Paul Hindemith: Klaviermusik mit Orchester; Antonin Dvorák: 9. Symphonie „From the New World“. Leon Fleisher (Pf), Christoph Eschenbach dir. Curtis Symphony Orchestra. Ondine CD 1141-2
Paul Wittgenstein (1887–1961), der ältere Bruder des Philosophen Ludwig Wittgenstein, hatte als Kind aus reichstem, musikbegeistertem Wiener Hause das Glück, mit Brahms, Mahler und Richard Strauss zu musizieren, studierte später bei Theodor Leschetitzky und war ein international vielversprechender Pianist, als er im Ersten Weltkrieg an der Ostfront seinen rechten Arm verlor. Er besaß den Willen und die eiserne Disziplin, sich als erster einhändiger Pianist der Geschichte weltweite Reputation zu verschaffen. Um entsprechendes Repertoire für die linke Hand zu beschaffen, beauftragte er die besten Komponisten seiner Zeit, Werke für ihn zu komponieren. So entstanden Maurice Ravels berühmtes Linke-Hand-Konzert, Prokoffiefs 4. Klavierkonzert, Richard Strauss’ „Parergon“ und „Panathenäenzug“, Hindemiths Klaviermusik mit Orchester, Brittens „Diversions“, mehrere Werke von Franz Schmidt, von Korngold und viele weitere.
1939 übersiedelte Wittgenstein von Wien nach New York und wurde 1946 amerikanischer Staatsbürger. Die Witwe Wittgenstein überlebte ihren Gatten um 42 Jahre und starb 2002. Als ihr Nachlass gesichtet wurde, gab es so manche Überraschung. So fand man eine Partitur der Klaviermusik mit Orchester op. 29 von Paul Hindemith, 1923 komponiert, ein typisches Werk des jungen, wilden Hindemith, von dem man weiß, dass Wittgenstein es ungenießbar fand, und von dem entsprechend die Legende ging, Hindemith habe die Partitur in seiner Enttäuschung während eines Salzburg-Aufenthalts in der Salzach entsorgt. Nun weiß man, dass Wittgenstein zunächst auch an Ravels Konzert keinen Gefallen fand und Prokoffiefs Konzert nie gespielt hat, doch die völlige Unterschlagung eines Hindemith’schen Werkes, das erst nach 80 Jahren auftaucht, ist schon ein Sonderfall.
Leon Fleisher, der prominenteste exklusiv linkshändige Pianist unserer Zeit, hat im Dezember 2004 in Berlin mit den Philharmonikern unter Rattle die reichlich verzögerte Uraufführung gespielt und legt nun hier, mit dem Curtis Symphony Orchestra aus Philadelphia unter seinem Pianisten-Kollegen Eschenbach, die erste Aufnahme eines Werkes vor, das beinahe ein Blindgänger in der Musikgeschichte geblieben wäre. Die Klaviermusik ist typischster Hindemith, ein knapp 20-minütiges Werk in 4 Sätzen, die attacca ineinander übergehen. Die ersten zwei Sätze (mäßig beziehungsweise sehr lebhaft) sind sehr knapp angelegt, es folgt ein rein kammermusikalischer langsamer Satz, „Trio“, das umfangreicher ist als die beiden vorangehenden Sätze zusammen, und das zweifellos der wertvollste Teil des Werkes ist, und ein abwechslungsreiches bewegtes Finale. Fleisher agiert wie zu erwarten sehr sachlich. Trocken, geistlos, ruppig, abgesehen vom Adagio ohne jede Mannigfaltigkeit und Anmut des Ausdrucks ist das Dirigat. Womit man vorerst wird leben müssen.