Man staunte. Stillte seine Neugierde. Ergötzte sich bei Völkerschauen an der „primitiven Exotik“. Nach dem „Preis“ der ausgestellten Kulturgüter aus deutschen Kolonien und nach dem, was die vorgeführten Menschen erlitten hatten, fragte vor hundert Jahren niemand. Erst seit kurzer Zeit wird über Kolonialismus geforscht. Mèhèza Kalibani beschäftigt sich in Tübingen mit einer besonderen Facette kolonialen Raubguts: Er untersucht phonographische Aufnahmen deutscher Kolonialbeamter.
èhèza Kalibani studierte an der Universität von Lomé Germanistik. Als Stipendiat der Adenauer-Stiftung belegte er 2016 das Fach „Internationale Kulturhistorische Studien“ an der Uni Siegen. Seit 2019 ist er Doktorand im Institut für Geschichtsdidaktik und Public History an der Universität Tübingen. Auf das Thema seiner Dissertation stieß er durch Zufall. „Vor etwa fünf Jahren sollte ich einer Freundin helfen, die eine historische Aufnahme in einer Sprache Togos untersuchte“, erzählt Kalibani. Erstmals erfuhr der Kulturhistoriker, dass es solche Aufnahmen ehemaliger Kolonialbeamter im Berliner Phonogramm-Archiv gibt.
Und zwar nicht wenige. Insgesamt umfasst das Archiv rund 16.700 originale Phonogramme, die zwischen 1893 und 1954 entstanden sind. Archiviert werden sie in 300 Sammlungen. Bei etwa der Hälfte handelt es sich um Aufnahmen von Dialekten, Gesängen oder Musikstücken aus der Kolonialzeit zwischen 1900 und 1914. In seinem Dissertationsprojekt interessiert sich Kalibani für zehn Sammlungen, die von sieben Sammlern stammen. Sie beinhalten rund 450 Stücke. Fünf Stücke will der Promotionsstudent herausgreifen, um sie genauer zu untersuchen. Im Fokus steht dabei die Frage nach der kulturellen Authentizität.
Das Projekt bedeutet in vielfacher Hinsicht eine Herausforderung. Die Aufnahmen sind zum Beispiel auf Wachswalzen festgehalten. Kalibani: „Die Aufnahmequalität ist sehr schlecht.“ Kaum zu beantworten ist die Frage, wie die Aufnahmen genau entstanden sind. Waren die Akteure freiwillig bereit, für die Kolonialbeamten zu singen und zu trommeln? Oder taten sie das aufgrund von Drohungen? Gar durch Anwendung von Gewalt? „Solche Informationen sind kaum zu finden“, sagt der Doktorand. Zwar existieren Aufsätze, Tagebücher und Reiseberichte von Sammlern. Doch darin schreiben diese fast nichts über die Art und Weise, wie sie zu den Aufnahmen gekommen sind.
Auf eine Quelle jedoch stieß Kalibani. Sie stammt aus dem 1908 veröffentlichten Buch „Negerleben in Deutsch-Ostafrika“ von Karl Weule. Darin beschreibt der Geograf, wie er mit dem blinden Sänger Sulila umging, der sich nicht so verhielt, wie er das haben wollte. Weule wurde unmutig, weil der Schwarze seinen Kopf ständig drehte. Da habe er ihn einfach „am Kragen“ gepackt und seinen Kopf „wie in einem Schraubstock“ festgehalten, „bis der Barde sein Heldenlied zu Ende gebrüllt hat“. Der Mann habe gezuckt und gezerrt.
Allein die Aufnahmesituation hat etwas mit der Authentizität der Lieder und Musikstücke zu tun. Manche Lieder wurden (und werden zum Teil bis heute) nur in bestimmten Lebenssituationen gesungen. Durch einen Vortrag „auf Befehl“ geht jegliche Authentizität verloren. In vielerlei Hinsicht, fand Kalibani heraus, mangelte es an Echtheit. Der Kulturwissenschaftler untersuchte zum Beispiel ein Lied, das anlässlich der Initiation junger Frauen gesungen wird. Aus der historisch überlieferten Beschreibung der Aufnahme geht jedoch hervor, dass es angeblich in einem landwirtschaftlichen Kontext erklingt.
