„Wo geht die Reise hin?“ fragen sich im Moment viele meiner Studierenden, denn es ist spürbar, dass eine große Verunsicherung vorherrscht, was die Zukunftsplanung angeht. Meine Studis interessieren sich plötzlich für Sound-Mixing und Editing und schreiben elektronische Musiken für Showreels und Trailer. Sie haben nicht grundsätzlich ihren Traum vom freien Kompositionsberuf aufgegeben, gleichzeitig scheint aber ein wesentlich größerer Pragmatismus vorzuherrschen, was das Berufsleben angeht.
Früher wäre das unvorstellbar gewesen – ein Wolfgang Rihm, der nebenher gefällige angewandte Musik geschrieben und Werbefilme musikalisch untermalt hätte, wäre aus dem „Kanon“ ausgeschert und hätte sein akademisches Ansehen verloren. Zwar gibt es auch Kolleginnen und Kollegen aus seinem Jahrgang, die genau diesen Weg gegangen sind, doch diese ereilte genau dieses Schicksal: sie wurden in der sogenannten E-Musik nicht mehr „ernst“ genommen.
Für die jüngeren Studierenden sind diese alten Grenzen zunehmend unverständlich – sie sehen sich nicht mehr als kühne Botschafterinnen und Botschafter eines freien Kunstgedankens und verfolgen immer weniger die Idee einer „l’art pour l’art“ – stattdessen wollen sie ihre Musik vermitteln, verständlicher schreiben und im Kulturbetrieb überleben. Was mir als Lehrer dann immer wieder das Herz bricht ist, dass sie sich damit auch oft vollkommen unnötige Grenzen auferlegen. Wo vorher kreative Freiheit herrschte, wird nun gestutzt: Wildes wird plötzlich gezähmt, Ecken und Kanten werden geschliffen, man will auf keinen Fall zu herausfordernd oder schwierig sein. Genau der „anything goes“ – Freiraum, der im Studium so wunderbar ist, nämlich das eigene Ausprobieren, das Einfach-mal-machen, das wichtige Erleben des Scheiterns und des Suchens wird möglichst vermieden, stattdessen will man „funktionierende“ Musik, die im schlimmsten Fall in harmlos neoklassischem Gesülze mündet.
Es ist verständlich, dass man den „akademischen“ Karrieren in diesen unsicheren Zeiten nicht mehr hundertprozentig traut. Die Coronakrise hat lange gärende Veränderungsprozesse in der klassischen Musik beschleunigt und verstärkt. Man hat schon jetzt das Gefühl – mitten im langsamen und vielleicht auch nur bis zur nächsten Welle befristeten Wiedererwachen des Musikbetriebs – dass vieles, was vielleicht noch Jahrzehnte vor sich hingedümpelt wäre, nun nur noch eine Halbwertszeit von wenigen Jahren hat.
Und dennoch: die freie und ungezähmte Musik muss es weiterhin geben. Wird ihr Heim weiterhin in den Hochschulen sein? Oder werden sich diese zunehmend anpassen müssen (so wie es im Ausland schon lange der Fall ist) und sich immer mehr als „music department“ begreifen, in dem man Lady Gaga gleichberechtigt neben Mozart unterrichten muss? Oder wird es eine gegenteilige Entwicklung geben – werden die Musikhochschulen sich zunehmend als Hüter einer elitären abendländischen klassischen Musiktradition begreifen, die sich streng vom Mainstream abgrenzt? Wer jetzt letzteres nur schrecklich findet, sollte bedenken, dass wir es keineswegs seltsam finden, wenn es in anderen Regionen wie Indien oder Afrika Musikinstitute gibt, die ausschließlich die dortige Musikkultur unterrichten, warum sollte das bei uns nicht auch gehen? Gibt es einen Universalitätszwang in der Musik, oder haben nicht auch einzelne Genres und Stile ihren eigenen Charme?
Für mich als Komponisten ist aber die entscheidende Frage: wo ist der Platz für das wirklich Neue, für das Schräge, Verrückte, für die Musik, die Fragen stellt und keine bekannten Antworten gibt, die sich weder verkaufen noch anbiedern muss? Wo diese Musik in Zukunft überleben wird, da möchte ich unterrichten. Und dort sollten dann auch diejenigen studieren, die vor allem eine solche Musik schreiben und sich nicht anpassen wollen. Nicht jedes Studium muss „funktional“ oder zielgerichtet sein.
Wir brauchen die freien Geistes- und Kunstwissenschaften, weil in ihnen Dinge verhandelt werden können, die im kommerziellen Betrieb keinen Platz finden. Dazu müssen die Mutigen, die diesen Weg gehen wollen, immer wieder lernen, Brotberuf und Berufung nicht zu sehr zu vermischen und vor allem klar erkennen, was ihnen persönlich wichtiger ist: Freiheit oder Zwang.