Es gibt ein Thema, das einen großen Teil meines Kompositionsunterrichts einnimmt, gleichzeitig wünsche ich mir aber sehr, dass das nicht so sein müsste. Es ist das Thema der Enharmonik.
Schlicht und einfach also die Frage: Ist es ein fis? Ist es ein ges? Oder vielleicht sogar ein eisis? Diese Frage kann endlos diskutiert werden, denn es gibt bei diesem Thema in der freien Tonalität wesentlich mehr Fallstricke als in der Tonalität (wo man meistens bestimmte Vorzeichen nehmen muss). Schon zu meinen eigenen Studienzeiten – als es noch keine Computer gab und wir alle von Hand schrieben – war dieses Thema präsent, allerdings längst nicht so wie heute, da kaum noch jemand per Hand schreibt und die meisten Noten über eine Tastatur eingegeben werden.
Das Grundproblem hierbei ist Folgendes: wenn man zum Beispiel eine Taste auf einem Keyboard drückt (welches man zur Eingabe verwendet), wird das Notenprogramm die Entscheidung darüber treffen, ob es nun ein fis oder ein ges ist. Bei Sibelius zum Beispiel ist bei freitonaler Musik der Ton fis/ges immer ein fis, und der Ton dis/es immer ein es). Für den Computer ist es einerlei, welcher Ton es nun genau ist, den für ihn ist es ein fester Wert, der nur auf zwei verschiedene Weisen benannt werden kann, genauso wie 1+2 oder auch 2+1 jeweils 3 ergeben. Auch beim Abspielen einer Datei (etwas, das Kompositionsstudenten viel zu oft als Hilfsmittel verwenden, anstatt auf ihr inneres Gehör zu vertrauen) besteht für den Computer keinerlei Zweifel daran, um welchen Ton es sich handelt … denn er muss keinerlei Blattlese-Geschick dafür aufwenden, um genau diesen Ton abzuspielen!
Für einen Musiker dagegen sieht es vollkommen anders aus. Für einen Streicher zum Beispiel macht es einen riesigen Intonationsunterschied, ob fis (höher als f) oder ges (niedriger als g) gedacht wird. Benutzt ein Komponist zum Beispiel aus Schlampigkeit unterschiedliche Enharmonik und schreibt ein des über einem fis, kommt eher Georg Friedrich Haas raus als eine reine Quinte. Aber auch ansonsten gibt es zahlreiche Probleme – etwa wenn Intervalle gar nicht mehr erkennbar sind. So sieht der Schritt von es zu fis auf den ersten Blick aus wie eine Sekunde, es handelt sich aber in Wirklichkeit um eine (kleine) Terz. Zumindest meistens, denn käme danach ein g, wäre wiederum eher das fis sinnvoll, da man es dann als Vorhalt liest. Bei jeder Vorzeichenwahl sind also zahlreiche Dinge zu beachten: Man will es dem lesenden Musiker möglichst leicht machen und seltsame oder ungeschickte Vorzeichenkombinationen vermeiden, gleichzeitig will man aber auch den Akkord- oder Tonverhältnissen Rechnung tragen und muss daher manchmal andere Entscheidungen treffen, als man auf den ersten Blick meint. Im schlimmsten Fall ist die Vorzeichensetzung wie eine Art Sudoku-Rätsel, mit dem man durchaus mehrere Stunden Extra-Arbeit verbringt.
Es hilft aber alles nichts: da Kompositionsstudenten vor allem am Anfang noch nicht so viele Aufführungen haben und vieles für die „Schublade“ schreiben, geht ihnen das Gefühl für korrekte Vorzeichensetzung oft komplett ab. Sie hatten einfach noch nicht genügend mit meckernden Musikern zu tun! Auch sind sie vom Computer verwöhnt: der macht keine Blattspielfehler, interpretiert Töne immer richtig und macht ansonsten auch lauter Sachen, die normale Menschen nicht können.
Wir müssen uns langsam damit abfinden, vor allem in Zeiten aufkommender AI: Computer haben uns schon längst überholt, was Genauigkeit und Virtuosität angeht. Und wenn nur noch Computer die Musik spielen und niemand mehr Noten liest, ist die ganze Frage der Enharmonik tatsächlich überholt. Solange aber Menschen noch Noten lesen, sollten wir uns weiterhin damit beschäftigen, oder vielmehr: Ich beschäftige mich damit. Nämlich mit meinen Studenten!