzig noch deutlich zu spüren war. Koch, Neff und Volckmar, kurz KNV Gruppe, ist Deutschlands größter Zwischenbuchhändler. Er beliefert 5.600 Buchhändler, davon 4.200 in Deutschland, 800 in Österreich und der Schweiz. Der Traditionsbetrieb KNV hat 1.900 Mitarbeiter und hält ungefähr 600.000 lieferbare Titel von zirka 5.000 Verlagen vor. Zudem ist er der größte Auslieferer an Noten.
Tatsächlich funktioniert die Lieferkette seit dem 14. Februar 2019 gut, etwa 2.000 Verlage haben dem Barsortimenter weiterhin ihr Vertrauen geschenkt. Doch das Weihnachtsgeschäft ist noch nicht abgerechnet. Man geht von einem Auftragsvolumen von etwa 600 Millionen Euro aus. Bei einem Zahlungsziel von 90 Tagen wissen viele KNV-Verlagskunden nicht, was sie davon jemals wiedersehen. Der Börsenverein empfahl betroffenen Verlagen, rechtzeitig zu prüfen, ob sie vielleicht selbst ein Liquiditätsproblem haben und Insolvenz anmelden müssen.
Auf einer Veranstaltung der neuen musikzeitung auf der Leipziger Buchmesse unter dem Titel „Wie fragil ist der deutsche Buchhandel?“ mit Olaf Zimmermann (Deutscher Kulturrat) und Alexander Skipis (Börsenverein des deutschen Buchhandels) zeichnete Else Laudan, Ko-Geschäftsführerin des Argument-Verlags ein düsteres, aber wohl symptomatisches Bild der Branche: „Die Situation ist besonders für unabhängige kleine Verlage prekär. Der Buchhandel bringt uns mit dem Publikum zusammen. Wenn aber der Buchhandel zu kämpfen hat, etwa durch die Konkurrenz im Internet, kommen die Strukturen ins Wackeln. Viele kleine Verlage haben Liquiditätsprobleme.“ (siehe auch www.nmzmedia.de)
Nachdem erst im letzten Frühsommer der Zwischenhändler Heyn in Österreich Insolvenz anmelden musste, sieht Laudan diese weitere Insolvenz eines Zwischenhändlers als Alarmzeichen für einen Strukturwandel im Buchmarkt. Ihre Bitte an die Politik in Bund und Land lässt sich so zusammenfassen:„Unterstützt Verlage und Buchhandlungen als Inszenierer von Literatur. Nicht monetär, sondern als einen Ort wo Publikum und Verlage zusammenkommen.“
Die deutsche Buchbranche ist stolz darauf, die Bücherwagenlieferung über Nacht erfunden zu haben. Aber, ist das eine Dienstleistung, die der Kunde möchte? Oder möchte er sie nicht? Will man hier mit dem Versandhändler Amazon in Konkurrenz treten, der ja in Großstädten bereits am Bestelltag liefert. Die Rolle der Barsortimente, zu denen KNV gehört, in dem Weg der Bücher vom Verlag zu Buchhandel ist jedenfalls immer prioritärer geworden und ist von 40 Prozent auf 65 Prozent angewachsen. Dabei konzentriert sich der Handel auf die drei großen Barsortimente KNV, Libri und Umbreit.
Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats, spannte den Bogen noch weiter: „Der gesamte Kulturbereich ist in einem fundamentalen Umbruch: Digitalisierung betrifft uns maximal, die großen amerikanischen Majors betreffen uns maximal. Das hat Auswirkungen auf alle unsere Märkte: Film, Musik und Computerspiele. Natürlich ist auch der Buchmarkt betroffen. Egal wie man diese Insolvenz wertet, man sollte sie als eine Chance verstehen, zu sagen, lasst uns doch einmal gemeinsam darüber reden, wie sich die Bedingungen in den Märkten verändern.“ Zimmermann stellte auch die Frage, ob es wirklich sinnvoll ist, den Wettbewerb mit Amazon gewinnen zu wollen: „Ist das der richtige Kampf? Wäre es nicht besser, die örtlichen Buchhandlungen zu stärken, besser die Beratung zu stärken, besser den Kundenkontakt zu stärken, besser die Vielfalt zu erhalten? Es ist nie gut, zu viel Konzentration zu haben, es geht immer künstlerische Vielfalt verloren.“
Alexander Skipis, Geschäftsführer des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, legte Wert darauf, den sogenannten Einzelfall KNV von der Großwetterlage zu trennen: „KNV ist Logistikdienstleister. Dessen Insolvenz ist kein Indiz für den Buchmarkt insgesamt, sondern eine KNV-gemachte Problematik. Es handelt sich um eine unternehmerische Entscheidung von KNV – nämlich ihr Logistikzentrum von Stuttgart nach Erfurt zu verlegen –, die nicht aufgegangen ist.“
Es sei Fakt, so Skipis, dass zurzeit keinerlei Beeinträchtigungen in der Lieferkette vorhanden sind. Deshalb sei er auch zuversichtlich, dass der Stichtag 1. Mai gut überstanden wird: An diesem Tag beginnt das eigentliche Insolvenzverfahren und die Zahlungen des Arbeitsamtes hören auf. „Würde KNV seine Geschäftstätigkeit einstellen“, so Skipis, „dann hätten wir ein Problem in der Lieferkette. Tatsächlich ist dieses Unternehmen wegen seiner Größe nicht ersetzbar.“ Wenn KNV aber systemrelevant ist, dann stellt sich die Frage nach einem Investor umso dringlicher. Man sei mit mehreren potenziellen Käufern im Gespräch, so der Insolvenzverwalter auf der Leipziger Buchmesse. Wer das sein könnte, ob ein einzelner Interessent oder ein Konsortium, das ist derzeit noch offen. Interessant in diesem Zusammenhang die Aussage des Thüringischen Kulturministers Benjamin-Immanuel Hoff, der bei einem Interview am Messestand der neuen musikzeitung nicht dementieren wollte, ob auch der Online-Versandhändler Amazon unter den Bietern ist. Für das Land Thüringen, so Hoff, stünde zunächst die Sicherung der Arbeitsplätze im Vordergrund
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