Am 9. November 1989 wuchs zusammen, was zusammengehört. Aber auch die kulturelle Wiedervereinigung war keine Einheit zu gleichen Teilen. Vielmehr ging die Deutsche Demokratische in der Bundesrepublik auf und die meisten ihrer Institutionen und Infrastrukturen unter. 2013 dominiert beim Blick auf die ostdeutschen Komponisten eine pejorative Lesart von der restriktiven sozialistischen Kulturpolitik – was faktisch einer Marginalisierung gleichkommt. Eine Eigenschau auf die Probleme der Kunst im marktwirtschaftlichen Wechselspiel von Angebot und Nachfrage wird dabei tunlichst vermieden. Dabei kann der Westen beim Blick in den Osten nicht nur eine besondere Wertschätzung von Werkschöpfung, sondern auch eine alterierende Ästhetik und ihre Vertreter (kennen)lernen.
Der Weg führt an Pankow vorbei ins Panketal im Berliner Nordosten. In der Zepernicker St.-Annen-Kirche sammeln sich die ehemaligen Granden der DDR-Avantgarde, um ihren „Kollegen, Freund und Weggefährten“ Lothar Voigtländer anlässlich seines 70. Geburtstages zu ehren. Über 20 Jahre sind seit der Wende vergangen, und „Klassentreffen“ dieser Art sind in der nun grenzenlosen Welt rar geworden. Dabei erzählen Ästhetik und die Lebensgeschichten der Komponisten eine andere deutsche Musikgeschichte und eröffnen damit auch alterierende Perspektiven auf die westliche Kulturwirtschaft.
Obwohl in der westlichen Aufarbeitung die totalitären Strukturen betont werden, komponierten die avantgardistischen Kräfte der DDR schon früh gegen die restriktiven Begrenzungen des Sozialistischen Realismus an. Als 1989 die Mauer eingerissen wurde, stürzte man sich in die freiheitlich-pluralistischen Wasser der westlichen Kulturszene. Manch einer geriet dabei in die tiefen Strudel des Marktes, an dessen Oberfläche die Produkte einer unterhaltungsorientierten Mehrheitsgesellschaft schwammen, und fand sich, wie es Lothar Voigtländer beschrieb, „als Exilant in einer marktwirtschaftlichen Mondlandschaft wieder“.
Über 20 Jahre später lautet der Tenor bei seinem Zepernicker Geburtstagskonzert: „Alles ist schlechter geworden.“ Man sollte nicht den Fehler begehen und diese Meinung als „Ostalgie“ oder gar den Wunsch zu einer Rückkehr in die Diktatur abstempeln. Karl Heinz Wahren, langjähriger Präsident des Deutschen Komponistenverbandes (DKV), hat zum runden Geburtstag seines Nachfolgers eigens eine Komposition beigesteuert. Er macht zwei wesentliche Folgen der Wende aus, die ihn „ins Grübeln“ bringen: So sei die flächendeckende Kulturförderung der DDR weggefallen, stattdessen habe sich eine „kulturelle Delle“ mit dem Fokus auf Unterhaltungsmusik etabliert, die dem „Behaglichkeitsanspruch des Hörers“ entgegenkomme. Natürlich sei eine Diktatur immer schädlich, aber „auch die Freiheit hat Schattenseiten“. Pointiert ausgedrückt: Was früher die Mauer war, ist heute der Markt. Auch Enjott Schneider, Kollege von Voigtländer im Aufsichtsrat der GEMA sowie dessen Nachfolger als DKV-Präsident, kritisiert den „Verdummungseffekt“ im Zuge der Kommerzialisierung von Ästhetik. Er hält die Ost-West-Diskussion für obsolet, denn sie baue falsche Fronten auf. Der Kontrabassist Matthias Bauer ist ein waschechter „Wossi“, „weder richtig West- noch Ostdeutscher“, und kennt daher beide Systeme. Auch er beobachtet den Ausverkauf der Hochkultur: „Die Berliner Haushaltsgelder sind die gleichen wie 1990, aber die Szene hat sich verzehnfacht.“ Als er hinzufügt „und das ist Mist“, fangen die Glocken der Zepernicker St.-Annen-Kirche zu läuten an. Es ist eine fast symbolische Geste, denn nicht selten gingen Theologen und Neutöner in Opposition zum System gemeinsame Wege.
„Auch die Komponisten waren“, so Georg Katzer als einer der führenden Köpfe der ehemaligen Ost-Avantgarde, „eine verschworene Gemeinschaft; das war notwendig, um gegen die Kulturpolitik gegenzuhalten.“ Umso mehr begrüßte man den internationalen Austausch seit der Wende, als Asiaten und Sowjetbürger wie heute Griechen und Polen den Berliner Schmelztiegel bereicherten. In der Hauptstadt wurde das internationale Flair zum Signum der Kunst, jedoch sehr oft zulasten der regionalen Kräfte, wie Helmut Zapf, der Gastgeber von Voigtländers Geburtstagskonzert, bedauert. Weil es der neue Markt nicht hergibt, bemühen sich die ostdeutschen Komponisten um Alternativen zur flächendeckenden und dezentralen Kulturarbeit, die zu Zeiten der Mauer bis an die Basis reichte. „Es kommt ja nicht von ungefähr“, so Zapf, „dass in Leipzig, Weimar und hier Festivals sind, die in Eigeninitiative von Komponisten betrieben werden.“ Das mag manch einem als Klüngel erscheinen, aber es ist wohl kaum Zufall, dass die ostdeutschen Länder im Komponistenverband den breitesten Nachwuchs generieren. Auch im global entfesselten Markt des Fußballs setzt man hierzulande auf die intensive Förderung und Ausbildung des eigenen Nachwuchses – und feiert damit erstaunliche Erfolge. Warum also nicht in der Musik?