Mèhèza Kalibani stürzt mit seiner kritischen Untersuchung einst unhinterfragte Theorien um. Für seine Dissertation analysierte er zum Beispiel die Wachswalzen-Aufnahme eines Trommelstücks. Über einen Workshop an der Universität in Lomé Anfang dieses Jahres kam er in Kontakt mit Menschen, die Trommelsprache dechiffrieren können. Kalibani erfuhr, dass bei dem aufgenommenen Trommelstück im Original nicht gesprochen wird. Im Phonogramm allerdings spricht der Trommler. Was er spricht, wurde dann auch noch falsch übersetzt. So wurde aus dem Wort „töten“ das Wort „tanzen“.
Die wichtigste Voraussetzung dafür, dass fremdes Kulturgut authentisch vermittelt werden kann, ist Freiwilligkeit in der Kulturäußerung. Diese Freiwilligkeit kann bei den von Kalibani untersuchten Aufnahmen aus den deutschen Kolonien kaum angenommen werden. Die Machtverhältnisse zwischen demjenigen, der aufnahm, und denjenigen, die aufgenommen wurden, waren durchgehend asymmetrisch. Dies war in den Kolonien, aber auch in den deutschen Kriegsgefangenenlagern der Fall. Hier wurden afrikanische Soldaten aus französischen Kolonien zwischen 1915 und 1919 im Auftrag der Preußischen Phonographischen Kommission „phonographiert“.
Unauthentisch sind einige der Aufnahmen aus dem Berliner Phonogramm-Archiv nach Kalibanis Analysen allein wegen der kurzen Aufnahmezeit der Wachswalzen. Meist haben diese nur eine Spieldauer von etwa drei Minuten. Kalibani stieß im Archiv zum Beispiel auf sechs Trommelstücke. Er erkannte: „Die müssten eigentlich im Gesamten betrachtet werden.“ Aus rein technischen Gründen handelt es sich um getrennte Aufnahmen.
Die Recherchearbeit ist alleine deswegen schwierig, weil das Thema nach wie vor als heikel gilt. Das erlebte Kalibani zum Beispiel, als er sich um den Familiennachlass eines der von ihm untersuchten Kolonialbeamten bemühte. Einmal hieß es, dass alles verbrannt worden sei, was mit dem Kolonialismus zu tun hatte. Ein Enkel des Sprachwissenschaftlers Otto Dempwolff, der ebenfalls Aufnahmen machte, erklärte laut Kalibani, dass jene Unterlagen, die er noch von seinem Großvater habe, zu privat seien, als dass er sie dem Forscher geben könne.
Aus einem Bericht von Dempwolff geht allerdings hervor, mit welch unverblümter Zudringlichkeit die Aufnahmen (in diesem Fall in einem Gefangenenlager) angefertigt wurden. Im Februar 1919 schrieb Dempwolff: „[Ich habe einen Malaien] als brauchbar für phonografische Aufnahmen befunden. Mit diesem habe ich mich an 12 Tagen beschäftigt […] [und] eine Anzahl von Worten, Sätzen, Gesprächen, Erzählungen und Liedern linguistisch durchgearbeitet.“
Mit menschenverachtender Herablassung erzählt Dempwolff von seinem (pseudo)wissenschaftlichen Coup. Diese Arroganz findet man in Texten immer wieder. Kalibani verweist zum Beispiel auf einen 1910 in Österreich erschienenen Artikel mit dem Titel „Die ‚Wilden‘ in der Sprechmaschine“. Er bezieht sich auf die reiche „Ausbeute“ an Aufnahmen für das Phonogramm-Archiv der Akademie der Wissenschaft durch eine 1909 heimgekehrte Expedition. Wörtlich heißt es: „Man gewinnt ein lebendiges Bild der Geschichte und der Gebräuche mehrerer Rassenstämme, wenn man die übrigens mit kundiger Hand ausgewählten Musik- und Sprachproben […] ertönen lässt.“