Enjott Schneider hat als westdeutscher Filmkomponist einen Blick von außen und lobt den „Teamgeist“, den sich die ostdeutsche Komponistenszene partiell bewahrt habe. Sie sende wichtige Signale und aImpulse in den Westen, wo die „Hyper-Individualisierung“ extrem weit fortgeschritten sei. Vorsichtig formuliert er, „dass die kulturelle Situation ‚sooo‘ schlecht eigentlich nicht war im Osten“. Zwar habe es mit der Meinungsfreiheit nicht so gut ausgesehen, aber „da war auch ein schützender Kokon. Wie die Hochkultur behandelt wurde – das war schon ganz gut.“ Auch und vor allem die Kulturpolitik der ehemaligen DDR sollte kein Tabuthema sein. Hier wertschätzte man Kunst nicht nur als wesentliche geistige Triebfeder, sondern erkannte ihr auch einen materiellen Wert zu: Zeitgenössische Kompositionen gehörten wie selbstverständlich zu Abonnement-Konzerten, und bei Festivals wie etwa den Hallischen Musiktagen oder den sich mit der Musik-Biennale-Berlin abwechselnden DDR-Musiktagen gab es großzügige Töpfe für Auftragskompositionen. Die Ästhetik war schon seit Mitte der 1970er- Jahre nicht mehr an die Beschlüsse der Parteitage gebunden, so dass die Avantgarde „made in GDR“ eine Blüte erleben konnte.
Insbesondere die Geraer Ferienkurse wurden in den Worten von Helmut Zapf „eine Art verspätetes Darmstadt. Ein anderes Darmstadt.“ Natürlich informierte man sich über die Entwicklungen am „mythenumrankten Nucleus der westlichen Avantgarde, aber mit einer Art Filter, der durch die geographische Grenze der DDR verstärkt wurde.“ Weil es keine Aufnahmen vom westlichen Serialismus gab, so ergänzt Georg Katzer, war man befreit von den Dogmen der Darmstädter Schule. Berührungspunkte ergaben sich eher zur polnischen Schule: „Lutosławski und der frühe Penderecki standen mir immer näher als Boulez oder Stockhausen.“ Wenn auch im Wesentlichen am Werkbegriff festgehalten wurde, so fand die ostdeutsche Avantgarde doch andere Ausdrucksmittel und gewann in der gemeinsamen Opposition gegen das System zudem gesellschaftliche Relevanz.
„Avantgarde existiert immer dann“, so John Cage, „wenn man sich Herrschaft und Erziehung nicht unterwirft.“ Das System der DDR bot, wie es Georg Katzer formuliert, den kritischen Künstlern eine „Reibungsfläche“. Das sei mit der Wiedervereinigung natürlich verschwunden, weil es dieses Gegenüber als potentiellen Feind nicht mehr gibt. „Obwohl ich nicht sagen will, dass ich zum politischen Widerstand gehört habe, hat man sich schon als Opposition gefühlt und konnte das auch manchmal zeigen.“ Anspielungsreiche Stücktitel und Chiffren hatten Hochkonjunktur, und das Publikum verstand es, zwischen den Notenzeilen zu lesen. Auch Zapf definiert sich nicht als politischer Komponist, vielmehr habe er bei konkret tagesaktuellem Komponieren „das Gefühl, die Kunst leidet darunter, und das ist gefährlich“. Aber natürlich habe man gegen die Mauer angeschrieben, „denn beim Komponieren ist man ja frei“. Komponisten kam in der DDR eine paradoxe, sowohl staatstragende wie subversive Rolle zu. „Wir waren“, so Katzer, „hochgeachtet, aber auch beobachtet, weil wir als Freischaffende durch das Raster der sozialen Kontrolle fielen.“
Mit dem Mauerfall hat sich diese subversive Funktion und damit die gesellschaftliche Relevanz der Komponisten im internationalen Pluralismus der westlichen Kulturwirtschaft weitestgehend aufgelöst. Ostdeutsch geprägte Komponisten sind nicht politischer, aber noch immer haben sie einen Sinn für gesellschaftliche Themen. „Man ist in der DDR ja nicht ganz zum Nachteil mit ökonomischen und politischen Fragestellungen aufgewachsen“, präzisiert der Bassist Matthias Bauer. „Mir ist im Westen eine Kulturhaltung aufgefallen, die sich im Formalen auflöst und deshalb weit von jeglicher gesellschaftlichen Relevanz entfernt ist.“ Überspitzt könnte man also formulieren: Während im Osten die Künstler dazu angehalten wurden, ihre Zeit und ihr Land zu repräsentieren, so nutzten die Künstler im Westen ihre Freiheit vor allem dazu, dies gerade nicht zu tun.
Vielleicht wäre eine Einheit zu gleichen Teilen ein Ansatz, um nicht nur in der musikalischen Wiedervereinigung einen Schritt voranzukommen. Der unterhaltungsorientierten westlichen Mehrheitsgesellschaft könnte ein neutraler Blick auf die Wertschätzung von Kunst in der DDR gut tun. Auch mag die gesellschaftsbewusste Haltung der Ost-Künstler vielleicht Wege aus der Krise der klingenden Hochkultur weisen. Frei von sozialistischen oder serialistischen Normen könnte der Markt eine neue Mauer sein, gegen die es sich „anzukomponieren“ lohnt. Es gehe nicht darum, so Lothar Voigtländer in der Dankesrede für sein Zepernicker Geburtstagskonzert, die Neue Musik als Massenphänomen zu etablieren. Vielmehr sei der Anspruch bereits von Günter Eich formuliert: „Seid Sand, nicht Öl im Getriebe der Welt.“